Zehn Thesen zu Russland (1995)
Im Frühjahr 1995 hatte ich (zur Vorbereitung für Diskussionen mit Kollegen und Wirtschaftsvertretern) einige Thesen zum Umgang mit Russland aufgeschrieben. Natürlich hat das meiste heute nur noch historische Bedeutung. Aber manches ist nach wie vor aktuell.
[Anmerkung: da die offiziellen Dokumente zur deutschen Außenpolitik (darunter auch meine damalige Berichterstattung aus Moskau) in der Regel erst 30 Jahre später freigegeben werden, beziehe ich mich hier nur auf private Notizen, die ich zur Vorbereitung von Diskussionen angelegt hatte oder auf öffentliche Reden und Vorträge aus dieser Zeit.]
Hier ist der Text meiner Notizen von 1995 (alte Rechtschreibung):
Wirtschaftsreform und Außenpolitik
Zu Beginn einige zur Anregung der Diskussion bewußt einseitig formulierte Thesen:
Zu Beginn einige zur Anregung der Diskussion bewußt einseitig formulierte Thesen:
Die Sowjetunion ist daran gescheitert, daß sie eine Außenpolitik betrieb, die von ihrer Wirtschaftskraft nicht mehr abgedeckt werden konnte und daran, daß sie ein Wirtschaftssystem hatte, daß an seine Grenzen gestoßen war und eine globale Machtpolitik nicht mehr ausreichend abstützen konnte. Die UdSSR war so reich – vor allem an Naturressourcen – daß sie trotz aller Verluste durch Krieg, Kollektivierung und GuLag 70 Jahre lang von der Substanz leben konnte.
Heute ist die Mentalität, daß man von der Substanz getrost weiterleben könne, in der Breite der Politiker und der Bevölkerung ungebrochen. Nur wenige Reformpolitiker haben erkannt, daß die Substanz aufgebraucht ist. Es besteht die Gefahr, daß Rußland sich weiterhin selbst überschätzt und damit übernimmt. Eine Fortsetzung der ökonomisch wie ökologisch rücksichtslosen Ausbeutung der Naturresssourcen einschließlich der Menschen in Rußland kann nur in die nächste große Krise führen.
Der Westen muß sich überlegen wie lange er „Reformen“ global finanzieren will, ohne schon frühzeitig diese Probleme aufzugreifen und „Hilfe“ stärker zu konditionieren und zu steuern. Dabei halte ich eine direkte Konditionierung der Zusammenarbeit von außen für undurchführbar, vielmehr geht das nur durch systematisches Fördern der bisher eher schwachen internen russischen Kräften, die bereit sind, den Weg „nachhaltiger Entwicklung“ zu gehen. Wir dürfen nicht länger in erster Linie interessiert sein, daß Reformen stattfinden, sondern müssen vermehrt definieren, welche Reformen sinnvoll sind und uns nicht neue Konflikte bescheren.Zielsetzung der Wirtschaftsreformen ist es für große Teile der russischen außenpolitischen Eliten, Rußland wieder so stark zu machen, wie zu sowjetischen Zeiten. Dafür wird das erfolgreichere westliche System nicht als Selbstzweck sondern als Instrument angesehen.
Diejenigen, die Außenpolitik formulieren oder beeinflussen, denken darüber in Kategorien von Territorien, Einflußzonen, Gebieten, in denen der Wille Rußland – also seiner Eliten – problemlos akzeptiert wird. Dabei haben diese Eliten die Vorzüge des „indirect rule“ entdeckt, halten aber auch direkte Gewaltanwendung keineswegs für illegitim.
Unser Interesse ist ein starkes, demokratisches Rußland, das von seinen Nachbarn geachtet wird, nicht ein schwaches, in seinem Stolz verletztes Rußland, das von seinen Nachbarn gefürchtet wird. Aber wir dürfen nicht so tun, als sei ein starkes, undemokratisches Rußland in unserem Interesse. Es muß noch klarer als bisher auch öffentlich gesagt werden, daß wir uns ein nationalistisches oder imperialistisches Rußland, das sich nach sowjetischem Muster auf Militärmacht stützt und bei seinen Nachbarn Furcht erregt, nicht wünschen und dann alles tun müssen, damit so ein Monstrum wirtschaftlich nicht stark wird. Rußland muß sich entscheiden: und aufhören, an historischen oder geopolitischen Determinismus zu glauben, der es zur Großmacht „verdamme“.Wohlfahrt der Mehrheit der Bevölkerung wird nicht als Hauptzweck der Wirtschaftsreform verstanden, sondern als ein Mittel, Rußlands Macht und Ansehen zu mehren. Die Mehrheit der Bevölkerung steht einer solchen Zielsetzung keineswegs negativ gegenüber, sondern sieht darin auch das eigene Selbstbewußtsein bestätigt. Die Folge solcher Haltungen ist ein Reformmodell, das auch hohe soziale Opfer der Bevölkerung in Kauf nimmt, wenn damit dem höheren Zwecke Rußlands gedient ist.
Die Wohlfahrt wird auch von großen Teilen der Bevölkerung als ein Ergebnis von Macht empfunden, das gegenwärtige Elend als Folge des Machtverlustes nach dem Ende der UdSSR. Deshalb ist eine Widerherstellung von Rußlands Macht – mit moderneren , tauglicheren Mittels als zur Sowjetzeit – durchaus populär. Tatsächlich besteht aber ein Widerspruch zwischen der Macht und Wohlfahrt: Rußland muß wählen ob es ein Imperium will oder Wohlfahrt – beides kann es sich auch unter Marktbedingungen nicht leisten.
Der Weg zur Demokratie ist in Rußland nicht unumkehrbar. Die Gefahr ist weniger der Weg zurück – auch nostalgisch verklärte Restaurationen können nicht an dem vorbei, was inzwischen geschehen ist, – sondern der lange Umweg durch eine Stagnationsphase mit zunehmender Aggressivität gegen die außerhalb gesuchten Sündenböcke. Derzeit geraten die USA in eine solche Rolle, aber auch Deutschland kann das passieren.
Wir schonen den russischen Stolz, indem wir die Großmachtrolle akzeptieren. Müssen wir nicht viel mehr darauf hinweisen, daß diese mit interner Wohlfahrt auf lange Sicht unvereinbar ist ?Das herrschende Paradigma in Rußland ist nach wie vor nicht auf Interdependenz ausgerichtet, sondern auf weitestgehende Autonomie und Handlungsfreiheit – also auf einen Großmachtanspruch. Das bedeutet, daß in allen Foren der Weltwirtschaft Mitsprache gefordert wird, hingegen der ausländische Einfluß in und auf Rußland auf ein Minimum beschränkt bleiben soll. Dieses Paradigma gilt auch für den Umgang mit ausländischen Investoren.
Dies ist ein sehr breiter Konsens, der Konservative und Liberale, Reformer und Altkommunisten vereint. Das bedeutet aber, daß auch bei Reformpolitikern nicht einfach vorausgesetzt werden kann, daß sie eine langfristige Kooperation mit Westeuropa und den USA wünschen. Die Zusammenarbeit wird als zweckmäßig angesehen, solange wie auch immer definierte Interesse so besser durchsetzbar sind. Solange es keine wirkliche Wertegemeinschaft gibt, wird sie aber immer mit einer Strategie des begrenzten Konflikt einhergehen.
Es bleibt uns außenpolitisch gar nichts anderes übrig, als mit jeder, auch der aus unserer Sicht negativsten Variante, russischer Führungen den Dialog weiterzuführen und gemeinsame Interessen zu identifizieren und darauf aufzubauen. Auf eine Strategie des begrenzten Konfliktes über alle möglichen Sachfragen sollten wir eingestellt sein und deshalb mehr als bisher die Fähigkeit aufbauen, in Paketlösungen zu denken und die Möglichkeit von Junktims zu nutzen. Dies gibt dem russischen Partner die Möglichkeit und Befriedigung, jeden vermeintlichen deutschen Vorteil wenigstens auf anderen Gebieten auszugleichen.
Das wichtigste aber ist, systematisch Felder zu suchen, wo Interessen auf Dauer parallel laufen. Investoren müssen also z.B. ihren Beitrag nach und nach leisten und eine gewisse Abhängigkeit ihres Partners erhalten, weil sie sonst nach derzeitiger Mentalität zum frühestmöglichen Zeitpunkt mit Fußtritt hinausbefördert werden.In Zukunft ist eine Variante der Wirtschaftsreform zu erwarten, die weiterhin prioritär auf Machtsicherung und erst sekundär auf Wohlfahrtsmaximierung setzt. Die Traditionen der alten Nomenklatur sind ungebrochen, selbst dort, wo neue Akteure auftreten.
„The pursuit of happiness“ für die Mehrheit der Bevölkerung ist für russische Eliten bisher ein unverständliches Ziel. Solange Macht vor Recht geht, muß auch die Erringung von Machtpositionen wichtiger erscheinen, als irgendwelche altruistischen und letztlich abstrakten Ziele. Die Erfahrung mit der früheren kommunistischen Propaganda hat die Überzeugung hinterlassen, jegliches Reden von Solidarität und Gemeinsinn sei ein propagandistischer Schleier, in Wahrheit gehe es immer nur um Macht, Einfluß und Geld.
Wir dürfen uns auf dieses Niveau nicht einlassen und darauf bestehen, daß auch Worte wie Gemeinsinn und Solidarität das meinen, was sie prima vista sagen. Die Überzeugung vom Wert von Freiheit und Demokratie sollte noch mehr als bisher als Grundlage auch für wirtschaftlichen Erfolg hervorgehoben werden. Wir müssen der russischen Auffassung entgegentreten, daß wirtschaftlicher Erfolg ohne Demokratie und ohne starke soziale Komponente eine valable Option ist.Die GUS wird als russischer Hegemonialraum gesehen, wobei eine einseitig territoriale Betrachtung vorherrscht und Machtprojektion durch Gewaltpotential eine größere Rolle spielt als wirtschaftliche Durchdringung. Eine Reintegration innerhalb des postsowjetischen Raums wird mehrheitlich für notwendig, wünschenswert und unvermeidlich gehalten.
Tatsächlich kann Rußland seine objektiv gegebene Hegemonie wie zu Sowjetzeiten nur durch militärische Gewalt behaupten, nicht aber durch wirtschaftliches Gewicht. Letzteres reicht zwar, um zerstörend zu wirken – durch Sperrung von Energielieferungen, durch Erpressung von Konzessionen für russische Wirtschaftsinteressen, es reicht aber nicht aus, um aufbauend zu wirken. Eine Reintegration des postsowjetischen Raumes würde auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen Rußlands Kräfte überfordern und die inneren Reformen wahrscheinlich zum Erliegen bringen.
Wir sollten die nicht reformwilligen Staaten der ehemaligen UdSSR wie z.B. Weißrußland mit ihren finanziellen Problemen ruhig mal alleine lassen, damit die harten Realitäten wie die Kosten einer Resowjetisierung auch bewußt werden. Die Unterstützung der „Reformpolitik“ von Belarus war ja offensichtlich „für die Katz“. Selektive an klaren Reformkurs gebundene Unterstützung statt pauschaler Hilfe für alle GUS-Länder ist nötig um positive Anreize mit dem nötigen Realismus gegenüber den Kosten eines Rückfalls zu verbinden. Das erlaubt nach jetzigem Stand weit höhere Unterstützung für die wirklich reformwilligen Länder.Wirtschaftliche Interessengegensätze werden konfrontativ ausgetragen, weil es an Erfahrung und Traditionen kooperativer Konfliktlösungen fehlt. Hier liegen erhebliche außenpolitische Risiken.
Kooperative Konfliktlösungen setzen einen Grundkonsens und wenigstens ein Minimum von gegenseitigem Vertrauen voraus. Die Zeit zum Aufbau solchen Vertrauens hat Rußland gefehlt, die Gelegenheiten, es zu zerstören, wurden weidlich genutzt. Es gibt eine Tradition konfrontativen Verhandelns, wo es um Sieg und Niederlage, nicht um die erfolgreiche Lösung von Problemen geht. Jeder Kompromiß wird so als Teilniederlage empfunden und beschädigt das Prestige.
Wir sollten Rußland Gelegenheiten zur Vertrauensbildung geben, die mit klaren materiellen Vorteilen gekoppelt, aber auch zurücknehmbar sind und bei Verlust des Vertrauens auch zurückgenommen werden. Es kommt darauf an, zwischen Vertrauensverlust und negativen Handlungsweisen auf russischer Seite eine klare, auch der Bevölkerung verständliche Verbindung zu ziehen.Die Reformpolitiker in Rußland glauben, sie könnten mit Anpassung an eine nationalistische Grundstimmung Freiraum für ihre wirtschaftliche Reformpolitik sichern.
Dies funktioniert auch, bedeutet aber, daß der Westen immer stärker in einen Spagat zwischen Unterstützung der Reform und Containment nationalistischer Ideologien gerät.
Wir müssen von Rußland kategorisch verlangen, daß Vertrauensbildung auch dadurch stattfindet, daß eine Wertegemeinschaft mit dem Westen, vor allem mit Europa seitens der russischen Führung auch nach innen aktiv und sichtbar vertreten wird. Wir dürfen nicht hinnehmen, daß sie dem Westen gegenüber beteuert und der russischen Bevölkerung gegenüber verschämt dementiert wird.Die These, daß mehr wirtschaftliche Verflechtung den Frieden fördere ist nicht unumstritten. Ebenso gilt die Erfahrung, daß stärkerer gegenseitiger Austausch auch die Zahl der potentiellen Konflikte, Verstimmungen, Neidkomplexe und Verletzungen des Prestigebedürfnises erhöht und damit eher konfliktträchtig ist. Deutschland und Frankreich waren auch in den Zeiten der „Erbfeindschaft“ wirtschaftlich eng miteinander verbunden.
Wir dürfen uns daher nicht auf irgendwelchen Automatismus verlassen, der aus mehr Dialog und mehr Wirtschaftskontakten auch mehr Sicherheit macht. Vielmehr muß zugleich eine aktive Sicherheitspolitik erfolgen, die von den potentiellen Konfliktpunkten ausgeht, diese zu lösen versucht und wo diese Lösungen auf Grund von Interessenkonflikten problematisch sind, an Mechanismen arbeitet, die es ermöglichen mit den Problemen zu leben ohne sie eskalieren zu lassen.Die außenpolitischen Eliten in Rußland nicht anders als im Westen sind häufig isoliert von der wirklichen Welt der Wirtschaft, der Kultur und des Alltags. Ihre hochfliegenden theoretischen Überlegungen sind verführerisch und finden auch Anhang.
Wir müssen dagegensetzen, indem wir die wirklich stattfindende Zusammenarbeit ständig herausstellen und diese nicht zur Geisel der Politik werden lassen sondern dafür – auch in Rußland – politikfreie Räume schaffen. Das ist den kommunistisch geschulten Russen besonders unverständlich, weil es in totalitären Systemen keinen politikfreien Raum gibt.