Zeitenwende – ein Wechsel der Perspektive
VERÖFFENTLICHT 11. DEZEMBER 2022
Als Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede am 27.Februar 2022 von einer „Zeitenwende“ sprach, haben viele das als ein Eingeständnis einer bisher völlig verfehlten Russlandpolitik verstanden. Angela Merkel wird selbst von ihrer eigenen Partei kaum noch verteidigt. In den Medien erinnert sich niemand mehr daran, dass dort viele „Russlandversteher“ begeistert über North Stream und mit großer Sympathie von den Mühen der Vermittlung zwischen Ukraine und Russland in Minsk berichteten. Die Zeiten haben sich gewendet – und mit ihnen viele Hälse
Doch das ist nicht der Kern der Zeitenwende. Vielmehr geht es um einen Perspektivenwechsel. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hat von Adenauer bis Scholz immer beansprucht, sich an den Realitäten zu orientieren – nur der Blick auf die Realitäten hat sich immer wieder verändert.
Die Perspektive war über hundert Jahre lang auf eine Welt der Imperien gerichtet. Nationalstaaten waren zwar souverän, aber sie waren entweder selbst Imperien oder gehörten in die Einflusszone eines Imperiums.
Vor 1914 haben große Imperien die Weltpolitik beherrscht. Auf dem Kontinent zählten Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn – und auch noch das im Niedergang befindliche Osmanische Reich dazu. Das britische Weltreich beherrschte das Meer und ein riesiges Kolonialreich, Frankreich rechnete Algerien zu seinem Mutterland, in Afrika, Indochina und Südamerika besaß es Kolonien, Spanien und Portugal hatten noch einen Rest ihrer einst großen überseeischen Territorien, selbst Belgien hatte mit dem Kongo, die Niederlande mit Niederländisch Ostindien Kolonialbesitz. Und seit 1884 gab es auch deutsche Kolonien vor allem in Afrika und in der Südsee.
Nach 1914 zerbrachen die kontinentalen Reiche, nach 1960 auch die überseeischen Kolonialreiche. Doch das Denken in imperialen Kategorien ging weiter. Nur die USA und die Sowjetunion blieben als Imperien bestehen.
Als die USA ihre „Frontier“ im Westen bis an den Pazifik ausgedehnt hatten, waren auch sie nach Auffassung von Präsidenten wie Theodore Roosevelt aus wirtschaftlichen Gründen zum Imperialismus verdammt: nur zog man eine indirekte Beherrschung durch eine Politik der „Open Doors“ vor. Damit sollten vor allem Lateinamerika und Asien für den Handel der USA erschlossen werden. Deutschland und Japan galten von Anfang an als Rivalen für diese Zonen.
Die Sowjetunion beendete schon nach wenigen Jahren die Unabhängigkeit der kaukasischen Republiken Armenien, Georgien und Aserbaidschan. Der russische Anspruch auf die an Polen gekommenen Gebiete östlich der Curzon-Linie konnte im russisch-polnischen Krieg, der 1921 endete, nicht durchgesetzt werden. Aber mit dem Molotov-Ribbentrop-Abkommen wurde Polen einmal mehr geteilt und das Baltikum wieder Teil des Russischen Reiches unter dem Namen Sowjetunion.
Die Verhandlungen zwischen den angelsächsischen Westmächten und der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges – vor allem beim Treffen in Jalta – zeigten, dass die Welt in Einflusssphären dieser Imperien aufgeteilt werden sollte. Stalin bekam alles, wo sowjetische Truppen standen. Auch die deutsche Teilung erfolgte entlang der Besatzungszonen. Die osteuropäischen Nationen wurden nicht gefragt, die Völker der Sowjetunion schon gar nicht. Die Zugehörigkeit Westeuropas zum atlantischen Westen konnte sich immerhin auf freie Wahlen und auf eine massive Abstimmung mit den Füßen berufen, denn Flüchtlinge flohen fast alle nach Westen – nicht nach Osten.
Der kalte Krieg zwischen 1948 und 1989 fand zwischen den Hegemonialräumen der beiden sogenannten „Supermächte“ USA und Sowjetunion statt. In Europa respektierten beide gegenseitig die Hegemonie des anderen in seiner Sphäre. Die DDR 1953, Polen und Ungarn 1956 und die Tschechoslowakei 1968 konnten nicht auf westliche Hilfe rechnen. Die militärische Abschreckung gegen die Sowjets galt nur für die NATO-Mitglieder.
Was nach 1989 geschah, sieht aus der Perspektive der bis dahin geltenden imperialen Logik völlig anders aus als aus dem heute vorherrschenden Verständnis heraus, dass die einzelnen Völker in ihren souveränen Staaten ein Recht darauf haben, ihren politischen Weg selbst zu bestimmen.
Die Zeitenwende hat zwischen 1989 und heute stattgefunden. Eine multipolare Welt ist längst entstanden. Olaf Scholz hat nur die Konsequenz daraus für die deutsche Politik gezogen. Putin hingegen ist nicht bereit zu diesem Wechsel der Perspektive. Er geht weiterhin von der bipolaren Welt der „Supermächte“ aus – eine davon sind die USA, die andere soll Russland wieder werden.
Putins Welt ist eine Welt, in der die Staaten Europas Verfügungsmasse sind, die zwischen den USA und Russland wieder neu aufgeteilt werden muss. Der Papiertiger EU ist dabei kein ernstzunehmender Faktor, von China muss man sich freie Hand geben lassen, aber sonst ist das eine Sache zwischen Putin und dem US-Präsidenten.
Die Russen sprechen immer von der „Ausdehnung“ des NATO-Gebietes, als ob es sich um eine territoriale Expansion der USA handle. Die Tatsache, dass sich die neuen NATO-Mitglieder aus eigener Initiative, manchmal geradezu verzweifelt, um diese Mitgliedschaft bemüht haben, dass die NATO die Aufnahme nur unter strengen Bedingungen überhaupt zuließ, wird verdrängt.
Präsident Trump und einige seiner Anhänger denken in ähnlichen imperialen Kategorien wie Putin. Für sie ist ein Geschäft mit Putin allein von der Frage abhängig, ob es einen günstigen „Deal“ gibt.
Ein vom kalten Krieg geprägter Politiker wie Henry Kissinger zeigte noch vor kurzem Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse des russischen imperialen Raums. Das sind die Ansprüche auf eine Sicherheitszone wie sie Stalin wollte, wie sie dem imperialen Denken entsprechen.
Solche Ansprüche sind aber mit der Souveränität und dem Selbstbestimmungsrecht der osteuropäischen Staaten einschließlich der neuen unabhängigen Länder wie der Ukraine völlig unvereinbar. Denkt man in Kategorien eines „cordon sanitaire“ zwischen Hegemonialräumen, dann ist es aus dieser Perspektive vernünftig, mit Putin über eine neutralisierte Ukraine, über ein nur begrenzt verteidigungsfähiges Polen und eine Reduzierung der Präsenz der NATO im Baltikum zu verhandeln. Genau solche Verhandlungen hatten stattgefunden, um den NATO-Beitritt dieser Länder für Russland akzeptabel zu machen.
Die russische Aggression gegen die Ukraine hat diesen Schleier zerrissen. Die Perspektive hat sich drastisch verändert. Vorher waren alle davon ausgegangen, dass auf die Befindlichkeiten des Imperiums schon aus Gründen eines machtpolitischen Realismus eingegangen werden musste. Nach der Zeitenwende nehmen wir die Perspektive derjenigen ein, die das Imperium ablehnen.
Beide Perspektiven sind miteinander unvereinbar. Welche sich am Ende durchsetzen kann, wird im Krieg entschieden. Es geht also nicht nur um die Existenz der Ukraine, sondern auch um die souveräne Unabhängigkeit der Länder Osteuropas. Insofern richtet sich der russische Krieg zumindest auch gegen die NATO-Mitglieder Polen, Estland, Lettland und Litauen. Das zeigt auch die Forderung Putins, die NATO-Beitritte dieser Staaten rückgängig zu machen.
Es ist müßig über frühere „Fehler“ in der Russlandpolitik zu rechten. Aus der Perspektive der von Imperien bestimmten Politik war es völlig richtig, sich mit den imperialen Realitäten zu arrangieren. Eine Verständigung mit den USA und Russland gehörte zu einer Politik als Kunst des Möglichen.
Die Zeitenwende ist ein Wechsel der Perspektive. Russland hat den Weg des Imperialismus gewählt, Europa wird das nicht hinnehmen. Ob die daraus folgende neue Politik sich im Rahmen des Möglichen bewegt, muss sich noch zeigen. Dazu wird ein zuverlässiges Bündnis mit den USA benötigt. Ob das mit den Republikanern fortgesetzt werden kann, ist seit der Erfahrung mit der Präsidentschaft von Donald Trump jedenfalls nicht sicher. Und dazu muss der Zusammenhalt innerhalb Europas enger werden als bisher. Das wird eine große Herausforderung für Deutschland.
Ein kriselndes deutsch-französisches Verhältnis, ein im eigenen Saft kriselndes Brexit-England, griechische und italienische Ressentiments gegen Deutschland (denen sich Marine Le Pen ebenso anschließen würde wie Melenchon), polnische Reparationsforderungen und ungarischer Illiberalismus– alles das sind beste Voraussetzungen dafür, dass sich Deutschland resigniert zurückzieht und abwartet. Wenn die imperiale Perspektive am Ende obsiegen sollte – wenn also die USA und Russland irgendwann doch über – aber nicht mit – Europa verhandeln sollten, dann wird nur Deutschland genügend Gewicht haben, eigene Interessen in den amerikanisch-russischen Dialog einzubringen.
Ich würde eine solche Entwicklung für katastrophal halten. Die Zeitenwendung hin zu einem souveränen Europa ist der bessere Weg – aber er wird nur funktionieren, wenn unsere europäischen Partner uns nicht allein lassen. Im Krieg in der Ukraine geht es auch um diesen Perspektivwechsel.
KOMMENTAR
Stephen Wright
Your analysis of the Ukraine war as a symtom of the tension between imperialism and national sovereignty is most interesting. As you say, it underlines the importance for all of us of ensuring that Ukraine succeeds in defending its independence and identity. For us in Britain your analysis also ties in with the fierce debate that has emerged here over the legacies of the British Empire. However, it also poses the question of how China fits into your perspective, as it has no historical tradition of imperialism.
Best wishes for Christmas and New Year from us both.