Rüdiger von Fritsch
Russlands Weg
VERÖFFENTLICHT 28. MAI 2022
Das Buch von Rüdiger von Fritsch erschien 2020 im Aufbau-Verlag, 2022 in der zweiten Auflage
Rüdiger von Fritsch kam 2014 als deutscher Botschafter nach Moskau und blieb bis 2019. Er erlebte die erste Zeitenwende der russischen Politik – oder sollte man schon sagen: der Politik des Autokraten Putin. 2014 wurde die zur Ukraine gehörige Krim von der Russischen Föderation annektiert – die erste gewaltsame Grenzveränderung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Donbass in der Ostukraine unterstützte Moskau sogenannte „Separatisten“. Russland war fähig und willens, alles zu tun, um die Ukraine zu destabilisieren.
Russland unter Putin – und auch unter seinem mit liberalerer Fassade auftretenden Platzhalter Medwedew – hatte sich immer stärker zu einem Staat entwickelt, in dem, wie es Catherine Belton zutreffend beschreibt, zunehmend aus dem KGB kommende, mit kriminellen Strukturen verbundene Machtstrukturen den Ton angaben, in dem Putin immer mehr zum alleinigen Autokraten der kleptokratischen Eliten wurde.
Rüdiger von Fritsch beschreibt, wie der lange Schatten der Geschichte über Russland und auch über den deutsch-russischen Beziehungen schwebt. Auf Grund seiner langjährigen Erfahrungen als Diplomat und Botschafter in Warschau bringt der Autor ein ausgeprägtes Verständnis gerade auch für die polnischen Befindlichkeiten gegenüber Russland mit. Das ist in Deutschland eher ungewöhnlich: Russland-Versteher verstehen in der Regel Polen nicht und umgekehrt! Rüdiger von Fritsch ist dabei eine Ausnahme und das macht auch seine Analysen besonders wertvoll.
Die russische Gesellschaft hat den Aufbruch nach 1992 nicht genutzt, um eine neue Zukunft aufzubauen, sondern sie hat sich nach rückwärts orientiert, so als ob man 1917 noch einmal neu anfangen würde. Das Zarenreich wurde verklärt, die imperiale Geschichte verherrlicht – als einziger Bolschewik wurde Stalin als roter Zar verehrt. Das ist keine historische Notwendigkeit wie manche meinen, sondern eine Weggabelung, die Russland und auch Putin selbst bewusst in einer Phase der Orientierungslosigkeit gewählt haben.
Nachdem die alten KGB-Kader unter neuem Namen FSB wieder an Macht gewannen, kehrten sie auch zu ihren traditionellen Methoden von Einschüchterung und Mord zurück: die Morde an Journalisten wie Ana Politkowskaja, an Politikern wie Boris Nemzow, Morde im Ausland an Litvinenko und der Mordversuch an Skripal in England, der Tiergartenmord an einem Tschetschenen in Berlin – alles das trug die Handschrift des KGB redivivus (des wiederbelebten KGB).
Die Metropole Moskau blühte in den letzten Jahren auf. Doch der Gegensatz Stadt-Land und arm-reich wurde größer. Die ultrakonservative orthodoxe Kirche (die zu Sowjetzeiten in allen höheren Positionen von KGB-Agenten durchsetzt war – und vielleicht noch ist) und die parasitären Oligarchen, die Russlands Ressourcen ausbeuten und alle Investitionen auf diesen Sektor lenken (was gemeinhin als Fluch der Ressourcen angesehen wird) sind zu Stützen des Regimes geworden – soweit Putin sie nicht nur als Leiter zum Aufstieg benutzt hat, die er dann wegwerfen konnte. Nach 1992 war eine Zivilgesellschaft entstanden, doch Putin schränkte ihre Freiräume immer weiter ein. Mit dem Ukrainekrieg kam auch das Ende der letzten Freiheiten.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Rüdiger von Fritsch in seinem Buch den Beziehungen Russlands zur Ukraine. Das Buch erschien noch vor dem Angriff russischer Streitkräfte auf die Ukraine, doch es zeigt schon die Entwicklungen auf, die zu dieser Zuspitzung geführt haben. Der Autor der Einführung zu seinem Buch, der Schriftsteller Viktor Jerofejew, ist übrigens inzwischen aus Russland geflohen.
Die ukrainische Demokratiebewegung, verbunden mit Demonstrationen auf dem Kiewer Maidan, haben Putin verunsichert. Er sieht die Gefahr, dass er in Russland durch eine „farbige Revolution“ gestürzt werden könnte und will das mit allen Kräften verhindern. Der Präsident und sein Außenminister Lawrow haben seit einigen Jahren – spätestens seit der berühmten Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, bei der ich dabei war, eine Politik der Täuschung und der Lügen verfolgt. Nicht Donald Trump, sondern Putin und Lawrow sind die ersten zeitgenössischen Meister der „Fake News“ – kein Wunder, dass Trump in Putin einen verwandten „Geist“ (dieses Wort kann ich in diesem Zusammenhang nicht ohne Anführungsstriche verwenden) fand.
Außenpolitisch kam der Wandel allmählich. Das britisch-französischen Eingreifen in Libyen im Jahre 2011, das dann auch von den USA unterstützt wurde, ließ Russland im VN-Sicherheitsrat passieren, indem es sich enthielt. Doch Putin fühlte sich (zu recht) über den Tisch gezogen, als aus der „Flugverbotszone“ eine Fahrverbotszone und schließlich eine Intervention mit „regime change“ zum Sturz Ghadafis wurde. Mit seinem Eingreifen in Syrien hat Russland wieder den Fuß in den Nahen Osten gesetzt – die grausame Art der russischen Kriegführung erschütterte die Welt.
Wichtig ist die Neujustierung der Beziehungen Russlands zu China. Die Grenzkonflikte, die das Verhältnis lange belastet hatten, waren nach und nach beigelegt worden. Russland suchte eine Diversifizierung seiner Exportmärkte vor allem für Rohstoffe und traf sich damit mit chinesischen Interessen. Xi Jinping stützt sich verstärkt auf chinesischen Nationalismus. Die Entfremdung zwischen den USA und China und das Reden von der Unvermeidlichkeit einer Rivalität, die in einen Krieg münden könnte, ließ China die russische Karte spielen. Russland ist dabei anders als in den fünfziger Jahren nur mehr Juniorpartner Chinas.
Am Schluss seines Buches macht Rüdiger von Fritsch „Vorschläge für eine neue Russlandpolitik“.
Er warnt vor naiven Plädoyers für eine „neue Ostpolitik“ nach Vorbild der siebziger Jahre, vor allem, wenn damit Russlandpolitik auf Kosten der Osteuropäer gemeint ist. Auch die Anknüpfung an die „guten alten Zeiten“ des deutsch-russischen Verhältnisses zur Zeit Bismarcks ist unmöglich, denn damals war Osteuropa zwischen den drei Kaiserreichen Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn (und sogar noch Restbeständen des Osmanischen Reiches) aufgeteilt.
Er empfiehlt eine prinzipengeleitete Politik ohne Besserwisserei, ohne missionarische Töne, ohne die Welt aufzufordern, am deutschen Wesen zu genesen. Auch bei Vorschlägen für ein neues „Helsinki“ – oder einer „neuen Friedensordnung“ solle man genauer hinschauen, denn die KSZE-Schlussakte spiegelte seinerzeit noch die bipolare Welt des Kalten Krieges und akzeptierte die sowjetische Hegemonie auf Kosten der Osteuropäer. Noch vor kurzem empfahl Henry Kissinger der Ukraine territorialer Zugeständnisse an Russland um des Friedens willen – vielleicht kann man das nicht ausschließen, aber das ist Sache der Ukrainer. Die Empfehlung Kissingers ist nicht hilfreich. Sie kommt aus der bipolaren Welt, die heute Vergangenheit ist.
Rüdiger von Fritsch hofft, dass russische Bestrebungen einer eurasischen Wirtschaftsunion zu einer ähnlichen Entwicklung wie die EU im Westen führen – und das beide Wirtschaftsunionen dann enger zusammenarbeiten könnten. Allerdings musste schon die GUS und jeder Versuch einer eurasischen Union daran scheitern, dass Russland die anderen Partner nicht als gleichberechtigte Partner akzeptiert, die Russland ggf. sogar majorisieren könnten. Auch an Souveränitätsverzicht denkt Russland dabei keineswegs.
Russland hält die EU für eine dekadente Institution auf absteigendem Ast, die keine Mühe verdient. Die entspannten Beziehungen zu China machen auch eine Rückversicherung in Europa überflüssig. In beiden Fällen könnte sich Putin aber mittelfristig verkalkulieren. Wenn Russland sich als Junior Chinas einmal unter Druck fühlt und andere Freunde sucht, wird es sehr einsam sein. Aber wie von Fritsch schreibt: „Eine Normalisierung ist überdies schwierig, weil Russland die Normen an sich infrage stellt.“
Wir brauchen einen langen Atem. Inzwischen müssen wir die EU nicht weiter schwächen, sondern stärken – was seit den großen Erweiterungsrunden nicht einfacher geworden ist. Der Krieg hat den Beziehungen die Grundlage entzogen – aber wenn es ein Nachher gibt, dann gilt weiter der letzte Absatz von Rüdiger von Fritsch, den ich hier wörtlich und ohne Kommentar zitiere:
„Differenzen klar benennen und nicht unter den Teppich kehren, Gefährdungen vorausschauend ausräumen, nach Gemeinsamkeiten suchen und konkrete Projekte der Zusammenarbeit gestalten, ohne sich ständig krampfhaft neue Angebote auszudenken, alles Bewährte noch einmal bestätigen, ohne sich auf die schiefe Ebene falscher ‚neuer Verabredungen‘ ziehen zu lassen, die besonderen Chancen und die Verantwortung des bilateralen Verhältnisses ernst nehmen und nie die Anliegen unserer europäischen Partner aus dem Blick verlieren, geduldig daran arbeiten, das Verhältnis mit Leben zu erfüllen, ohne sich falschen Hoffnungen hinzugeben, man könne es über kurz oder lang in neue Höhen heben, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgeben – dies ist der gemeinsame Weg voran mit Russland.“