Sondieren und Verhandeln
mitten im Krieg?

VERÖFFENTLICHT 24. MAI 2022 

Was immer einen Krieg ausgelöst hat, wird von der Dynamik der gewaltsamen Auseinandersetzung überholt. Am Anfang steht die Drohung. Ein Gewalttäter will etwas erzwingen, was ihm mit friedlichen Mitteln nicht gewährt wird. Er ruft „Hände hoch – oder ich schieße!“ – will also, dass sein Gegner sich nicht wehrt. Er schreit „Geld oder Leben“ – stellt sein Opfer also vor die Wahl, nachzugeben oder zu sterben. Die Todesdrohung kann nur durch Kapitulation abgewandt werden – und selbst dann folgt oft Unterdrückung, Versklavung, Vergewaltigung und Tod.

Russland hat den souveränen Staat Ukraine mit Waffengewalt angegriffen. Präsident Putin nannte es eine „spezielle militärische Operation“ – und das wäre es vielleicht auch geworden, wenn die Ukraine sich nicht gewehrt hätte. Putin hat seine Ziele genannt: er hat der Ukraine mit historischen Gründen ihre Existenzberechtigung abgesprochen, wollte die gewählte ukrainische Führung stürzen und die ukrainischen militärischen Kapazitäten vernichten. Er teilt die Ukrainer in zwei Gruppen: die einen seien in Wirklichkeit Russen, die anderen „Faschisten“. Er will an das russische und sowjetische Imperium anknüpfen und strebt Herrschaft über Nachbarländer und Hegemonie in ganz Europa an. Die NATO ist ihm dabei im Wege, die USA soll aus Europa verdrängt werden.

Gegen den Westen hat Putin seine strategische Gegnerschaft erklärt. Für die Ukraine aber ist das die eine existenzielle Bedrohung: sie haben nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Tod. Aus ihrer Geschichte wissen sie, dass auch eine Unterwerfung oft damit verbunden war, dass die sich als ukrainisch verstehende politische und intellektuelle Elite vertrieben oder getötet wurde.

Gegen so eine Bedrohung ist Gegenwehr selbstverständlich gerechtfertigt und notwendig. Deshalb sind Slogans wie „Stoppt den Krieg“ / „Stop the war“ zweifelhaft, denn der Angreifer ist sicher einverstanden damit, dass die Gegenwehr gestoppt werden sollte. Der richtige Slogan kann nur lauten „Stoppt den russischen Angriff“ / „Stop the invasion of Ukraine“.

Die russischen Kriegsziele gegenüber dem Westen sind strategischer Natur und erfordern eine massive Abschreckung durch die NATO. Die Ziele gegenüber der Ukraine sind verbrecherisch: Ukrainer werden getötet, um sie zu unterwerfen. Alles andere ist Propaganda!

Kann man mitten im Krieg mit Verbrechern reden? Man kann es nicht nur, man muss es sogar!

Trotz der formellen, höflichen Umgangsformen ist die Diplomatie keine Unterkategorie von Liebesbeziehungen. Politiker begreifen oft nicht, dass diplomatische Umgangsformen ganz und gar auf den Zweck ausgerichtet sind, Gespräche überhaupt erst einmal zu ermöglichen – und am schwierigsten sind natürlich Gespräche zwischen Feinden. Ein dümmlicher Stolz darauf, „kein Diplomat zu sein und deshalb Klartext zu reden“, ist unangebracht. Oft ist damit nur Unhöflichkeit gemeint oder der Wille „es den anderen mal zu zeigen“ – also Krieg mit anderen Mitteln.

Sondierungen und Verhandlungen während eines Krieges dienen zwei realen Zielen: das VERHALTEN IM KRIEG so zu beeinflussen, dass das Leid verringert wird, und das BEENDEN DES KRIEGES. Zugleich werden Verhandlungen aber auch zur psychologischen Kriegführung und zur Propaganda missbraucht. Ein Krieg kann prinzipiell natürlich durch Sieg der einen und Niederlage der anderen Partei enden. Dann wird das „Ruhen der Waffen“ und vielleicht der „Frieden“ vom Sieger diktiert.

Aber in unserer modernen Welt finden Kriege nicht allein zwischen den Kriegsparteien statt. Die Staatengemeinschaft ist immer mit involviert, unterstützend, sanktionierend, mit Worten und Waffen. Und die Staatengemeinschaft braucht die Erneuerung einer stabilen Friedensordnung.

Der zweite Weltkrieg endete durch „unconditional surrender“, der „bedingungslosen Kapitulation“ des Deutschen Reiches. Gegenüber einer atomar hochgerüsteten Macht wie Russland ist das keine Option. Solange die Ukraine fähig ist, mit Unterstützung von Freunden ihre Gegenwehr erfolgreich aufrechtzuerhalten, ist das auch keine Option gegenüber der Ukraine. Dann kann der Krieg nur durch Ermattung, einen unsicheren Waffenstillstand oder einen Friedensschluss beendet werden. In allen Fällen sind beide Seiten beteiligt, also Verhandlungen notwendig, wenn nicht direkt zwischen den Kriegsparteien, dann indirekt über Dritte.

Verhandlungen zielen immer auf einen Kompromiss ab. Wo dieser Kompromiss liegen kann, hängt aber auch vom Verlauf der militärischen Auseinandersetzung ab. Solange Russland die Ukraine vernichten will, gibt es keine Aussicht auf Frieden. Nur eine Veränderung der militärischen Lage zu Ungunsten von Russland kann das verändern. Regelmäßige Sondierungen sind aber sinnvoll, um festzustellen, ob Russland unter dem Eindruck des Kriegsverlaufs und der Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft bereit ist, seine ursprünglichen Ziele zu verändern. Nicht mehr und nicht weniger ist der Sinn von Gesprächen zum jetzigen Zeitpunkt.

Wenn sich Änderungen andeuten, dann wird zu sondieren sein, ob die russischen Kriegsziele dauerhaft begrenzt werden oder es sich nur um kurzfristige taktische Konzessionen angesichts der militärischen Misserfolge und innenpolitischer Unruhe handelt.

Beide Seiten werden ihre Ziele ständig der Lage an den Fronten anpassen. Das macht es besonders schwer, herauszufinden, wo Kompromisse möglich sein könnten. Wahrscheinlich werden Dritte eher in der Lage sein, dazu vorsichtig zu sondieren, denn die Kriegsparteien wissen natürlich, dass jegliche Kompromissbereitschaft innenpolitisch als Schwäche ausgelegt werden kann und die Moral der eigenen Soldaten beeinträchtigen kann. Kriegsparteien versuchen immer wieder, ihre Positionen zu stärken, indem sie sich öffentlich auf bestimmte Positionen festlegen.

Sondierungen zur Substanz von Kompromissen können nur unter äußerster Geheimhaltung stattfinden. Sie bereiten Verhandlungen vor, bleiben aber zunächst unverbindlich. Öffentliche Empfehlungen an die eine oder andere Seite zu möglichen Kompromissen sind nicht hilfreich.

Russland hat schon vor dem Ukrainekrieg durch Lügen und systematische Täuschung jegliches Vertrauen verspielt. Diese schwere Hypothek erfordert starke Sicherheiten für alle Vereinbarungen zur Beendigung des Krieges.

Die Ukraine wird selbst einschätzen müssen, ob die Gesamtlage es erlaubt, von sich aus bestimmte Kompromisse einzugehen oder nicht. Die militärische Entwicklung und die Unterstützung von außen ist dabei ein wichtiger Faktor. Die Ukraine wird das, was sie erreichen WILL, deutlich unterscheiden müssen von dem, was sie erreichen KANN.

Russland hingegen muss erst einmal vom hohen Ross des siegesgewissen Aggressors herunter kommen. Putin muss erkennen, dass er seine ursprünglichen Ziele, insbesondere die Liquidation der Ukraine als souveräner Staat, nicht erreichen kann. Er kann auch nicht erwarten, dass die internationale Staatengemeinschaft die Ergebnisse seiner Gewaltpolitik anerkennt. Ob er de facto weiterhin die Krim wie ein russisches Territorium verwalten kann, ob er für Teile des Donbass einen ähnlichen Status behalten kann, wird davon abhängen, ob er einen Waffenstillstand herbeizuführen bereit ist, bevor die Ukraine ihre besetzten Territorien militärisch zurückgewinnen kann.

Niemand kann die zukünftigen militärischen Kräfteverhältnisse vorhersagen. Die in den Medien allgegenwärtigen Amateurstrategen unterscheiden sich von professionellen Kennern vor allem dadurch, dass letztere sich der Unwägbarkeiten jedes Krieges bewusst sind.

Der Preis eines fortgesetzten Krieges ist aber für alle Seiten gewaltig. Die Ukraine weiß das, Russland muss das noch lernen. Verhandlungen sind auch im Krieg notwendig – auch wenn es vorerst eher Sondierungen darüber bleiben, ob Russland inzwischen verhandlungsbereit ist - bisher ist das nicht der Fall.