Waffen für die Ukraine,
NATO und EU-Beitritt?

VERÖFFENTLICHT 24. APRIL 2022

die Ukraine ist als souveräner Staat berechtigt, jede nur mögliche und für notwendig befundene Waffe – soweit diese nicht international geächtet ist – zu kaufen und zu ihrer Verteidigung gegen den Aggressor einzusetzen. Die ukrainische Regierung kann auswählen, wo sie Waffen kaufen möchte. Wenn Waffen in Deutschland gekauft werden, dann muss die Bundesregierung nach unseren eigenen und europäischen Regeln prüfen, ob diese exportiert, also an den Käufer ausgeliefert werden dürfen.

Mit der „Zeitenwende“ sind die Regeln sehr schnell und drastisch verändert worden. Wenn der Export unserem eigenen Interesse und im Interesse des NATO-Bündnisses liegt, können Waffen aus Deutschland – anders als noch vor wenigen Wochen – auch in die Ukraine als kriegführendes Land exportiert werden.

Die russische Aggression in der Ukraine bedroht auch uns und unsere Partner. Die russischen Verlautbarungen dazu sind klar genug, um daran nicht zu zweifeln. Es liegt zwar gegenüber der Ukraine KEIN Bündnisfall für die NATO vor, aber der Überfall auf ein neutrales Land verletzt nicht nur das Völkerrecht sondern auch unsere Sicherheitsinteressen. Wir haben ein klares Interesse daran, dass die Ukraine sich behaupten kann.

In den Medien wird über Waffenkäufe oft so berichtet, dass der Unterschied zwischen Käufen und genehmigten Exporten und Schenkungen aus eigenen Beständen verwischt wird. Eine Lieferung aus eigenen Beständen wird immer nur insoweit möglich sein, als die die Bündnisverteidigung und die deutsche Verteidigung dadurch nicht geschwächt werden. Das gilt auch für wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland zur Unterstützung der Ukraine.

Politik ist die Kunst des Möglichen – das können auch starke Wünsche nicht ändern. Es ist Sache der Bundesregierung zu prüfen, was unter diesen Bedingungen möglich ist. Das Drängen des ukrainischen Präsidenten und seines Botschafters ist legitim und verständlich, aber die Abwägung aller Umstände muss der deutsche Bundeskanzler und sein Kabinett vornehmen. Dabei gehe ich davon aus, dass die tatsächlichen Möglichkeiten auch ausgeschöpft werden.

Es gibt einen unaufhebbaren Interessengegensatz: der Angegriffene hat immer ein legitimes Interesse daran, dass der Krieg auf verbündete Länder ausgeweitet wird, um zu verhindern, dass der Gegner sich ganz auf die Ukraine konzentrieren kann. Die NATO hat ein Interesse daran, den Krieg lokal zu begrenzen, solange das Territorium eines NATO-Staates nicht angegriffen wird. Wenn das aber eintritt, muss mit einem GLOBALEN Konflikt gerechnet werden, einem Weltkrieg, weil Artikel 5 des NATO-Vertrages dann auf jeden Fall zur Anwendung kommt.

Die Ukraine wünscht seit langem den Beitritt zur NATO und zur EU. Ähnlich wie Putin glaubten auch ukrainische Politiker überwiegend, dass sie das mit den USA ausmachen können, die Europäer nahmen sie nicht besonders ernst. Nun sind weder die EU noch die NATO darauf aus, um jeden Preis ihr „Territorium“ zu erweitern. Im Gegenteil, sie stellen Bedingungen für einen Beitritt. Das hat sich auch durch den Krieg nicht geändert. Ich glaube, dass die russische Aggression einen NATO-Beitritt wahrscheinlicher gemacht hat, während über die wirtschaftlichen Folgen eines EU-Beitritts in der Ukraine offensichtlich noch niemand nachgedacht hat.

Ich war seit Jahren für eine Beitritts-“Perspektive“ zur EU, aber lange Übergangsfristen werden notwendig sein, damit die Ukraine in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz bestehen kann.

Die ganze Geschichte der Menschheit ist – solange wir etwas darüber wissen – auch eine Geschichte des Gebrauchs von Waffen gegen andere Menschen. Die großen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts haben Millionen von Opfern gefordert. Die Forderung Kriege zu ächten und alles zu tun, um Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen, führte zu neuen Institutionen wie dem Völkerbund und später den Vereinten Nationen. Die deutschen Ostverträge waren Verträge über den Verzicht auf Gewalt. Aber es hat immer wieder Politiker und Staaten gegeben, die Gewalt ausübten.

Das Völkerrecht schränkte das „Recht zum Krieg“, das urprünglich jedem souveränen Staat zustand, auf die Selbstverteidigung nach Artikel 51 der VN-Charta ein. Das „Recht im Kriege“ wurde weiterentwickelt: der Schutz der Zivilbevölkerung wurde betont, als neuere Doktrin wurde die „Responsibility to Protect“, also die Verpflichtung der „Weltgemeinschaft“, Opfer von Völkermord zu schützen, debattiert. Umstritten blieb das Recht auf „Befreiungskriege“, sei es von kolonialer Herrschaft oder von illegitimen Regimen.

Immer wieder wurden bestimmte Waffen geächtet und verboten. Doch rechtliche Regeln werden in Kriegen häufig missachtet. Im Informationskrieg, der jeden Krieg begleitet, wird der Einsatz verbotener Waffen regelmäßig vorgeworfen. Wo er stattfindet, wird er verschleiert und bestritten.

„Frieden schaffen ohne Waffen“ ist ein Slogan der sogenannten „Friedensbewegung“, die jegliche Form der Sicherung des Friedens durch bewaffnete Kräfte ablehnt. Dem entspräche konsequenterweise auch die Ablehnung der polizeilichen Gewalt innerhalb der Staaten, also ein Anarchismus. Wer nicht völlig blind gegenüber der Geschichte ist, weiß, dass dann die Macht des Stärkeren gilt und private Gewalt die öffentliche ersetzt.

Die Herstellung von Waffen gilt als anrüchig, ihr Verkauf als „Geschäft mit dem Tod“. Das Image eines Waffenhändlers in einschlägigen Filmen ist fast immer das eines Verbrechers. Alle Länder, die Waffen produzieren, kontrollieren, an wen diese Waffen verkauft werden dürfen. In der europäischen Union gibt es seit Jahren immer wieder Versuche, die Waffenexporte einheitlichen Regeln zu unterwerfen – in der Praxis bleiben aber erhebliche Unterschiede z.B. zwischen der deutschen und der französischen Exportpolitik.

Während des kalten Krieges bis 1989 war eine große Mehrheit davon überzeugt, dass Deutschland Waffen benötigt, um den Gegner östlich der Linie, die Deutschland teilte, abwehren zu können. Der Streit über die „Nachrüstung“ ging darum, dass viele nicht überzeugt waren, dass amerikanische Mitelstreckenraketen unsere Sicherheit erhöhten. Die sowjetische Propaganda, diese würden nur die Zahl der Ziele für sowjetische Atomschläge vermehren und im Kriegsfall die völlige Zerstörung Deutschlands herausfordern, beeindruckte viele Deutsche – allerdings nicht die Bundeskanzler, weder Helmut Schmidt noch Helmut Kohl.

Neben dem Streit, ob und welche Rüstung Deutschland selbst braucht, waren Waffenexporte immer ein Gegenstand öffentlicher Kritik. Immer wenn das schwedische SIPRI-Institut (oft zweifelhafte) Zahlen über Waffenexportländer veröffentlichte, gab es in deutschen Medien eine deutlich kritische Berichterstattung im Sinne: „das angeblich friedliche Deutschland ist wieder einmal drittgrößter Exporteur von tödlichen Waffen in alle Welt“ – insinuiert wurde dabei, dass Deutschland damit für Kriege in anderen Weltteilen mitverantwortlich sei.

Verschiedene Bundesregierungen haben sich immer wieder darauf berufen, dass „keine Waffen in Spannungsgebiete“ geliefert würden. Mancher fragt sich: „Wohin denn sonst?!“

Tatsächlich gibt es kaum ein Land, dass sich selbst so strikte Regeln für die Genehmigung von Waffenexporten auferlegt hat. Zwischen den deutschen Parteien gab es klare Unterschiede: die Grünen taten sich besonders schwer, Teile der SPD auch, die FDP stand dem Thema eher „locker“ gegenüber, während die CDU/CSU zwar der Rüstungsindustrie nahestand, aber mit Rücksicht auf die christlichen Kirchen das Thema ungern öffentlich diskutierte.

Das Thema des „gerechten Krieges“, der Verteidigung gegen einen Aggressor oder des Kampfes gegen die Unterdrückung durch eine Diktatur hat mich seit Jahren beschäftigt. Dabei gibt es immer wieder Dilemmata: muss man nicht in jedem Fall fragen, ob Widerstand und Verteidigung die Opfer wert ist, die damit verbunden sind? Lew Tolstoi nahm den Bibelspruch auf „Widerstehe dem Bösen nicht!“ (Matthäus 5:39) – Während des kalten Krieges gab es den Spruch: „Lieber rot als tot!“

Die unermesslichen Opferzahlen, die beim Einsatz moderner Massenvernichtungswaffen zu erwarten sind, das millionenfache Leid, das auch konventionelle Kriege heute verursachen, sind das eigentlich Mittel zur Abschreckung oder sind das eher Gründe zur Resignation vor der Gewalt? Was darf die Verteidigung von nacktem Leben, was darf Freiheit kosten? Und wenn man anerkennt, dass jeder sich selbst verteidigen darf, was ist dann mit den anderen? Darf man dem Völkermord an anderen zusehen? Wo fängt die „responsibility to protect“ an?

Deutsche Richter lieben es, alle möglichen Dinge an dem Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ zu messen. Da wird vermessen, was 1000 Covid-Tote pro Tag gegen die Schließung von Hotels und Gaststätten wert sind. In Fragen von Krieg und Frieden aber wird die „Verhältnismäßigkeit“ zu einer Ungeheuerlichkeit: wie kann man abwägen, wie massiv die Verteidigung sein muss, ob ein Gegenangriff mehr verspricht als zähe Verteidigung, ob und wann ein Angreifer durch Waffen gestoppt werden kann und muss, vielleicht sogar durch nukleare Waffen? In allen diesen Fällen ist immer sowohl sachliche Zweckmäßigkeit als auch politische Legitimität notwendig. In allen diesen Fällen müssen auch „vom Ende her“ alle Konsequenzen mit bedacht werden.

Pazifisten in Deutschland sprechen immer von „dem Krieg“ und „dem Frieden“ – vermeiden aber die Fragen danach, um „welchen Krieg“ und „welche Art Frieden“ es geht. Ich vermute, das hat auch damit zu tun, dass es den Deutschen immer noch schwer fällt, den Zweiten Weltkrieg gegen Hitlerdeutschland als „gerechten Krieg“ zu akzeptieren. Wenn man das nämlich tut, dann ist man bei jedem Krieg zu der Entscheidung zwischen Gut und Böse gezwungen – und das ist der „Sündenfall“. Der Teufel verspricht laut Genesis 3:5 „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“. Es ist wahr: der Anspruch Gut und Böse zu erkennen hat etwas von göttlicher Anmaßung – und es ist ein teuflisches Dilemma, entscheiden zu müssen. Aber Adam und Eva aßen die Frucht – sie können Gut und Böse erkennen und so sind wir seit Vertreibung aus dem Paradies „in Teufelsküche“, wenn wir uns gegen das Böse entscheiden wollen. Hinter dem Mythos vom Sündenfall steckt eine tiefe politische Erkenntnis.

Illegale Waffengeschäfte haben immer wieder den Ruf des Waffenhandels ruiniert. Wenn das Motiv allein materieller Gewinn ist, wenn Regeln gebrochen und Exportverbote umgangen werden, dann ist das nicht akzeptabel. Aber die Beschaffung von Waffen für Polizeiaufgaben in Demokratien und zur Selbstverteidigung gegen Aggressoren ist etwas ganz anderes. Bei allen Waffenlieferungen zählt der Zweck, für den sie bestimmt sind. Wenn andere Völker angegriffen werden und dem Bösen widerstehen wollen, dann geht das nicht ohne Waffen. Wer dann Waffen verweigert, lähmt das Opfer und hilft einem verbrecherischen Täter, seine Ziele ohne Widerstand zu erreichen. Demokratische Regierungen haben deshalb Kontrollmechanismen für Waffenexporte geschaffen, mit denen sie mehr oder weniger gut den Zweck der Waffenlieferungen prüfen.

Zwischen 2005 und 2008 saß ich regelmäßig im VBSR. Hinter der Abkürzung verbirgt sich die Vorbereitung des Bundesssicherheitsrates, dessen Rolle damals in erster Linie darin bestand, deutsche Waffenexporte zu kontrollieren. Nicht nur Exporte aus Deutschland brauchten eine Genehmigung, auch der Weiterverkauf durch frühere Käufer ist genehmigungspflichtig. Die Kontrolle war nie perfekt – und sie war oft umstritten. Die Entscheidung ist immer hochpolitisch, so dass ich vor jeder Sitzung eine Besprechung mit dem Bundesaußenminister hatte.

Die Hersteller von Waffen waren nicht gut auf den VBSR zu sprechen. Sie sahen darin ein bürokratisches Hindernis für ihr legitimes Geschäft. Auch wiesen sie darauf hin, dass Waffen für die deutsche Selbstverteidigung nicht rentabel hergestellt werden könnten, wenn sie keinen größeren Markt beliefern können. In einzelnen Ressorts machten die Unternehmen Lobby gegen andere Ressorts, die bei ihnen im Verdacht standen, zögerlich zu sein (oder als solche denunziert wurden).

Die Geheimhaltung der Sitzungen funktionierte dennoch leidlich gut. Was ich dazu als angebliche „Leaks“ in der Presse las, war fast immer falsch. Die im VBSR tagenden Staatssekretäre unter Leitung des Chefs des Kanzleramtes haben durchaus kontrovers diskutiert – auch wenn sie letztlich den Weisungen der jeweiligen Bundesminister unterstanden. Auch ich hatte immer genügend Spielraum, um überzeugenden Argumenten zu folgen. Der auf Ebene der Minister tagende Bundessicherheitsrat folgte in der Regel den im VBSR ausgehandelten Empfehlungen.

Dabei spielte die abstrakte Frage, ob ein Land ein „Spannungsgebiet“ sei, kaum eine Rolle. Wichtiger war, wofür die Waffen konkret bestimmt waren und welche Gefahren eines Missbrauchs bestanden, sei es durch die Politik des Empfängerlandes, sei es durch unkontrollierte Weitergabe. Naturgemäß gab es gegenüber NATO-Partnern mehr Vertrauen als gegenüber Drittstaaten.

In der heutigen Situation haben wir ein großes Interesse daran, dass die Ukraine der Aggression durch Russland widerstehen kann. Putin und seine Umgebung haben klar ausgesprochen, dass nicht nur Staat und Volk der Ukraine vernichtet werden soll, sondern auch der ganze Westen als Gegner betrachtet wird. Sanktionen sind ebenso wie Waffenlieferungen eine angemessene Antwort darauf.

Solange Russland trotz mancher Rhetorik den Frieden nicht gebrochen hatte, war es richtig, alles zu tun, um ein möglichst gutes Verhältnis zu Russland und den Russen herzustellen. Nachdem Russland schon Mitte der neunziger Jahre eine Politik der „eingefrorenen Konflikte“ verfolgte, war es richtig, darüber zu verhandeln, wie diese Konflikte gelöst werden könnten. Es war wichtig zu versuchen, Gewalt durch Absprachen einzudämmen. Es ist nie falsch, einen Krieg verhindern zu wollen. Wenn ein Aggressor allerdings alle Warnungen in den Wind schlägt, ist Appeasement falsch.

Schon ab 1995 wurden Reformer in Russland schwächer. Immer mehr Kräfte kamen an die Macht, die zur „Kriegspartei“ gehörten, die revisionistische Ziele verfolgte, wie moderne Versionen der Wiederherstellung der Sowjetunion oder des Zarenimperiums. Das erforderte schon damals eine illusionslose Russlandpolitik, die erkannte, dass der Spielraum für „möglichst gute“ Beziehungen immer kleiner wurde. Putin selbst hat mit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 den neuen „kalten Krieg“ erklärt.

Es war kein Fehler und es ist bis heute kein Fehler, mit Russland im Gespräch zu bleiben. Aber es gab Illusionen über die Absichten des Putin-Regimes, Fehler bei der Einschätzung der gegenseitigen Abhängigkeiten insbesondere bei Energielieferungen und es gab Frustration über intransigente Osteuropäer, die aus ihren eigenen historischen Erfahrungen nie Vertrauen zu Russland hatten. 2022 war Putin bereits zum Krieg entschlossen. Bei den Besuchen von Macron und Scholz zeigte er sich nicht gesprächsbereit, sondern belog die Gesprächspartner schamlos.

Es ist sinnlos, in der aktuellen Situation über die Vergangenheit zu rechten und zu richten. Gerade die Ukraine hatte nach der Unabhängigkeit lange gebraucht, um ihre interne Spaltung zu überwinden – wahrscheinlich sorgt jetzt die russische Aggression für eine dauerhafte Einheit aller Ukrainer, auch die Ukraine hat lange eine unseriöse Wirtschaftspolitik zugunsten reicher Oligarchen betrieben und Reformen verweigert.

Das ist heute angesichts des Krieges unmaßgeblich. Jetzt kommt es darauf an, gemeinsam die Politik für eine veränderte Weltlage zu formulieren. Der Westen ist zum Glück wieder näher zusammengerückt, nachdem Donald Trump das Bündnis schwer belastet und fast zerbrochen hatte. Man kann nur hoffen, dass dies auch die nächsten US-Wahlen übersteht.

Jetzt wird gefordert, die Ukraine schnell in die EU aufzunehmen. Präsident Selensky hat allerdings angedeutet, dass er den Verzicht auf einen NATO-Beitritt als Preis für Frieden mit Russland nicht ausschließen will.

Die russische Aggression wäre ein überzeugender Grund, die Ukraine jetzt in die NATO aufzunehmen. Wenn Russland sich schnell zurückzieht und andere glaubwürdige Garantien für die Ukraine gegeben werden können, wird das sicher Gegenstand von Verhandlungen sein – wenn Russland weiterhin ganz Europa bedroht, dann halte ich einen schnellen NATO-Beitritt der Ukraine für gerechtfertigt.

Allerdings ist dafür notwendig, dass die NATO-Länder damit die volle Geltung des Artikel 5 verbinden und bereit sind, bei einem erneuten russischen Angriff in den Krieg gegen Russland einzutreten. Solange das nicht der Fall war, solange sogar die Garantiemächte des Budapester Abkommens von 1994 – insbesondere die USA und Großbritannien – sich trotz der Verletzung der Garantien durch Russland NICHT als Kriegsparteien sehen, solange wäre auch ein NATO-Beitritt keine bessere Garantie gewesen als der gegenwärtige Zustand.

Die Ablehnung des NATO-MAP 2008 in Bukarest war genau aus diesem Grunde völlig richtig: wenn die NATO die Ukraine aufgenommen hätte, zugleich aber eine (dann vielleicht schon früher erfolgte) Aggression Russlands nicht als Angriff auf alle NATO-Staaten angesehen hätte und nicht Krieg gegen Russland geführt hätte, dann wäre die NATO mausetot (und nicht nur hirntot) gewesen. Das hätte die Garantien für alle anderen Mitglieder der Allianz relativiert. 2008 habe ich diesen Willen, für die Integrität der Ukraine Krieg gegen Russland zu führen, nicht festgestellt. Erst durch seine Aggression hat Russland 2022 möglicherweise genau diesen Willen für die Zukunft erst geweckt! Die Aussage von Bundeskanzler Scholz, ein NATO-Beitritt der Ukraine stehe nicht auf der Tagesordnung, hat der russische Angriff weggewischt – Putin selbst hat den Beitritt jetzt auf die Tagesordnung gesetzt.

Die Ukraine zeigt bis heute wenig Verständnis für die Notwendigkeit, Konsens unter den NATO-Mitgliedern herzustellen. Die Polemik gegen Deutschland wäre innerhalb der NATO eine schwere Belastung gewesen. Außerhalb der NATO (und der EU) kann das als Zeichen von Stress des angegriffenen Staates heruntergespielt werden. Die Hilfe liegt in unserem eigenen deutschen Interesse – und die Irritationen sollten uns daher nicht beeindrucken, sondern die Hauptsache bleibt, Putin zu stoppen!

Als 2004 und 2007 die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes der EU beitraten, war die Stimmung euphorisch. Europas „Wiedervereinigung“ wurde gefeiert. Inzwischen ist die Euphorie einer Skepsis gegenüber weiteren Erweiterungen gewichen. Der Beitritt zur EU hat zur Stabilisierung Mittel- und Osteuropas beigetragen. Aber die EU ist nicht als „Instrument“ zur Stabilisierung angelegt, sondern auf Integration in einer „ever closer union“ ausgerichtet. Die Übernahme von fast 100.000 Regulierungen ist nicht triviales Beiwerk, die Verpflichtung nicht nur auf Demokratie und Marktwirtschaft sondern auch auf Solidarität und gemeinsame Politik einschließlich der Außenpolitik (durch Kompromisse) ist Kern der EU.

Die rechtsstaatlichen Mängel, die sich in Polen und Ungarn zeigen, die offenbar immer noch nicht bewältigte Korruption in Bulgarien und Rumänien, der Betrug Griechenlands beim Eurobeitritt, alles das wären Gründe gewesen, diese Länder gar nicht erst beitreten zu lassen. Wenn aber der Beitritt einmal vollzogen ist, gibt es keine wirksamen Sanktionen mehr. Auch die Verzerrungen bei der doppelten Mehrheit im Rat und im Europaparlament, die Tatsache, dass jedes Land einen Kommissar stellt und (als Euro-Land) jedes Land einen Sitz in der EZB hat, verzerrt demokratische Mehrheiten so stark, dass solche Regelungen mit noch mehr Mitgliedsstaaten nicht mehr akzeptabel sind. Vor weiteren Beitritten muss deshalb eine grundlegende EU-Reform stehen, die auch klarer regelt, wie Kompetenzen auf den Ebenen EU, Staaten und Regionen verteilt werden sollen.

Strategische Gründe sprechen auch für einen schnellen Beitritt der Länder des Westbalkans zur EU. Das Verhalten Serbiens und zunehmender russischer Einfluss in Serbien führen das Land ganz im Sinne Putins weg von der EU. Auch der türkische Beitritt – stark gefördert von den USA – sollte strategischen Interessen dienen. Doch unter Erdogan ist die Türkei immer weniger beitrittsfähig geworden. Ich halte undemokratische, „illiberale“ Regime für den größten Sprengstoff für die Existenz der EU. Strategische Kompromisse mögen notwendig werden – wenn sie mehr sind als Übergangsphänomene, dann kann die EU diese „strategischen Beitritte“ nicht überleben – und Putin triumphiert!

Daher ist auch ein EU-Beitritt der Ukraine nur möglich, wenn die Bekämpfung der Korruption und die Demokratisierung unumkehrbar gemacht werden – oder zum Ausschluss führen. Das wäre zu wünschen – aber es muss auch wirklich passieren. Die Vorstellung, einen polemischen Botschafter vom Typus Melnik im Kreise des Ausschusses der Ständigen Vertreter der EU (AstV) zu begrüßen, ist abschreckend. Noch mehr defekte Demokratien nach dem Muster von Orbans Ungarn kann die EU nicht verkraften. Personen sind nun einmal nicht unwichtig!

1 KOMMENTAR Hero Georg Boomgaarden (25. April 2022 um 12:25 Uhr)

Eine schonungslose Analyse mit überragender Expertise sehr sachlich dargestellt- wohltuend und gleichzeitig beängstigend.
Die aufgeregten Stimmen von Politikern vor allem aus der 2. Reihe in den Talkshows können einem da schon das Blut in den Adern gefrieren lassen. Vielleicht kann man diese Analyse auch mal den Wills, Maischbergers, Lanz (steigert sich ja selber immer tiefer hinein) zukommen lassen. In dieser Phase könnten sie ja vielleicht etwas Druck rausnehmen – und nicht immer NUR auf die Quote schauen