Huntington - Clash of Civilizations
Zusammenprall der Kulturen

Samuel Huntington: Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations)

VERÖFFENTLICHT 13. JANUAR 2016 


Clash ist nicht Kampf 

Die Rezeption von Samuel Huntingtons „The clash of civilizations “ in Deutschland beginnt mit einer falschen Übersetzung: das Buch erschien unter dem Titel „Kampf der Kulturen“. Ein „clash“ ist aber ein „Zusammenprall“, kein „Kampf“. Dass so ein Zusammenprall konfliktträchtig ist, oft auch gewaltsam vor sich gehen kann, das glaubt Huntington in der Tat – aber er sieht das nicht als ein unabwendbares Fatum, sondern gibt immer wieder Hinweise, dass mit dem Zusammenprall in einer Weise umgegangen werden kann, dass Gewalt vermieden oder wenigstens eingehegt wird.

Die kritische Auseinandersetzung beginnt schon beim Titel – und wenn ein Titel in Deutschland nach „Mein Kampf“ klingt, dann löst das bei uns zu Recht Allergien aus. Das hat der Rezeption des Buches geschadet. Wie viele amerikanische Politologen neigt auch Huntington zu plakativen Darstellungen. Er gehört zur „realistischen“ Schule der Politologie, die für sich im Anspruch nimmt, dass sie die Welt so nimmt wie sie ist und nicht wie sie sein sollte. Wissenschaft lebt von der kritischen Auseinandersetzung der verschiedenen Schulen miteinander, damit ist es unvereinbar, Büchern auf den Index zu setzen. Die Debatte in Deutschland hatte Huntington gleich in eine Schublade gesteckt: rechts, aggressiv, gegen das friedliche Miteinander, für den Krieg gegen andere Kulturen, ein Identitätspolitiker und damit das Gegenbild positiv und differenzierter denkender Menschen wie Amartya Sen.

Ich sage es hier gleich vorab: die Thesen von Amartya Sen sind mir weitaus sympathischer als die von Samuel Huntington. Doch ich möchte meine Position auf Fakten und gute Gründe stützen, nicht auf Vorurteile oder gar Vorabverurteilungen der „Meisterdenker“. Deshalb halte ich eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Buch von Huntington für notwendig, denn das von ihm verwendete Paradigma hat heute für viele Menschen noch mehr Anziehungskraft gewonnen.

Seine Ausgangsthese ist, dass die Menschen ihre Identität für sehr wichtig halten, dass sich diese Identität als kulturelle Identität ausdrückt und dass dabei die religiöse Identität eine besonders wichtige Rolle spielt. 

Er sagt nicht, dass Menchen die Identität für wichtig halten sollen oder müssen – er stellt das als Tatsache fest, an der man nicht vorbei kommt, wenn man die politische Welt so wie sie ist, analysieren will. Huntington stimmt mit Amartya Sen darin überein, dass jeder Mensch in der Regel eine Mehrzahl von Identitäten hat und keineswegs auf eine einzige festgelegt ist. Viele der Identitäten können schwach ausgeprägt sein, auch die religiöse Identität ist oft alles andere als stark ausgeprägt.

Was Huntington allerdings behauptet ist, dass kulturelle und vor allem religiöse Identitäten sich immer dann verengen und zugleich verstärken, wenn es zu Konflikten an den Stellen kommt, die er „Bruchlinien“ zwischen Zivilisationen nennt.

Jede Wissenschaft lebt von Klassifizierungen, dem Aufteilen der Realität in Gegenstände der Untersuchung. So ist das Paradigma der „Zivilisationen“ davon abhängig, wie man sie denn nun im Einzelnen abgrenzt – lateinisch: definiert. Die durch Definitionen gesetzten Grenzen müssen keineswegs eine Entsprechung in der Realität haben, sie sind zunächst willkürlich und müssen in der Praxis zeigen, ob sie als analytische Kategorien etwas taugen.

Die meisten Menschen zweifeln sicher nicht daran, dass viele Verhaltensweisen und Dispositionen zu einem bestimmten Verhalten dadurch geprägt sind, dass sie in früher Kindheit durch Erziehung eingeprägt wurden. Erziehung findet über Generationen statt und ist damit naturgemäß ein Träger von Traditionen. In jeder Gesellschaft beteiligt sich die Gemeinschaft an der Erziehung des Nachwuchses. Damit werden auch kollektive Traditionen weitergegeben und Werte einschließlich ihrer fundamentalen Begründungen vermittelt – und dabei wiederum spielen religiöse Autoritäten eine erhebliche Rolle. 

Es ist bezeichnend für den Zustand der Menschheit, dass nur wenige Menschen es schaffen, aus der „Haut der Religion“, in der sie mit elterlicher und gemeinschaftlicher Autorität großgezogen wurden, herauszukommen. Im täglichen Leben in säkular verfassten Staaten wird Religion weniger sichtbar, sie bleibt im Hintergrund abrufbar und mobilisierbar.

Kulturelle Identitäten: identisch mit was oder besser gesagt mit wem ?

Es nicht falsch, kulturelle Identitäten für sehr wirkmächtig anzunehmen und der religiösen Erziehung dabei eine besonders wichtige Rolle zuzumessen. „Die Menschen definieren sich über Herkunft, Religion, Sprache, Geschichte, Werte, Sitten und Gebräuche, Institutionen. Sie identifizieren sich mit kulturellen Gruppen: Stämmen, ethnischen Gruppen, religiösen Gemeinschaften, Nationen und, auf weitester Ebene Kulturkreisen.“

Identität ist etwas, das darauf verweist, mit vielen anderen etwas gemeinsam zu haben. Eine Privatidentität gibt es ebensowenig wie eine Privatsprache. Identität erwächst aus dem Identisch-sein mit den einen, und dem Anders-sein gegenüber den anderen. Identität ist selbst eine Teilungslinie, die kategorisiert, wer dazugehört und wer nicht. 

Es muss aber keine Feindschaft sein, die die Trennungslinie markiert – sie kann durchaus mit Respekt vor dem Anderen vereinbar sein. Die Grenze ist oft vage – bei einer Vielfalt von Identitäten kann sie gleichzeitig an verschiedenen Stellen liegen: der Fan eines Fussballclubs ist eins mit den anderen Fans des gleichen Clubs – daran macht sich eine Identität fest – und damit auch Gegner der Fans des jeweiligen Gegners auf dem Spielfeld.

Zugleich kann zwischen den Fans eine Trennlinie verlaufen, die von anderen Identitäten bestimmt wird, z.B. zwischen Männern und Frauen, Katholiken und Protestanten, Muslims und Ungläubigen, Hetero- und Homosexuellen. Im Stadion spricht alles dafür, die Identität als Fan als die alles andere überragende Identität zu leben, alle anderen können aber nach dem Spiel schon auf dem Heimweg wieder aufleben. Was gerade die momentan prägende Identität ist, das ist höchst wandelbar und nicht strikt festgelegt. 

Allein die Wandelbarkeit von Identitäten macht sie als Kategorie politischer Analyse sehr schwierig. Natürlich kann man diese Kategorie verwenden, aber keinesfalls als eine statische Gegebenheit. Wenn die Dynamik des Wandels nicht berücksichtigt wird, dann kann das Bild von „Zivilisationen“ entstehen, die ein für alle mal feststehen, zwischen denen unüberwindliche „Bruchlinien“ existieren.

Wenn jemand Krisen und Konflikte erlebt, dann braucht er Orientierung dazu, wo er unterstützt wird und wo seine Gegner sind. Die Unterstützung wird dann oft in einer Gemeinschaft gesucht, die sich durch ein bestimmtes Identifikationsmerkmal auszeichnet, sei es eine Partei oder eine Clique, eine ethnische oder eine Religionsgemeinschaft. Die Suche nach Identität wird zum Leitmotiv. Die Suchenden bringen noch keine fertige Identität mit, sondern sie schlüpfen in eine Identität, die ihnen Schutz und Hilfe verspricht.

Die Identifikation von Hindernissen für die eigene Entfaltung ist schwierig. Ich glaube es gibt mehr Identitätssuchende als Menschen, die sich ihrer Identität völlig sicher sind. Ein starkes Motiv der Identitätsfindung ist das Gefühl, Opfer zu sein (Viktimusmus). Ob dies nun eine reale Grundlage hat oder jemandem nur eingeredet wird ist unerheblich. Auf jeden Fall identifiziert das ‚Opfer‘ alle, die ihn am erhofften Erfolg hindern, als böswillige Menschen, auch „Feinde“ genannt. Huntington meint: „Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar, und die potenziell gefährlichsten Feinde begegnen uns an den Bruchlinien zwischen den großen Kulturen der Welt.“

Huntington beschreibt diese Dynamik von Identifikation und Ausbildung eines Feindbildes als Tatsache – es ist kaum zu bestreiten, dass solche Mechanismen beobachtet und empirisch beschrieben werden können, wo aus Krise und Konflikt über das Annehmen einer Identität eine klare Weltsicht entwickelt wird, in der die Welt in Freunde und Feinde eingeteilt wird. Huntington will nur beschreiben, was ist. 

Er hält die Herausbildung von Feindbildern ähnlich wie Carl Schmitt offenbar für unvermeidlich. Kritiker werfen ihm vor, dass er damit aber auch nichts dazu beiträgt, solches Freund-Feind-Denken zu überwinden. Was Huntington versäumt, ist auch hier die Dynamik der Ausbildung und der Überwindung von Feindbildern zu berücksichtigen. Nach seiner Analyse wäre ein Ende der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ kaum denkbar gewesen, er kann so auch nicht erklären, wie neue Feindschaften entstehen, denn auch die hartnäckigsten Gegensätze haben ja nicht immer bestanden.

Bilden nun Zivilisationen als große, zusammengefasste Kulturräume besonders starke Identitäten heraus, die sich an ihren Grenzen – den Bruchlinien, wie Huntington sagt – gegen die benachbarten Zivilisationen profilieren ? Die Muster von Kohärenz, Desintegration und Konflikt werden nach seiner Auffassung nach Ende des kalten Krieges durch Kultur und Identität von Kulturen geprägt.

Ich bezweifle das. Es gibt Grade von Fremdheit, die zwischen Menschen auftreten, wenn die Verhaltensnormen sich stark unterscheiden. Dazu reicht eine Vorstellung – vielleicht eine fixe Idee – vom Anderen, es muss also gar nicht erst zu einer konfliktiven Begegnung kommen. Ich halte die Zivilisationen, von denen Huntington spricht, für zu grob gerastert, um daraus ein Paradigma mit hinreichendem Erklärungswert zu entwickeln. 

Anders als Huntington meine ich, dass der aus welchen Gründen auch immer auftretende „Clash“ primär ist, und erst dann zur Rechtfertigung irrationaler Ängste, und als Grund für die gegenseitige Fremdheit konstruiert wird. Zu dieser Konstruktion der Feindschaft kann jede Form von Identität dienen, die Berufung auf eine größere Zivilisation ist nur eine und aus meiner Sicht nicht immer die wichtigste der Bindungskräfte.

Huntingtons verwirrt hier, indem er die Kulturen und Zivilisationen als sehr großräumige Identitätsbildner annimmt, zugleich aber das individuelle Verhalten im gesamten Raum einer Zivilisation als dadurch geprägt annimmt, dabei aber außer Acht lässt, dass sich auch kollektive Verhaltensweisen viel kleinräumiger ausbilden und so auch „Kulturen“ viel stärker in „Subkulturen“ ausgelebt werden als in dem großen Überbau einer Zivilisation.

Das bisher größte Massaker aller Zeiten war der zweite Weltkrieg. Die Feinde Deutschlands wurden rassistisch als ‚Untermenschen‘ definiert, in Russland sprach man, trotz des Vielvölkerstaates Sowjetunion, nationalistisch-russisch von Feinden der russischen Erde, bei den Alliierten durch Berufung auf die demokratische Ordnung als Feinde des „way-of-life“. Religion und Kultur spielte dabei keine wichtige Rolle. 

War der unter Deutschen durchaus populäre Rassismus der Nazi-Gesellschaft „kulturell bedingt“? (Daniel Goldhagen würde das vielleicht bejahen, aber die meisten Historiker halten das für wilde Spekulation). Die Repression in Russland war weit weniger populär, aber der „züchtigende Zar“ Stalin war spätestens als siegreicher Kämpfer beliebt – sollte das etwa an einer „Kultur der Untertänigkeit“ liegen ? Was machte dann erst die „Kultur“ des pluralistischen Westens aus ? Dort gab es noch offenen Rassismus in den USA, koloniale Unterdrückung durch die Briten und Franzosen. Was davon gehörte denn zur Zivilisation des Westens und was nicht ?

Nun sagt Huntington ausdrücklich, dass er sich auf die Zeit nach Ende des Kalten Krieges bezieht, also die prägende Identität von Kulturkreisen erst für die Zukunft als (erneut) überwiegend ansieht. Das ist wissenschaftlich problematisch, weil er damit auf singuläre Entwicklungen abstellt und historische Erfahrungen eigentlich nicht berücksichtigen kann (was er aber dennoch tut).

Huntington wendet sich vor allem gegen die These, dass sich mit der Zeit durch Modernisierung eine universale Kultur nach westlichem Vorbild herausbildet, bei uns vor allem verstanden als Verwestlichung nichtwestlicher Gesellschaften. Überall dort, wo westlicher kultureller Einfluss durch westliche Herrschaft untermauert wurde, ist eine starke Bewegung gegen die Verwestlichung zu beobachten. Die wachsende Macht der großen asiatischen Länder und die Bevölkerungsexplosion in den islamischen Ländern geben diesen antiwestlichen Bewegungen eine neue Dynamik.

Zunächst einmal kann sich Huntington darauf stützen, dass die führenden Kräfte vieler Ländern außerhalb der westlichen Welt sich ausdrücklich auf ihre besonderen Werte berufen, die in ihrer Kultur verankert seien. Sie sind allergisch gegen westlichen „Kulturimperialismus“ und lehnen jede Einmischung in ihre Politik mit der Begründung ab, der Westen habe dazu kein Recht, denn er wolle ja nur seine partikularen Werte durchsetzen. Das Argument wird vor allem gerne gegen westliche Forderungen zur Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten benutzt.

Tatsächlich gibt es eine so klare Abgrenzung der Werte nicht. Ob Folter zum Wertekanon uralter Zivilisationen gehört, das sieht aus Sicht der Folterer von der heiligen Inquisition bis zu Schergen mancher arabischer oder asiatischer Regime anders aus als aus der Sicht ihrer Opfer. Aber es trifft zu, dass manche Verhaltensweisen, die in Europa als akzeptabel gelten, in anderen Kulturkreisen als Verletzung von Anstand, Sitte und Recht betrachtet werden, ebenso wie wir in Europa ja auch das Verhalten gegenüber Frauen vor allem in islamischen Ländern als Verletzung von Menschenrechten oder zumindest vom gebotenen Anstand betrachten. Die Tatsache, dass es sowohl in Europa als auch in islamischen Ländern durchaus verschiedene Auffassungen gibt, ja das darüber Konflikte ausgetragen werden, ändert nichts daran, dass es überall eine Art „herrschende Meinung“ gibt, die in der Öffentlichkeit überwiegt.

Huntington hat recht: eine universale Kultur hat sich bisher nicht herausgebildet, und Tendenzen gehen eher in die Richtung einer stärkeren Spaltung als einer Vereinheitlichung der Vorstellungen von Anstand, Sitte und Recht. Das ändert nichts daran, dass gegenseitige Einflüsse in allen Kulturen zu einem gewissen Eklektizismus geführt haben: aus jeder Kultur picken einige etwas heraus, was zu passen scheint – und manchmal wird daraus eine neue hegemoniale Auffassung, aber der gesamte Kanon an Vorstellungen wird praktisch nie übernommen. Islamische Gesellschaften sind viel stärker verwestlicht als sie selbst zugeben, europäische Gesellschaften haben sich allein in den letzten 50 Jahren massiv verändert (aus Sicht von außen keineswegs immer zum Guten. Vieles von dem, worauf wir stolz sind, das halten auch gemäßigte Moslems für Zeichen westlicher Dekadenz).

Jetzt behauptet Huntington, dass Gesellschaften, deren Identitäten affin sind, die also zur gleichen Zivilisation gehören, auch politisch kooperieren werden. Das ist historisch nicht nachweisbar. Die Kooperation Frankreichs mit den türkischen Invasoren im siebzehnten Jahrhundert, die Budapest plünderten und vor Wien standen, war notorisch. 

Gerade an den Bruchlinien, die Huntington beschreibt, war es immer ein Gemisch aus Konflikt und Kooperation, das mal die eine, mal die andere Seite begünstigte. Er nennt als Beispiel kultureller Motivation die Entscheidungen für Olympische Spiele in Sydney gegen Peking – sein Beispiel wurde bald dementiert, denn danach kam doch noch Peking, und die Motive der IOC-Mitglieder mögen vielfältig sein, materielle Gründe waren wohl doch wichtiger als kulturelle.

„Seine universalistischen Ansprüche bringen den Westen zunehmend in Konflikt mit anderen Kulturkreisen, am gravierendsten mit dem Islam und mit China.“ (S.19), sagt Huntington. Im Westen selbst werden die universalistischen Ansprüche zunehmend zögerlicher vorgetragen und relativiert. Abgesehen von gewissen missionarischen Verhaltensweisen der USA ist der Westen aus meiner Sicht keine wirkliche Herausforderung für andere Kulturkreise mehr. Diejenigen, die in westlichen Ländern an universale Werte glauben, sind oft die gleichen, die ihre Werte relativieren, wenn es um Respekt vor fremden Kulturen geht. Mit diesem Widerspruch wird eine universalistische Politik unmöglich, es bleibt bei verbalen Bekenntnissen und punktuellen Aktivitäten, wenn es aber zum Schwur kommt, dann scheut man den Konflikt.

Unter dem Eindruck des Balkankonfliktes (vor allem in Bosnien – Huntingtons Opus erschien 1996 vor dem Krieg im Kosovo) definiert er den orthodox und den katholisch geprägten Teil Europas jeweils als unterschiedliche Kulturen. Warum eigentlich nicht auch das protestantische Europa, das sich immerhin erst nach einen dreißigjährigen Krieg gegen den Katholizismus in Nordeuropa durchgesetzt hat ? Warum trennt er dann aber den amerikanischen Doppelkontinent in die angelsächsische und lateinamerikanische Zivilisation auf – dann müsste die gleiche Trennlinie ja auch eine Bruchlinie mitten durch die Europäische Union bilden. 

Die altamerikanischen Kulturen sind natürlich nur in Lateinamerika vertreten – denn in Nordamerika wurden sie weitgehend ausgerottet. Aber die lateinamerikanischen von Land zu Land sehr verschiedenen Mischkulturen sind alles andere als klar von der nordamerikanischen Kultur unterschieden, sie sind im Gegenteil viel verträglicher mit dem ‚American way of life‘ , als manchem Nordamerikaner bewusst und lieb ist.

Interessant ist, dass Huntington schon 1996 einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine an der Konfliktlinie zwischen orthodoxer Ostukraine und unierter Westukraine festmachen will (auch im Gegensatz zu dem von ihm zitierten John Mearsheimer, der einen Konflikt Russland gegen die ganze Ukraine für möglich hält und deshalb für Kernwaffen für die Ukraine plädierte). 

Das zeigt einmal mehr, wie willkürlich Huntington die Grenzen der Zivilisationen so festlegt, dass sie zu den von ihm erwarteten Konflikten passen, einmal spricht er von der orthodox-katholischen Bruchlinie, die ja gerade in der Ukraine sehr unscharf ist, dann von einer Bruchlinie hin zur Krim – was gilt denn nun?

In seinem Buch „Who are We“ hat Huntington später gerade den Gegensatz zwischen Angelsachsen und Latinos in den USA selbst stark herausgearbeitet – für den Beobachter maßlos übertrieben. Im „Clash of Civilizations“ sagt er: „Das Überleben des Westens hängt davon ab, dass die Amerikaner ihre westliche Identität bekräftigen und die Westler sich damit abfinden, dass ihre Kultur einzigartig, aber nicht universal ist, und sich einigen, um diese Kultur zu erneuern und vor der Herausforderung durch nichtwestliche Gesellschaften zu schützen. Ein weltweiter Kampf (im englischen Clash) der Kulturen (im englischen Civilizations) kann nur vermieden werden, wenn die Mächtigen dieser Welt eine globale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigt.“ (S.20)

Kurz gesagt empfielt Huntington die eigene Identität als partikulare zu verstehen und zu bekräftigen, zugleich aber keine Universalität zu beanspruchen, die fremde Identitäten zu akzeptieren und fremde Wertvorstellungen in der globalen Politik zu berücksichtigen. Der Zusammenprall der Zivilisationen soll gerade durch gegenseitige Respektierung vermieden werden.

Das ist wichtig, weil viele Kritiker Huntington vorwerfen, den Clash für unvermeidlich zu halten – schlimmer noch den (falsch übersetzten) Kampf gegen die anderen Kulturen aufzunehmen. Wer außer dem deutschen Buchtitel nicht weitergelesen hat, bekommt ein falsches Bild von dem, was Huntington geschrieben hat. 

Er hält den Konflikt nur dann für unvermeidlich, wenn der Westen darauf besteht, seine Wertordnung als universal gegen die anderen Kulturen durchzusetzen. Das allerdings liegt auf der Hand, denn tatsächlich wehren sich Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund längst gegen eine westlichen Werte-Imperialismus. Den „Kampf der Kulturen“ – um noch einmal die falsche deutsche Übersetzung zu verwenden, führen diejenigen, die für universaler Werte gegen einen Werte-Partikularismus oder – schlimmer noch – universale Wertansprüche anderer Kulturkreise kämpfen. Diesen „Kampf“ will Huntington nicht führen, sondern vermeiden.

Huntington glaubt:“ In dieser Welt werden die hartnäckigsten, wichtigsten und gefährlichsten Konflikte nicht zwischen sozialen Klassen, Reichen und Armen oder anderen ökonomisch definierten Gruppen stattfinden, sondern zwischen Völkern, die unterschiedlichen kulturellen Einheiten angehören. innerhalb der einzelnen Kulturkreise werden Stammeskriege und ethnische Konflikte auftreten.“ (S.24)

Er will damit denen widersprechen, die hinter jedem Konflikt ökonomische und soziale Ursachen sehen oder vermuten, die die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen betrachten, und die kulturelle Werte und vor allem Religion als davon abhängigen Überbau ansehen. Nun geht auch mir die monokaulsale Erklärung der Geschichte durch die Ökonomie auf die Nerven. Das wird der Komplexität menschlicher Motive nicht gerecht.

 Allerdings verfällt Huntington hier in das genaue Gegenteil, indem er nunmehr die kulturellen Aspekte und die Religion monokausal für die großen Konfliktlinien verantwortlich macht. Meine These ist, dass sowohl soziale (Bevölkerungsexplosion, Zusammenbruch soziale Netzwerke), ökonomische und ökologische (Innovationsschwäche, Behinderung freier Wirtschaft, Verwüstung, Wassermangel) Ursachen mitspielen, als auch völlig autonom davon die kulturellen und vor allem religiösen Kräfte, deren Wirkungsmacht uns täglich neu vor Augen geführt wird. Huntington konzentriert sich einseitig auf letztere, aber das muss uns ja nicht daran hindern, seine Studien zu diesen Ursachen genauer anzusehen.

„Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion (zu der sich sich nur wenige Angehörige anderer Kulturen bekehrten), sondern vielmehr durch seine Überlegenheit beider Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals.“ (S.68).

Aus Anlass der gewaltsamen westlichen Eroberungen prallten Zivilisationen dann im Sinne Huntingtons aufeinander, nicht weil die westliche Kultur überlegen gewesen wäre. Auf die Kulturen, die sie vorfanden, wirkte der Aufprall traumatisch, sie überlebten nur unter großen Schwierigkeiten. Das sehr realistische Eingeständnis, dass westliche Kultur ihren Siegeszug einer Gewaltherrschaft und nicht ihrer Überlegenheit verdankt, macht Huntington immun gegen die Arroganz derjenigen, die dem Rest der Welt Vorhaltungen machen, und gleichzeitig die eigene Glaubwürdigkeit längst verloren haben.

 Allerdings gibt es etwas, das sich so einer Erklärung entzieht: die kulturelle Hegemonie von Coca Cola und Hollywood, von Popmusik und Lifestyle war stets im Sinne von Robert Nye ‚Soft Power‘ und drang gewaltlos, aber unwiderstehlich in viele Kulturen ein.

Auf Ebene der Eliten, reflektiert in der Diplomatie, existiert so etwas wie eine globale intellektuelle Kultur, aber diese reicht nach Huntington nicht tief. Die interkulturelle Kommunikation im engen Kreis der international verbundenen Eliten , z.B. durch Gebrauch einer linga franca wie Englisch, stiftet nicht Gemeinschaft oder gar Identität.

„Auf lange Sicht wird jedoch Mohammed das Rennen machen. Das Christentum breitet sich in erster Linie durch Bekehrung aus, der Islam durch Bekehrung und Reproduktion.“ – Das ist eine These, die sich auf die aktuellen Reproduktionsraten stützt, die weder immer so waren, noch so bleiben werden. Noch vor etwas mehr als 100 Jahren sagte man das übrigens in Deutschland von den Katholiken, die zu dieser Zeit statistisch mehr Kinder produzierten als ihre protestantischen Mitbürger. In der deutschen Debatte wird das Reden über „Reproduktion“ oft tabuisiert. Aber die Folgen der demografischen Dynamik, die nun einmal in allen Gesellschaften und zu allen Zeitpunkten verschieden ist, sind nun einmal ökonomisch und politisch relevant.

Sowohl für das Christentum wie für den Islam sollte es im Übrigen heißen: durch Bekehrung und Repression (z.B. bei der Christianisierung Lateinamerikas und der Islamisierung Nordafrikas).

Verschiebungen des demografischen Gleichgewichts können sehr konfliktträchtig werden. Das Reproduktionsverhalten wird durchaus auch von Kultur und Religion beeinflusst. Die ökonomischen und sozialen Parametern sollten aber nicht unterschätzt werden. Frankreich hat durch systematische Familienförderung seine in den zwanziger Jahren starke Tendenz zum „Aussterben“ überwunden. Deutsche Katholiken bekommen heute genauso wenig Kinder wie Protestanten und Atheisten, die ein gutes Leben allem anderen vorziehen. Unter deutschen Moslems erwarte ich eine ähnliche Entwicklung, wenn Familien sich integrieren, nur dort, wo durch Isolierung in Parallelgesellschaften alte Handlungsmuster konserviert werden, erwarte ich das nicht. Wo allerdings ein Kippen des Gleichgewichts zu einer Umkehrung von Mehrheitsverhältnissen führt, kann eine demographische Veränderung zu schweren Konflikten führen. Der Libanon ist ein Beispiel für so eine Entwicklung.

Huntington sieht den Westen als eine Macht im Niedergang: „In dem Maße, wie die Macht des Westens schwindet, schwindet auch das Vermögen des Westens, anderen Zivilisationen westliche Vorstellungen von Menschenrechten, Liberalismus und Demokratie aufzuzwingen, und schwindet auch die Attraktivität dieser Werte für andere Zivilisationen.“ (S.138).

Ich bin etwas optimistischer: die Macht des Westens mag schwinden, aber was mehr zählt, das ist sein Erfolg – und der ist nicht unbedingt von seiner Macht nach außen abhängig. Solange der Westen erfolgreich wirtschaftet, den inneren Frieden und soziale Gerechtigkeit eher garantieren kann als andere Systeme, wird der Westen auch attraktiv bleiben. Entscheidend wird sein, dass der Westen seine Werte glaubwürdig vertritt und auch verteidigt, und dass er effizient bleibt, also nicht in eine Selbstlähmung verfällt.

„Sowohl Asiaten als auch Muslime betonen die Überlegenheit ihrer Kultur gegenüber der westlichen Kultur.“ (S.155). Der Westen hat seine Überlegenheit auch lange betont, seine Selbstzweifel sind inzwischen sehr stark, aber solange das kritische Herangehen zu rechtzeitigen Anpassungen an veränderte Umstände führt, ist das eine Stärke. Solange diese Überlegenheit nur behauptet wird, sollte es uns nicht beunruhigen: Noch gehen die Flüchtlingsströme in Richtung Westen, nicht umgekehrt. Wenn das keine Abstimmung über die gefühlte Überlegenheit ist!

„Alle Religionen, was immer ihre universalistischen Ziele sein mögen, postulieren eine grundlegende Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen einer überlegenen In-Gruppe und einer anderen, minderwertigen Out-Gruppe.“ (S.147).

Das trifft zumindest für die abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam zu. Die heute nicht mehr verehrten antiken Götter ließen viele Götter neben sich zu, auch manche asiatische Religion sieht sich zwar als die beste der Religionen, lässt aber andere zusätzlich gelten. Die Christen in Europa sind weitgehend gefühlige Kultur-Christen geworden, die kein Problem damit haben, ihre Lehren so zu relativieren, dass andere Religionen darin ihren Platz finden. Christliche Intoleranz ist in fundamentalistische Sekten ausgewandert.

Der Islam betont seine Exklusivität stärker als die anderen Religionen. Für eine Gesellschaft, in der mehrere Religionen nebeneinander existieren, wird es wichtig, ob der Zusammenhalt trotz religiöser Gegensätze gewahrt werden kann. Die bewusste Abgrenzung von den anderen wird bei engem Zusammenleben stärker betont, z.B. durch besondere Kleidung, Haartracht, Gebräuche und Symbole. Es ist eine besondere Aufgabe für den säkularen Staat, religiöse Trennlinien nicht zu innergesellschaftlichen Trennlinien werden zu lassen. Hier ist weltweit die Herausforderung durch den Islam in allen seinen heutigen Varianten stärker als durch andere Religionen.

Das Wiedererstarken des Islam beunruhigt Huntington am meisten. Die Re-Islamisierung vieler Gesellschaften ist nicht irgendeinem extremen Islamismus zu verdanken, sondern folgt aus dem Scheitern anderer Identitätsangeboten wie z.B. des arabischen Nationalismus. Studenten und Intellektuelle tragen diese Bewegung ebenso wie die urbanisierte Mittelschicht und die jüngsten Migranten, die vom Land in die Städte zogen. Das hat sich zuallererst in den arabischen und persischen Städten gezeigt, später in der ganzen muslimischen Welt.

„Bevölkerungsdruck, verbunden mit wirtschaftlicher Stagnation, fördert die muslimische Migration in westliche und andere nichtmuslimische Gesellschaften, was die Einwanderungsfrage in diesen Gesellschaften zuspitzt. Das Nebeneinander eines rasch wachsenden Volkes der einen Kultur und eines langsam wachsenden oder stagnierenden Volkes einer anderen Kultur erzeugt in beiden Gesellschaften wirtschaftlichen und/oder politischen Anpassungsdruck.“ (S.187).

Huntington verweist als Beispiel auf die späte Sowjetunion, aber heute könnte er Westeuropa zu Beginn des 21.Jahrhunderts als Paradigma für diese These gesehen. In Deutschland tobt gerade die Auseinandersetzung darüber, wie dem Anpassungsdruck zu begegnen sei. 

Manche, vor allen in der Partei die Grünen, sehen einen starken Anpassungsbedarf nicht nur bei Zuwanderern, sondern auch bei der Urbevölkerung, die sich weltoffen und wandlungsbereit an die wachsende Zahl der Migranten anpassen müsse. Das wird in der Bevölkerung von vielen vehement abgelehnt, die Zuwanderung nur dulden wollen, wenn sich der Migrant „integriert“, also ein Teil von „uns“ wird, was immer die Leitkultur gerade ist (denn die ist ja auch veränderlich). 

Die Anpassung kann jedenfalls nach historischen Erfahrungen auch sehr konfliktreich und sogar gewaltsam verlaufen. Ist eine Abschottung dem Risiko eines Bürgerkrieges vorzuziehen? Ist unsere Gesellschaft, sind unsere Gesetze, unsere Verfassung dem Anpassungsdruck gewachsen – oder verliert das bestehende System unter dem Druck der Migration seine Legitimität ?

„Auf jeden Fall werden asiatisches Wirtschaftswachstum und muslimischer Bevölkerungsdruck in den kommenden Jahrzehnten (geschrieben: 1996!) zutiefst destabilisierende Auswirkungen auf die etablierte, westlich dominierte internationale Ordnung haben.“ (S.188).

Diese destabilisierenden Auswirkungen erleben wir heute gerade ganz aktuell. Die Europäische Union droht über der Krise zusammenzubrechen – das alte Wort, dass „jede Krise die EU nur stärker gemacht “ habe, ist leider keine Garantie dafür, dass es nicht anders kommt. Politologen haben das Privileg Prognosen abzugeben, aber die Politiker sind es, die handeln müssen. Wer handeln kann, ist aber auch in der Lage zu bewirken, dass Prognosen nicht eintreffen. Nur ist dazu eine offene, ehrliche Debatte notwendig – und schnelles Handeln, weil Fakten sonst nicht mehr reversibel sind.

Im Kapitel „Die kulturelle Neugestaltung der globalen Politik“ kommt Huntington dann auf die politischen Folgen seiner Sicht auf die Weltpolitik zu sprechen: „…die Bruchlinien zwischen Zivilisationen sind heute die zentralen Konfliktlinien globaler Politik geworden:“ (S.193).

Vielleicht kommt es ja einmal so, wie es Huntington annimmt, aber die gegenwärtige Lage ist anders: nicht an den Bruchlinien der von ihm definierten Zivilisationen, sondern innerhalb dieser Kulturräume sind die zentralen Konflikte aufgebrochen. Terroristische Bewegungen wie Al-Qaida oder IS versuchen zwar, ihre Kämpfe zu einer zentralen Auseinandersetzung zwischen islamischer und westlicher Welt zu stilisieren. Sie wollen offenbar mit aller Kraft Huntington recht geben, aber bisher gelingt das nicht.

Ich fürchte allerdings, dass die Konflikte um die Wellen von Migranten, die derzeit in Europa die bisher geltenden Regeln auf den Kopf stellen, zu großen Spannungen führen. Frustrierte Migranten könnten ihre Identität bei religiösen Extremisten finden, bei uns Europäern bringt das Kräfte nach oben, die ihre Identität in der Gegnerschaft zum Islam finden. Auf beiden Seiten reichen 2% durchgeknallte Extremisten aus, um bürgerkriegsartige Stimmung zu provozieren. Es wird eine große Aufgabe der Politik sein, die Nerven zu behalten und den Rechtsstaat stark, wirksam, aber auch unseren Werten verpflichtet zu bewahren.

„Was bei der Bewältigung einer Identitätskrise für die Menschen zählt, sind Blut und Überzeugung, Glaube und Familie. Menschen gesellen sich zu anderen, die dieselbe Herkunft, Religion und Sprache, dieselben Werte und Institutionen haben, und distanzieren sich von denen, die das nicht haben.“ (S.194)

Das klingt schon fatal nach „Blut und Boden“ ! – Huntington hat zuvor viele andere Formen der Identität erwähnt, hier auf „das Blut“ zurückzukommen, das klingt, als ob es nur eine Gruppe gibt, zu der sich jemand gesellt, und eine Gegengruppe, von der man sich distanziert. So eine Polarisierung ist aber nach Huntingtons eigenen Thesen nur dann vorhanden, wenn die Identitäten in Konflikt miteinander stehen. Deshalb ist es gerade so wichtig, schon vorher, zur Prävention von Konflikten, jeden in eine Vielzahl von Identitäten zu verwickeln, die sich auf gemeinsame Ziele und Handlungen stützen und die traditionellen Identitäten gerade nicht für unabänderlich halten.

Huntington sieht Kulturen als die höchste Form der Gemeinschaft an, eine universale menschliche Gemeinschaft hält er nicht für realistisch. Das ist allerdings eine willkürliche Annahme: wenn über lokalen und regionalen Identitäten auch nationale und kulturelle stehen können, dann immer nur in bestimmten Aspekten und nie hierarchisch. Somit ist durchaus auch eine universale Komponente denkbar, ebenfalls nie als einzige, aber schon als zusätzliche Identität. Wenn Huntington das verneint , dann kann das zwei Gründe haben: empirische: „das gibt es gar nicht!“ – und das ist falsch, und politisch-philosophische: „das soll es gar nicht geben“ – und das ist fatal, denn damit entfällt jede Grundlage z.B. für die allgemeinen und universalen Menschenrechte.

„… kann Identität auf jeder Ebene – der Ebene der Person, der Sippe, der Rasse, der Zivilisation – nur in Bezug auf ein „Anderes“, eine andere Person, Sippe, Rasse oder Zivilisation definiert werden.“ (S.200)
Hier scheint mir Huntington, vielleicht auch nur dem Übersetzer, wieder einmal – wie schon beim Titel – der Gaul durchgegangen zu sein: der Sprachgebrauch in dieser Form ist Nazi-Sprache, denn selbst nach dem Text von Huntington gibt es eine Vielzahl verschiedener Identitäten, aber die deutschen Wörter „Sippe“ und „Rasse“ haben einen ganz anderen Oberton als der amerikanische Text. Eine Stufung gerade in diese Ebenen ist völlig willkürlich. Dass Identitäten nur gegen andere Menschen definiert werden können, erinnert an Carl Schmitt, den Huntingtion sicher rezipiert hat. Ich halte diese These für unbegründet und schlicht für falsch.

„… sind die Quellen des Konflikts zwischen Staaten und Gruppen verschiedener Zivilisationen in erheblichem Umfang dieselben, die zu allen Zeiten Konflikte zwischen Menschengruppen hervorgerufen haben: Kontrolle über Menschen, Territorium, Wohlstand, Ressourcen und relative Macht, das heißt die Fähigkeit der eigenen Gruppe, ihre Werte, ihre Kultur und ihre Institutionen der anderen Gruppe aufzuzwingen,…“ (S.201)

Einerseits will Huntington uns überzeugen, dass nach Ende des Kalten Krieges etwas ganz Neues, nämlich der Zusammenprall der Kulturen auf globalem Niveau auf uns zukommt. Andererseits findet er dann doch nichts Neues unter der Sonne, denn es sind die immer gleichen Konfliktursachen, nämlich der Wille von Menschen, andere Menschen unter seine Macht zu zwingen. Das ist die klassische Position realistischer Politologen, die die Rolle der Macht betonen und überschätzen. 

Wenn uns nun aber ein „Clash of Civilizations“ bevorsteht, dann frage ich mich ob es Kulturen sind, die Territorium erobern, Wohlstand erzeugen oder rauben, Ressourcen ausbeuten – oder einfach Menschen, die sich überhaupt nicht für andere Kulturen interessieren, nicht einmal als Gegner, sondern eben nur organisierte Räuberbanden sind. Selbst Staaten sind ja nach Augustinus Räuberbanden, solange ihnen die Gerechtigkeit fehlt.

„Unterschiedliche materielle Interessen können Gegenstand von Verhandlungen sein und oft in einer Weise durch Kompromiß geregelt werden, die bei kulturellen Streitfragen nicht möglich ist.“ (S.201)

Dabei denkt Huntington wohl am ehesten an religiöse Dogmen, über die in der Tat nicht verhandelt werden kann. Aber in der Geschichte gibt es auch Kompromisse bei kulturellen Streitfragen, so im Augsburger Religionsfrieden, der das Prinzip cuius regio – eius religio erfand. Allerdings muss dann auch die Machtfrage entschieden werden. Verhandlungen finden statt, wenn entweder eine Seite aufgeben muss oder ein Patt beide Seiten ermüdet. Religion kann eine Lösung allerdings erheblich erschweren.

Huntington hält Hassen für ein menschliches Bedürfnis. Hier bewegen wir uns auf dem Gebiet einer pessimistischen Anthropologie, die die realistische Schule überwiegend vertritt. Es gibt aber durchaus Strategien, Hass zu überwinden, wenn man nur einmal damit anfängt. Daran muss man arbeiten und nicht fatalistisch hinnehmen, dass Hass nun einmal in der Welt ist.

Für Europa relevant sind Huntingtons Thesen, dass es schwieriger wird, mit russischen Nationalisten zu reden als mit sowjetischen Ideologen, und dass die Re-Islamisierung der Türkei dieses Land weiter von Europa entfernen wird. Auch Griechenland hält Huntington für einen Fremdkörper in der westlichen EU: „Griechische Spitzenpolitiker scheinen es oft bewusst darauf anzulegen, von westlichen Normen abzuweichen oder westliche Regierungen gegen sich aufzubringen.“ (S.259). Die Eurokrise ist noch lange nicht überwunden – und Griechenland ist weiterhin der wackeligste Kandidat – aber die griechische Orthodoxie ist sicher weniger für die fehlende politische Kultur in Griechenland verantwortlich als die jahrhundertelange osmanische Herrschaft.

Interessant ist Huntingtons Hinweis auf die Krim-Problematik (1996!!): „Die zu 70% russische Öffentlichkeit der Krim unterstützte bei einem Referendum im Dezember 1991 mit erheblicher Mehrheit die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion. Im Mai 1992 votierte das Parlament der Krim zugleich für die Unabhängigkeit der Krim von der Ukraine, um danach auf Druck der Ukraine diesen Beschluss zu widerrufen. Das russische Parlament votierte jedoch dafür, die 1954 verfügte Abtretung der Krim an die Ukraine zu kassieren. Im Januar 1994 wählte die Bevölkerung der Krim einen Präsidenten, der seinen Wahlkampf mit der Parole „Einheit mit Russland“ geführt hatte.“ (S.267).

Der Hinweis ist relevant für die weitere Entwicklung gewesen – allerdings hat er mit einer „kulturellen Bruchlinie“ überhaupt nichts zu tun. Solche Brüche gibt es zwischen Krimtataren und Russen auf der Krim, auch aus sprachlichen und ethnischen Gründen, aber zwischen Russland und der Ukraine spielt der religiöse oder kulturelle Unterschied in diesem Konflikt keine Rolle.

„Die Welt wird auf der Grundlage von Kulturkreisen geordnet werden, oder sie wird gar nicht geordnet werden.“ (S.247). Mir ist nicht klar, was Huntington damit sagen will. Will er, dass die Grenzen der Kulturkreise, der Zivilsationen einmal festgeschrieben werden, ähnlich wie die Einflussphären während des Kalten Krieges ? Er will ja, dass die verschiedenen Zivilisationen sich gegenseitig respektieren, aber was heißt das ? Containment gegen China und die islamische Welt ? Die Ordnung der Welt wird sicher die Interessen der starken Mitspieler berücksichtigen müssen – aber ob religiöse, kulturelle Interessen so im Vordergrund stehen, das bezweifle ich.

Die Besonderheit der islamischen Welt ist, dass die einzige auf religiöser Grundlage gegründete Staatengemeinschaft die OIC (Organisation of Islamic Countries) ist. Das spricht für eine starke identitätsstiftende Religion – verdrängt aber völlig die inneren Konflikte z.B. zwischen Sunniten und Shiiten, die auch mit Gegensätzen zum persischen Kulturkreis (den Huntington ignoriert) zu tun haben. 

Demgegenüber gibt es keine Chance, eine politische Organisation darauf aufzubauen, dass es eine christliche katholische/protestantische Welt gibt oder gar auf dem durch Konfuzius-Institute geförderten chinesischen Kulturexport. Religion stiftet Identität vor allem im islamischen Raum, aber nirgends sonst in diesem Ausmaß.

„Wenn Demographie Schicksal ist, sind Bevölkerungsbewegungen der Motor der Geschichte. … Die Meister der demographischen Invasion waren jedoch die Europäer des 19.Jahrhunderts. Zwischen 1821 und 1924 wanderten annähernd 55 Millionen Europäer nach Übersee aus, davon 34 Millionen in die USA.“ (S.316). Huntington zitiert dann: „Wenn es in der Migration eine ‚Gesetzmäßigkeit‘ gibt“, meint Myron Weiner, „dann die, dass ein Migrationsstrom, einmal in Gang gekommen, sich selbst in Gang hält.“ ( S.317).

Hier liegt aus Sicht Huntingtons der Grund für Phobien in Europa, wo befürchtet werde, „dass sie heute nicht von Armeen und Panzern überrollt werden, sondern von Migranten“, Phobien, die auf echter Besorgnis beruhen. Er weist darauf hin, dass (1996) 10% der Geburten in Europa in Migrantenfamilien stattfinden, dass 50% der Geburten in Brüssel auf das Konto von Arabern gehen. Die Besorgnisse richten sich fast ausschließlich auf islamische Migranten, weit weniger auf andere, weil das Gefühl herrscht, dass Integration von Muslimen erfolglos war und von den Migranten, die gerne unter sich bleiben, auch gar nicht gewollt sei. Eine Abnahme der muslimischen Migration nach Europa erwartet Huntington erst ab 2025, wenn das Bevölkerungswachstum in der arabischen und nordafrikanischen Welt den Höhepunkt überschritten haben soll.

Diese Feststellungen Huntingtons sind heute aktueller denn je zuvor. Und es ist wichtig, die Ängste, die hier geweckt wurden, ernst zu nehmen. Die Debatte ist oft darauf verkürzt worden, dass z.B. Deutschland Einwanderer braucht um seine demographischen Probleme zu lösen. Aber wer diese Lücke schließen sollte, wird aus Gründen der politischen Korrektheit nicht debattiert. 

Dabei ist naheliegend, die erheblichen Mittel, die jetzt plötzlich zur Verfügung stehen, zuerst einmal für die zahllosen jugendlichen Arbeitslosen aus den südlichen EU-Mitgliedsstaaten zu verwenden und diesen Arbeitsplätze und Lebensgrundlagen anzubieten. 

Darüber hinaus sollte sich ein Staat seine Einwanderer aussuchen. Dabei darf nicht verschwiegen werden, dass manche Gruppen sich isolieren und ihre eigene Integration unmöglich machen. Religiöse Gründe für die Absonderung – insbesondere von Muslimen – müssen offen angesprochen werden, wer diese Absonderung will, sollte gar nicht erst einreisen.

In den USA sind es die mexikanischen Migranten, die als Bedrohung wahrgenommen werden. Huntington hat später ein Buch dazu verfasst „Who we are“, wo er die angelsächsische Identität gegen die Hispanics verteidigt. Ich will hier nicht weiter darauf eingehen, aber doch bemerken, dass er dort noch weniger überzeugt als im „Clash of Civilizations“.

„Kulturen sind die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaßstab“ (S.331). Das halte ich für ausgemachten Blödsinn – ein Wortspiel ohne Grund und Boden.

Huntington zitiert dann Barry Buzan (1991): „ein gesellschaftlicher Kalter Krieg mit dem Islam würde der Stärkung der europäischen Identität insgesamt zu einem für den Prozess der europäischen Einigung überaus wichtigen Zeitpunkt dienen.“ Daher „mag eine substantielle Gemeinschaft im Westen bereit sein, einen gesellschaftlichen Kalten Krieg mit dem Islam nicht nur zu unterstützen, sondern auch durch geeignete Strategien herbeizuführen.“ (S.340 f.)

Huntington lässt offen, ob er sich mit dem Zitat von Buzan identifiziert. Aber warum sollte er es sonst anführen. Ich halte die Aussage für falsch und gefährlich: ein gesellschaftlicher Kalter Krieg: was ist das eigentlich ? Jedenfalls nichts was Europa zusammenführt, sondern vielmehr auseinandersprengen würde. Denn die „substanzielle Gemeinschaft“ würde ja aus der französischen Front National, der britischen UKIP, der deutschen AfD oder NPD, den italienischen Neofaschisten usw. bestehen: alles Gruppen, die zurück zum klassischen Nationalismus wollen, der Europa nur Leid und Krieg beschert hat.

Auf der anderen Seite stellt Huntington fest: „In muslimischen Augen sind Laizismus, Irreligiosität und daher Unmoral des Westens schlimmere Übel als das westliche Christentum, das sie hervorgebracht hat. …Dieses Bild vom arroganten, materalistischen, repressiven, brutalen und dekadenten Westen haben nicht nur fundamentalistische Imame, sondern auch Menschen, in denen viele Westler ihre natürlichen Verbündeten und Anhänger erblicken würden.“ (S.342 f.).

Huntington lenkt hier den Blick darauf, dass wir nicht nur debattieren sollten, was wir von den anderen, z.B. den Moslems bei uns und anderswo, denken, sondern auch mal die Perspektive wechseln sollten und verstehen, wie diese Anderen uns eigentlich sehen. Und das ist kein schmeichelhaftes Bild.

Wir sollten darüber offen reden: wenn wir einige der Vorwürfe für berechtigt halten, dann können wir uns ja auch mal selbst anpassen, so schwer das fällt. Aber es wird viele Gründe für unser schlechtes Image geben, die wir nicht ändern wollen, z.B. die starke Rolle von Frauen in unserer Gesellschaft, die Akzeptanz sexueller Vielfalt einschließlich homosexueller Beziehungen, die Tatsache, dass wir lieber den Staat schwächen als die Freiheit aufzugeben, dass wir gerne über alles lachen, auch über Karikaturen, die manche nicht mögen, dass wir auch mal feiern, tanzen und uns freuen, wenn Puritaner die Nase darüber rümpfen. In diesen Fragen sind WIR nicht integrationsfähig mit solchen Zuwanderern, die das alles für dekadente Greuel halten.

Das andere große Feld des kulturellen Konflikts ist für Huntington das Verhältnis der USA zu China, wo die USA ohne klare Entscheidung, was sie wollen und unvorbereitet in einen Krieg hineinstolpern könnten. Falls die USA Chinas Aufstieg zur Hegemonialmacht Ostasiens verhindern wollten, könnte es sogar zum großen Krieg kommen. Ich will das Thema hier nicht vertiefen. Es ist jedenfalls eine akute Gefahr, dass beide Seiten einen Konflikt zunehmend aus geopolitischen Gründen für unvermeidlich erklären (wie europäische Großmächte es 1914 taten) und deshalb nicht daran arbeiten, sich friedlich zu einigen.

Sich auf den Clash of Civilizations vorbereiten heißt für Huntington auch, das Verhältnis zu Russland zu bereinigen:

Russland müsse die NATO-Erweiterung akzeptieren, aber nicht über die westlich-christlichen Staaten hinaus, vor allem nicht für die Ukraine (es sei denn, diese bricht auseinander). Ein Partnerschaftsvertrag solle abgeschlossen werden. Und „der Westen erkennt die primäre Verantwortung Russlands für die Erhaltung der Sicherheit unter orthodoxen Ländern und in überwiegend orthodoxen Gegenden an.“ (S.393) , ebenso die Probleme mit den muslimischen Völkern im Süden. Wo beiderseitige Interessen berührt sind, wie in Bosnien, solle kooperiert werden.

Über Huntingtons Empfehlungen ist die Geschichte hinweggegangen. Die Missachtung der russischen Interessen auf dem Balkan hat das Verhältnis belastet, jetzt sollte aber eher einem neuen Einfluss Russlands entgegengewirkt werden, denn die Berufung auf die Orthodoxie würde auch Serbien, Bulgarien, Rumänien und Griechenland wieder in die russische Sphäre drängen, was politisch absurd wäre. 

Wichtiger ist, dass inzwischen klar ist, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine die roten Linien Moskaus genauso überschreiten würde, wie die Raketen in Kuba die roten Linien der USA überschritten haben. Vielleicht muss man auf den Deal Huntingtons noch zurückkommen: NATO-Beitritt einer amputierten Ukraine, oder Garantie der militärischen Neutralität einer Gesamt-Ukraine.

Kritiker meinen, dass Huntington die Rolle der Religion für Konflikte überschätze und viel zu sehr die sozialen und ökonomischen Gründe ausblende. Seine Antwort darauf ist: „Dieses Urteil beruht jedoch auf laizistischer Verblendung. Die Menschheitsgeschichte zeigt seit Jahrtausenden, dass Religion kein ‚kleiner Unterschied‘ ist, sondern vielmehr der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied, den es zwischen Menschen geben kann.“ (S.414).

Ich glaube, dass Huntington hier der statischen Verblendung erliegt, die eine Entwicklung anthropologischer und religiöser Paradigmata für irrelevant hält, während doch die letzten 500 Jahre europäischer Geschichte zeigen, dass sich die Rolle der Religion durchaus von einem dominierenden zu einem marginalen Faktor entwickeln kann. Es ist die historische Ungleichzeitigkeit der Entwicklung, die in Europa den Eindruck vermittelte, dass Religion nur einen ‚kleinen Unterschied‘ ausmache, während in der arabischen Welt im 15.Jahrhundert nach der Hidschra Religion sehr wohl noch als tiefgreifender Unterschied empfunden wird. Es ist gerade diese Ungleichzeitigkeit, die zwischen beiden Regionen für erhebliche Missverständnisse sorgt.

Huntington weist darauf hin, dass Migration zunehmend dazu führt, dass es für fast jede Kultur auch eine Diaspora in anderen Gegenden, vor allem im Westen gibt, die als Lobby für Anliegen und Konflikte in den Ursprungsländern auftreten. Das ist allerdings auch innerkulturell der Fall, wie früher bei Exil-Kroaten in Deutschland.

„Etwa die Hälfte aller Bürgerkriege der vierziger und fünfziger Jahre, aber etwa drei Viertel aller Bürgerkriege der folgenden Jahrzehnte waren ‚Identitätskriege‘, das heißt Kriege, die um die kulturelle Identität geführt wurden.“ (S.415).

Die Zahlen erschließen sich mir nicht: in den früheren Jahrzehnten waren Kriege im Rahmen der Entkolonisierung sicher auch, aber nicht vorwiegend Identitätskriege, es sei denn jede Dekolonisierung wird unter dieses Paradigma gefasst anstatt unter dem Thema ‚Selbstbestimmung statt Fremdherrschaft‘. Im Übrigen geht Huntington ja davon aus, dass Identität gerade in Bruchzonen zwischen Zivilisationen stattfinden – er hatte damals den Balkan vor Augen. Selbst dort, wo Identität zur Legitimierung von Kriegen diente, sind andere Ursachen nicht weniger wichtig gewesen, wie Zerfall staatlicher Autorität und ökonomische Konkurrenz.

„Die überwiegende Mehrheit der Bruchlinienkonflikte hat sich jedoch an der durch Eurasien und Afrika verlaufenden Grenze zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Welt ereignet.“ (S.416). Huntington verweist auf den Bosnienkonflikt, die Leiden der Kosovaren, Türken und Griechen, Zypern, Berg-Karabach, den Sudan, Nigeria, Tschetschenien und den Aufstand von Uighuren im chinesischen Sinkiang. Er schließt aus der Vielzahl der Konflikte: „Muslime haben Probleme, mit ihren Nachbarn friedlich zusammenzuleben… Es gab dreimal so viele interkulturelle Konflikte an denen Muslime beteiligt waren, als Konflikte zwischen sämtlichen nichtmuslimischen Kulturen.“ (S.418 f.).

Huntington fragt sich nach der Ursache dieses abweichenden Verhaltens und sieht vor allem demographische Ursachen. Das hohe Bevölkerungswachtum der Muslime führte zu Verschiebungen der Gewichte, wie z.B. im Kosovo, wo 1961 67% Albaner und 24% Serben waren, 1991 aber 90% muslimische Albaner und 10% orthodoxe Serben. In Bosnien stellten 1961 die Serben 43%, die Muslime 26% der Bevölkerung, 1991 gab es 31% Serben und 44% Muslime. Der Anteil der Kroaten sank von 22% auf 17%. Die Expansion einer ethnischen Gruppe führte zur ethnischen Säuberung durch die andere. Die Serben sahen sich als Opfer und sahen den Völkermord als ihre Form der Abwehr. In beiden Fällen ist auch der hohe Anteil junger Männer an der Bevölkerung konfliktträchtig.

Dazu zitiert Huntington Bogdan Denitch: „wenn der ethnos zum demos wird“, die einzelne Gruppe also zum Staatsvolk, dann heißt das erste Ergebnis polemos, also Krieg. Allerdings sind Muslime kein ethnos – auch, wenn das in Bosnien so verstanden wird. Aber aus einer umma ein demos zu machen ist genauso kriegstreibend. Separatistische Bewegungen wie die in Katalonien versuchen genau das: aus dem ethnos ein demos zu machen, wobei dann wieder der halbe demos ausgeschlossen wird, nämlich die kastilisch-sprechenden Menschen in Katalonien – das kann allerdings zu Krieg führen. Ich habe den Eindruck, dass sich die Separatisten in Barcelona gar nicht klar darüber sind wie sehr sie mit dem Feuer spielen und in welches Elend sie ihr Land stürzen könnten.

Das Argument, dass der Islam historisch immer eine kämpferische Religion war, dass der Koran nur wenig Gewaltverbote enthält, dafür aber viele Aufforderungen zum Kampf gegen Ungläubige, dass auch der Prophet Mohammed anders als Jesus oder Buddha ein geschickter Feldherr war, relativiert Huntington, indem er darauf hinweist, dass andere Religionen auch mit dem Islam Probleme hatten und haben. Auch muslimische Minderheiten werden vielfach unterdrückt. Allerdings ist der Islam besonders absolutistisch und verschmilzt Religion stärker mit Politik als jede andere Religion.

Huntington gibt zu, dass es viele Identitäten in einer Person geben kann und dass Religion keineswegs immer eine wichtige Rolle dabei spielt. Seine These ist aber, dass im Konfliktfall die Identitäten verengt werden. „Identitäten, die früher vielfältig und beiläufig gewesen waren, fokussieren und verfestigen sich; … Politische Führer erweitern und vertiefen ihre Appelle an die ethnische und religiöse Loyalität,… Es entsteht eine ‚Hass-Dynamik‘, vergleichbar dem ‚Sicherheitsdilemma‘ in internationalen Beziehungen, bei dem Ängste, Misstrauen und Hass beider Seiten einander verstärken. Jede Seite dramatisiert und vergrößert den Unterschied zwischen den Mächten des Guten und den Mächten des Bösen.“ (S.434).

Das kann man in der Tat bei vielen Konflikten beobachten. Eine Mentalität des „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ breitet sich dann ganz schnell aus.

„Im Verlaufe des Bruchlinienkrieges verblassen Mehrfach-Identitäten, und es setzt sich diejenige Identität als dominierend durch, die in Bezug auf den Konflikt die wesentlichste ist. Diese Identität ist fast immer religiös definiert.“ (S.436). 

Der Bosnienkonflikt ist dafür ein Beispiel: zuvor spielten religiöse Unterschiede kaum eine Rolle, aber bei den Wahlen 1990 wurde Izetbegovic zum Präsidenten gewählt, der in seinem 1970 erschienenen Buch „The Islamic Declaration“ gesagt hatte: „Es kann weder Frieden noch Koexistenz zwischen der islamischen Religion und nichtislamischen gesellschaftlichen und politischen Institutionen geben.“ (S.439) . Sobald die islamische Bewegung stark genug ist, muss sie die Macht übernehmen und eine islamische Republik schaffen.“

Deshalb gab es dann auch die massive Solidarität der islamischen Länder mit Bosnien – während die Unterstützung durch die USA „eine kulturell nicht zu erklärende Anomalie“ (S.460) gewesen sei, die Huntington damit erklärt, dass sich die Bosnier nach serbischen Greueltaten als arme „Opfer“ der bösen Serben darstellen konnten. In Wirklichkeit sei der Krieg in Bosnien ein Krieg der Kulturen gewesen.

Der Bosnienkrieg stützt die Thesen von Huntington nur in bezug auf die Muslime. Die Serben und Kroaten fanden ihre Identität in ihren Nationen, nicht in ihren Religionen, auch wenn das unappetitliche Schauspiel von waffensegnenden Popen durchaus vorkam. Nationalismus kann es mit Religionen jederzeit aufnehmen, wenn es um die Stärke von Identitäten geht. In Bosnien fand kein Krieg der Kulturen statt, sondern ein erfolgloser serbischer Hegemonialkrieg. Nur von den Bosniern wurde der Widerstand dagegen religiös legitimiert.

Verwandte Kulturen sind natürlicherweise solidarisch miteinander, meint Huntington. Er nennt als Beispiel die Haltung des Präsidenten der Republik Tschuwaschien in der russischen Föderation, „der tschuwaschische Wehrpflichtige vom Kriegsdienst gegen ihre muslimischen Brüder befreit“ (S.453) habe. Der Protest von Präsident Fjodorov fand tatsächlich statt – aber die Tschuwaschen sind zwar ethnisch mit den Tataren (und Finno-Ugriern) verwandt, aber sie sind zu fast 100% russisch-orthodoxe Christen – das Argument geht also nach hinten los. Fjodorov, den ich zu der Zeit persönlich in Tscheboksary besucht habe, lehnte es ab, den Konflikt durch Krieg zu lösen, weil er an eine Verhandlungslösung glaubte, nicht aus ethnischer oder religiöser Solidarität.

Die deutsche Haltung zu Kroatien sei zum großen Teil durch die katholische Schiene festgelegt gewesen. So ein Quatsch! Protagonisten waren eben nicht CSU, FAZ und die bayerischen Medien, wohl aber die starke Exilgemeinde von Kroaten in Süddeutschland und vor allem der evangelische Laizist Hans-Dietrich Genscher, der sich sicher von der Auffassung katholischer Kräfte überhaupt nicht beeindrucken ließ. Sein Motiv war es vielmehr, dass er die Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien für unvermeidlich hielt, nachdem Serbien die jugoslawische Armee für sich reklamierte und mit ihr die anderen Ethnien zu unterwerfen drohte. Genscher wollte den Krieg vermeiden oder abkürzen – nicht, wie ihm auch aus angelsächsischen Kreisen vorgeworfen wurde, auslösen oder auch nur riskieren.

Diese Beispiele zeigen, dass Huntington seinem wissenschaftlichen Anspruch nicht entspricht. Wenn ein Beispiel nicht passt, ist es eine Anomalie, wenn ein Beispiel passend erscheint, wird nicht mehr gründlich recherchiert. Das macht es schwierig, Huntingtons durchaus bedenkenswerte Argumente zu akzeptieren ohne noch einmal kritisch nachzufragen, ob die Tatsachen überhaupt stimmen, auf die er sich beruft. Das ändert aber nichts daran, dass die Ursachenforschung nach der großen Zahl interkultureller Konflikte mit Muslimen (ebenso die Konflikte innerhalb des Islam) wichtig ist, um die historische Entwicklung zu verstehen.

Das Abkommen von Dayton hält Huntington für prekär: „Falls die USA ihre Truppen aus Bosnien abziehen, wird es weder für die europäischen Mächte noch für Russland einen Anreiz geben, die Einhaltung des Abkommens weiter zu erzwingen. Für die bosnische Regierung, die bosnischen Serben und die bosnischen Kroaten wird es jeden Anreiz geben, die Kämpfe erneut aufzunehmen, nachdem sie wieder zu Kräften gekommen sind; und die serbische und die kroatische regierung werden versucht sein, die Gelegenheit zu ergreifen und ihren Traum von einem Großserbien beziehungsweise einem Großkroatien in die Tat umzusetzen.“ (S.483)

Eine schlüssige Begründung für diese Aussagen liefert Huntington nicht. Die europäischen Mächte hatten sich auf dem Balkan nicht gerade rühmlich verhalten, die USA waren als einzige wirklich handlungsfähig, aber gerade wegen ihrer Schwäche haben die Europäer natürlich jeden Anreiz, den Frieden in Bosnien auch weiterhin zu erhalten – und sie tun dies ja auch. Recht hat Huntington mit der Einschätzung, dass die drei bosnischen Parteien ohne Druck von außen vermutlich erneut kämpfen würden. 

Auch Russland hat sich lange Zeit auf dem Balkan zurückgehalten. Erst die Verschärfung des Ost-West-Verhältnisses im Zuge der Krimkrise und des Krieges in der Ostukraine bringt auch die Gefahr mit sich, dass auch auf dem Balkan gezündelt wird. Es bedarf guter Diplomatie um das zu verhindern.

Huntington hält trotz allem die Zivilisationskriege nicht für unvermeidbar. Und er hat einige Vorstellungen davon, wie solche Bruchlinienkonflikte beendet werden können – oder vielleicht auch am Ausbruch gehindert werden. Dazu seien folgende Faktoren erforderlich (S.484):

– ein aktives Engagement der Sekundär und Tertiärparteien (also der Schutzmächte der jeweiligen Konfliktparteien)

– Verhandlungen zwischen den Tertiärparteien um Rahmenbedingungen zur Beendigung der Kämpfe

– Zuckerbrot und Peitsche, um Sekundär- und Primärparteien zur Annahme der Bedingungen zu bringen

– Entzug der Unterstützung für Primärparteien und deren Verrat durch die Sekundärparteien; und

– Annahme der Bedingungen durch die Primärparteien, die selbstverständlich gegen sie verstoßen werden, wenn dies
in ihrem Interesse zu liegen scheint.

Huntington geht davon aus, dass Zivilisationen nicht ewig bestehen, auch wenn jede Zivilisation das von sich selbst glaubt. Er stützt sich auf Quigley (1961), den er zitiert. „Der Verfall führt sodann zur Phase der Invasion: ‚Die Zivilisation, zur Selbstverteidigung nicht mehr fähig, weil zur Selbstverteidigung nicht mehr bereit, ist weit offen für ‚barbarische Eindringlinge‘, die häufig aus ‚einer anderen, jüngeren, kraftvolleren Zivilisation‘ kommen. Die eine große Lehre aus der Geschichte der Kulturen lautet aber,jedoch, dass vieles wahrscheinlich, aber nichts unausweichlich ist.“ (S.499)

Wenn der Verfall des Westens diagnostiziert wird, dann meistens durch den Verfall konservativer Werte, wie sie Huntington in den USA zu beobachten meint: „Die westliche Kultur wird von Gruppen innerhalb der westlichen Gesellschaft in Frage gestellt. Eine dieser Herausforderungen kommt von Einwanderern aus anderen Kulturkreisen, die eine Assimilation ablehnen und nicht aufhören, Werte, Gebräuche und Kultur ihrer Herkunftsgesellschaften zu praktizieren und zu propagieren. Am auffallendsten ist diese Erscheinung bei Muslimen in Europa.“ (S.501)

Huntington malt dann das Szenario einer Entwestlichung der USA an die Wand, die durch Multikulturalismus denaturiert würden. Der Glaube an die Universalität der westlichen Welt sei falsch, unmoralisch und gefährlich. Die notwendige logische Konsequenz des Universalismus sei Imperialismus. Die Kernstaaten der Zivilisationen sollten das Prinzip der Enthaltung und der Nichtintervention als Voraussetzung für Frieden erkennen, und das Prinzip der gemeinsamen Vermittlung zur Eindämmung und Beendigung von Bruchlinienkriegen beachten.

„Multikulturalismus in der Heimat gefährdet die USA und den Westen; Universalismus im Ausland gefährdet den Westen und die Welt. Beide leugnen die Einzigartigkeit der westlichen Kultur…. Die menschliche Gesellschaft ist universal, weil sie menschlich ist, partikular, weil sie Gesellschaft ist.“ (S.524 f.)

Die Lösung ist nach Huntington „Verschiedenheit zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen.“ (S.526).
In seinem Buch widmet sich Huntington nicht dem Thema, wo denn die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Zivilisationen liegen. Jetzt ganz am Schluss scheint es doch noch ein paar universale Gemeinsamkeiten zu geben, aber nur konkret auf den jeweiligen Konflikt bezogen. Das Prinzip der Nichtintervention ist ganz aus der Mode gekommen. Es wird eher zu viel interveniert – und wenn, dann oft mit ungeeigneten Mitteln. Aber die gemeinsame Vermittlung hat Konjunktur und es wäre gut, wenn Huntington mit seiner Empfehlung recht behielte.

Am Ende seines Buches setzt Huntington eine pessimistische Note, die an Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, den er schon am Anfang seines Werks erwähnt, erinnert: „Weltweit scheint die Zivilisation in vieler Hinsicht der Barbarei zu weichen, und es entsteht die Vorstellung, dass über die Menschheit ein beispielloses Phänomen hereinbrechen könnte: ein diesmal weltweites finsteres Mittelalter.“ (S.530). Nun wussten die Menschen im 12.Jahrhundert nicht, dass sie sich im Mittelalter befanden, und wir können noch weniger ein Mittelalter vorhersagen. Huntington benutzt das hier allerdings als Metapher einer durch religiöse Intoleranz und Konflikte geprägten Weltordnung.

Nach der Lektüre fand ich das Buch anregend und enttäuschend zugleich. Anregend, weil es manche Apekte auch der aktuellen Politik in neuem Licht zeigt oder Ideen aufgreift, die man weiterverfolgen könnte. Enttäuschend, weil das Buch mehr Ideologie als Wissenschaft enthält, weil ein großes Modell der kulturell geprägten Weltbeziehungen aufgebaut wird, um dann am Ende bei der Empfehlung zu landen, Konflikte einzudämmen und Gemeinsamkeiten zu suchen. Das wusste man schon vorher!