Empathie - oder:
Was ist mit denen, die Täter und Opfer zugleich sind?

Empathie ist eine natürliche Eigenschaft von Menschen, Neurologen machen dafür die "Spiegelneuronen" verantwortlich, die uns befähigen, uns in andere "hineinzudenken". Emotionen können uns packen und unser Denken beherrschen. Konflikte gehören zu unserem Dasein, ihre Bewältigung durch Vernunft wird blockiert, wenn Emotionen alles überwältigen.

Gewalt von Menschen gegen Menschen, ob Krieg oder Terrorismus, heizt Emotionen weiter an. Gezielte Propaganda verschärft die Wut und Rachegefühle. Gewalt wir fast immer von Rechtfertigungen begleitet. Propaganda und Framing versucht, unsere Empathie zu manipulieren.  

Empathie mit den Opfern von Krieg, Terror und Gewalt gehört zu den Mindeststandards der Menschlichkeit. Das schließt Opfer auf allen Seiten ein. Der Unterschied zwischen Tätern und Opfern wird dadurch aber nicht aufgehoben.  Das Urteil darüber, wer Täter und wer Opfer sind, nimmt uns niemand ab. Schon gar nicht sollten wir unser Urteilsvermögen von Emotionen trüben lassen. Wir sind auf Informationen durch unabhängige Medien angewiesen, es ist nicht immer einfach zu entscheiden, welchen Informationen wir vertrauen können.

Richter erleben immer wieder, wie Verbrecher sich zu Opfern der Polizei oder ihrer Gesellschaft stilisieren und mit rührseligen Geschichten hoffen, das Gericht zu einem milden Urteil und Bewährungsstrafen zu veranlassen.

Die Kriegspropaganda von Aggressoren und Terroristen weiß sich der gleichen Stilmittel zu bedienen. Putin hat die ukrainische Führung als Faschisten bezeichnet und rechtfertigt damit den Krieg gegen die Ukraine. Der Aggressor schämt sich nicht, sich selbst als "Angegriffenen" zu bezeichnen. Die Aufopferung von über 100.000 russischen Soldaten für den Ehrgeiz einer verbrecherischen Elite wird als "Kampf gegen Faschismus" gerechtfertigt.

Die Hamas im Gaza-Streifen ordnet zuerst einen Terrorangriff auf Zivilisten in Israel an und beklagt dann, dass der Gegenangriff ihre als militärische Führungszentren missbrauchten Krankenhäuser, aber auch unbeteiligte Zivilisten betrifft. Interviews mit hilflosen Frauen und Bilder von Kindern werden propagandistisch eingesetzt - Bilder von den in der Gewalt der Hamas befindlichen Geiseln stehen nicht zur Verfügung.

Als gegen Ende des Zweiten Weltkrieges Dresden - ohne Vorwarnung - bombardiert wurde, reagierte die deutsche Seite mit Anklagen gegen den "Terrorangriff" der Alliierten. Das Elend der aus den deutschen Ostgebieten vertriebenen Flüchtlinge wurde nach Kriegsende oft in einer Weise beklagt, die über die Ursache - Hitlers verbrecherischen Krieg - schwieg. Meine eigene Familie war betroffen, meine Mutter floh aus Ostpommern, meine Schwiegermutter verlor ihre Heimat in Ostpreußen - und sie befand sich während des Bombenangriffs als Flüchtling in Dresden. 

In Russland gibt es eine größere Zahl von Menschen, die der Propaganda Putins glauben und den Krieg unterstützen - darunter auch persönliche Bekannte von mir. Als die Hamas bei ihrem Terrorangriff über Tausend Menschen ermordete, feierten Palästinenser im Gaza-Steifen ebenso wie in Deutschland diesen "Erfolg". Als Nazi-Deutschland erst Polen und dann Frankreich besetzte, waren viele Deutsche stolz auf ihr Land und ihren Führer Adolf Hitler. Die Verführbarkeit der "Massen" - schon früh von Le Bon und Ortega y Gasset beschrieben - ist auch heute sichtbar.

Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung, westliche Länder, darunter auch Deutschland unterstützen das überfallene Land mit Waffen. Ein Sieg Russlands wäre eine große Gefahr für die Sicherheit ganz Europas. Es gehört schon viel Zynismus dazu, den Unterschied zwischen Angreifer und Angegriffenem zu ignorieren, wie es manche im "globalen Süden" tun.

Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung, vor allem auch darauf, die Hamas militärisch so zu schwächen, dass sie ihre Terrorangriffe auf Israel nicht fortsetzen oder jederzeit wiederholen kann.  Israel ist zu Recht empört, wenn Sympathisanten der Hamas in Europa mit antisemitischen Parolen demonstrieren. Wenn die Hamas angriffsfähig bleibt, ist das eine große Gefahr für Israel und den Frieden insgesamt in der Region. Auch hier ist Unterscheidungsvermögen notwendig: eine Organsiation, die Israel durch Krieg und Terror vernichten will, ist nicht symmetrisch zu einer Nation, die ihre Existenz verteidigt.

Die Alliierten hatten das Recht und die Pflicht, das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten in Deutschland militärisch zu beseitigen. Ein Erfolg der Nazis hätte ganz Europa in ein totalitäres, rassistisches Regime geführt. Ja, nicht nur die Opfer der Nazis haben gelitten, aber es ist schon ein Unterschied, zwischen dem Leiden, das auf den Angreifer, der einem verbrecherischen System dient,  zurückschlägt und dem Leid, das die Verbrecher verursacht haben.

Wir brauchen Frieden und Emopathie mit den Opfern - aber wir brauchen auch ein ausgeprägtes Unterscheidungsvermögen, wenn es um die Fragen geht: "welchen Frieden?" oder "Empathie womit?"  Dann vermeiden wir, die Kapitulation und Unterwerfung der Ukrainer mit dem Streben nach einer Verhandlungslösung zu verwechseln, oder Empathie mit zivilen Opfern im Gaza-Streifen mit "Verständnis" für den Terror ihrer Anführer zu vermischen.

Nach dem Krieg wollten andere Europäer mit den Deutschen erst einmal nichts mehr zu tun haben. In Israel ist das Misstrauen in eine mögliche Friedenslösung inzwischen so hoch, dass eine "Zwei-Staaten-Lösung" in weite Ferne gerückt ist. Die Ukrainer wenden sich von allem ab, was russisch ist. Selbst wenn Russland irgendwann zu einem friedlichen Zusammenleben mit seinen Nachbarn zurückkehrt, wird es schwer sein, das zerstörte Vertrauen wiederzuerlangen.

Als Kleinkind - kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs - trug ich Kleidung, die aus gespendeten amerikanischen Care-Paketen stammte. Sogar der frühere "Feind" leistete humanitäre Hilfe, nicht erst mit der Berliner Luftbrücke. Deutschland gelang es zunächst im Westen und später dank der Ostpolitik auch im Osten langsam wieder Vertrauen zu gewinnen. Die DDR war zu abhängig von der UdSSR, um daran teilzuhaben. 

Es gab Empathie mit den deutschen Flüchtlingen, es gab eine große Bereitschaft, dem "anderen Deutschland" eine Chance zu geben: der deutschen Kulturnation, der Regierung Adenauer, die sich klar zu westlichen Werten und zu Wiedergutmachung des Unrechts vor allem an den Juden bekannte. Deutschland tat sich schwer, die besonders schlimmen Täter der Gerechtigkeit zuzuführen. Sehr viele Deutsche, die 1933 die Nazis begrüßt und sie jahrelang unterstützt hatten, sahen sich als Opfer, ein Kabarettist formulierte: "Als man sie dann wiederfand, waren sie im Widerstand." - da gab es viel Heuchelei.

Unsere Empathie gehört nach dem 7.Oktober 2023 als erstes den Opfern des Terrorismus der Hamas. Israel und seine arabischen Nachbarn waren auf dem Weg einer Verständigung, bis der Anschlag der Hamas den Prozess unterbrach. Durch erhebliche finanzielle Mittel hat vor allem die EU den Palästinensern im Gaza-Streifen die Chance gegeben, sich auf zivilen Aufbau und Wohlstand zu konzentrieren - diese Chance wurde seit der Wahl der Hamas im Jahre 2006 vergeben. Wer die Hamas unterstützt hat, ist auch für die Folgen mit verantwortlich. Die Gegenreaktion Israels auf den Terrorangriff vom Oktober 2023 fordert viele zivile Opfer im Gaza-Streifen. Auch diesen Opfern können und dürfen wir unsere Empathie nicht verweigern. Nun sind aber viele der Opfer auch Täter oder Sympathisanten der Täter. 

Ich habe Bekannte und Freunde in Russland, ich liebe russische Literatur, Kunst und Musik, und das lasse ich mir nicht nehmen. Meine Empathie im Ukrainekrieg gehört zuerst einmal der ukrainischen Zivilbevölkerung, die den Terror der russischen Angriffe ertragen muss. Aber auch den russischen Soldaten, die von Putin und seinen Generälen als Kanonenfutter in den Tod geschickt werden, gilt meine Empathie. Auch hier sind die Opfer aber zugleich auch Täter.

Immer wieder wird unsere menschliche Empathie dadurch herausgefordert, dass manche Opfer selbst Täter sind, und dass manche Opfer zumindest die Täter unterstützt oder sich mit ihnen gemein gemacht haben.

Unser Unterscheidungsvermögen bleibt gefragt: die Empathie mit den wirklichen Opfern, mit den Ukrainern aus Butcha, mit den Israelis und den anderen, die am 7.Oktober 2023 von Hamas-Verbrechern massakriert oder entführt wurden, ist bedingungslos. Die Empathie mit denen, die auf Seiten der Täter stehen, sie unterstützen oder mit ihnen sympathisieren, gar mit den Tätern selbst, ist nicht bedingungslos: sie setzt voraus, dass die Taten beendet werden, dass den Tätern eben keinerlei Unterstützung oder Sympathie mehr gewährt wird. Und das muss auch sichtbar werden!

Empathie als Ergebnis von Manipulation und Framing ist schwer abweisbar, aber wir müssen das als einen Versuch, unseren eigenen Kompass zu stören, zurückweisen. 

Wenn es zu einem Neuanfang kommt, dann soll man weder Russland noch den Palästinensern die Hilfe verweigern, so wie auch Deutschland nach 1945 eine neue Chance bekam. 

Die Hoffnung auf das "andere Russland", auch auf das "andere Palästina", dürfen wir nicht aufgeben. Gerade unter denen, die bei uns leben, wäre wichtig, dass die anderen Kräfte sich auch zeigen.