Rußland und Deutschland
Eine schwierige Partnerschaft
Meine Bilanz von Anfang 1995

VERÖFFENTLICHT 27. JULI 2020

[Anmerkung: da die offiziellen Dokumente zur deutschen Außenpolitik (darunter auch meine damalige Berichterstattung aus Moskau) in der Regel erst 30 Jahre später freigegeben werden, beziehe ich mich hier nur auf private Notizen, die ich zur Vorbereitung von Diskussionen angelegt hatte, ebenso auf Zeitungsartikel und öffentliche Reden und Vorträge aus dieser Zeit.]

IM FOLGENDEN TEXT GILT:
schwarzer Druck = Original von 1995, blauer Druck = kommentierende Zusätze 2020
Die Zwischenüberschriften sind nachträglich hinzugefügt.

Anfang 1995 hatte ich begonnen, meine Erfahrungen mit der Transformation in Russland in eine etwas breiter angelegten Studie über Russland aufzuzeichnen. Dabei ging ich weit über meinen eigentlichen Zuständigkeitsbereich „Wirtschaft und Wissenschaft“ hinaus. Die Arbeitsbelastung ließ es nicht zu, dass der Text je beendet wurde. Da viele meiner damaligen Auffassungen nach 25 Jahren Geschichte geworden sind, macht es auch keinen Sinn, den Text im Nachhinein noch fertigzustellen. Deshalb habe ich einen anderen Weg gewählt: im folgenden Text sind die im Original 1995 verfassten Texte thematisch geordnet und durch mit blauer Farbe abgesetzte neue verbindende Texte – sei es zur Erklärung der damaligen Texte, sei es als Kommentare – ergänzt.

Meine Einschätzungen beruhen auf persönlichen Eindrücken aus den Jahren in Moskau von 1992 bis 1995, vielen Gesprächen mit politischen Akteuren, vor allem dem für die GUS zuständigen russischen Vizeminister und mit russischen Diplomaten und Vertretern der Wirtschaft. Russland war damals eine weitaus pluralistischere Gesellschaft als heute – es gab ein breites Meinungsspektrum.

Es war auffällig, wie sich im „außenpolitischen Establishment“, in Think Tanks und Parlament ebenso wie im Außenministerium eine relativ homogene Meinung über die Zukunft Russlands herausbildete, die gegenüber der damaligen offiziellen Politik von Außenminister Kosyrew deutlich nationalistischer war. Ein ganzseitiger, nicht namentlich gezeichneter Artikel in der Nesawisimaja Gaseta vom 27.Mai 1994 zur außenpolitischen Strategie Russlands fasste diese Richtung sehr gut zusammen.

Ich hatte den Eindruck, dass der Artikel auf eine Gruppe von Diplomaten, Politikern und Wissenschaftlern zurückging, die wachsenden Einfluss auf die russische Außenpolitik ausübten. Deshalb habe ich mich ausführlich mit diesem Artikel auseinandergesetzt. Das spiegelt sich in meinem Fazit von Anfang 1995 wider.

Die aktuelle russische Außenpolitik unter Präsident Putin und Außenminister Lawrow (den ich unter den Autoren vermute, was ich aber nicht beweisen kann) zeigt, dass sich die Denkweise der Autoren des Artikels in der „Nesawisimaja Gaseta“ vom 27.Mai 1994 inzwischen durchgesetzt hat.

Rußland und Deutschland – Fragen an die Zukunft

Fragen zum Verhältnis Deutschlands und Rußlands zueinander beginnen fast immer in der Vergangenheit und mit der Vergangenheit. Dazu besteht aller Anlaß. Die Geschichte hat Deutsche und Russen schon früh zusammengeführt. Miteinander und gegeneinander sind wir einen weiten Weg gemeinsam gegangen.

Darüber gibt es hervorragende historische Werke: neben einer Vielzahl historischer Bücher möchte ich an das „Wuppertaler Projekt“ erinnern, aus dem unter maßgeblicher Beteiligung von Lew Kopelew die zehnbändigen „West-östlichen Spiegelungen“ hervorgegangen sind, eine erschöpfende Darstellung über die Entwicklung der jeweiligen Bilder, die die Deutschen von den Russen und die Russen von den Deutschen hatten. Besonders beeindruckt hat mich der Sonderband über das Bild Deutschlands in der russischen Lyrik des 20.Jahrhunderts. Es ist geradezu beschämend zu lesen, mit welcher glühenden Verehrung für Deutschland große russische Dichter unser Land besungen haben, das gleich Land, das so viel Leid über Rußland gebracht hat und dessen nationalsozialistischen Führer die Russen versklaven wollten.

Im Jahre 1995, wo sich der Sieg der Alliierten einschließlich Rußlands im Zweiten Weltkrieg zum fünfzigsten Male jährt, wird noch einmal die Erinnerung an die Schrecken wach, die Krieg und Gewaltherrschaft über Russen und Deutsche gebracht haben. Es war die Tragödie Rußlands, daß es mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland uns Deutsche von der Terrorherrschaft der Nazis befreite, der totale Staat Stalins in Rußland aber durch den Sieg befestigt wurde.

Die Geschichte des kalten Krieges, der mit der „Deutschlandfrage“ begonnen hatte, ist auch eine Geschichte der Annäherung zwischen Deutschen und Russen trotz der globalen Gegensätze und trotz der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Wenn 1990 die deutsche Einheit möglich wurde, dann auch auf der Grundlage des neuen Verhältnisses zwischen Deutschen und Russen.

Die Zukunft ist nicht in U-topia , irgendwo auf einem fernen Kontinent, sie entsteht laufend aus der Vergangenheit heraus in unserem täglichen Zusammenwirken. Fragen an die deutsch-russische Zukunft werden also immer wieder auf die Erfahrung der Vergangenheit zurückgreifen müssen. Aber anders als die Vergangenheit ist die Zukunft noch zu gestalten. Wir dürfen uns nicht zum Gefangenen angeblicher historischer oder geopolitischer Sachzwänge machen lassen, sondern wir müssen die Spielräume nutzen, die wir haben, um in dem in den letzten Jahrzehnten zusammengewachsenen Europa auch zu Rußland ein neues Verhältnis zu entwickeln.

Das Bild von Rußland in Westeuropa und Deutschland ist heute, Anfang 1995, negativer als noch vor wenigen Jahren. Parallel dazu hat sich auch das Bild vom „Westen“ in Rußland wieder verdunkelt.

Für das gegenseitige Verständnis ist sehr wichtig, welches Bild man sich jeweils von sich selbst macht. Rußland ist heute eine Nation auf der Suche nach sich selbst – ein Phänomen, das in der russischen Geschichte nicht neu ist, das fruchtbar war für Literatur und Geistesgeschichte, das aber auch immer wieder zu gefährlichen Extremen führen kann. Der alte Gegensatz zwischen „Westlern“ und „Slawophilen“ ist in neuer Verkleidung wieder virulent geworden und wir müssen uns fragen, was daraus für uns werden kann.

Rußland ist und bleibt eine Großmacht, seine auf Kernwaffen und andere Optionen gestützte militärische Stärke bleibt ein Faktor der Weltpolitik. Darüber sollte auch das Gerede von der einzigen Supermacht USA nicht hinwegtäuschen. Um so aktueller ist für uns die Frage nach der zukünftigen europäischen Sicherheitsarchitektur und Rußlands Platz darin.

Rußlands eigenes Verständnis seiner Außenpolitik steht in Wechselwirkung zu unserem Herangehen an Rußland. Das Verhältnis Rußlands zur GUS und dem gesamten postsowjetischen Raum ist noch nicht endgültig definiert. Es wird nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis Europas zu Rußland bleiben, wie sich Rußland gegenüber dem „Nahen Ausland“ verhält. Ebenso wird auch die Frage einer NATO-Erweiterung die russische Perzeption Europas beeinflussen – auch wenn gerade in dieser Frage auf beiden Seiten taktisches Verhalten und reale Befürchtungen nur schwer auseinanderzuhalten sind.

Bis heute wird oft das Verhalten Russlands in den vergangenen 25 Jahren auf bestimmte Entscheidungen oder Fehlentscheidungen des Westens zurückgeführt. Sowohl in Russland als auch in Westeuropa wird dabei vergessen, dass das Verhalten Russlands selbst und die dadurch ausgelösten Veränderungen in der Perzeption Russlands erheblich zu der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Ost und West beigetragen haben. Wechselwirkungen gehen in beide Richtungen. Westliches Verhalten hat Russland beeinflusst – aber vor allem hat russisches Verhalten den Westen beeinflusst (was Russland gerne ignoriert).

Die russischen Wirtschaftsreformen werden uns in Zukunft mit einem anderen Rußland konfrontieren als wir es bisher kennen. Die Wirkung der gerade erst begonnenen Strukturreformen wird uns direkt betreffen. Wir sollten uns rechtzeitig darauf einstellen. Konkurrenz und Kooperation gehören in der Wirtschaft zusammen. Das Verhältnis zur EU wird für Rußland zum entscheidenden Element seiner Integration in die Weltwirtschaft werden, damit aber auch am ehesten konfliktträchtig sein.

Die Wirtschaftsreformen sind anders als erwartet verlaufen. Russland hat seine Konkurrenzfähigkeit weitaus weniger ausbauen können, als möglich gewesen wäre. Wirtschaftlicher Fortschritt ist immer wieder dem imperialen Impuls aufgeopfert worden. Die Wirtschaftsreformer hatten wenig politische Macht, die „Siloviki“, die Machtstrukturen im Kreml verstanden nichts von einer effizienten Wirtschaft.

Deutschland als größter Handelspartner Rußlands hat ein besonderes Interesse an einer Entwicklung, die zu mehr Handel und mehr gegenseitiger Verflechtung führt. Deutsche Investoren gelten als besonders vorsichtig – gerade auch gegenüber Rußland. Wir müssen uns täglich neu fragen, wo für uns der richtige Weg zwischen der gebotenen Vorsicht und dem notwendigen Mut liegt, der Chancen nicht verpaßt.

Am Anfang der Ära Putin, als mehr Rechtssicherheit versprochen wurde, gab es einen deutlichen Aufschwung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen. Als Mitglied der deutsch-russischen strategischen Arbeitsgruppe habe ich sehr fruchtbare Gespräche über die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Investoren erlebt. Wilkürliche Prozesse gegen unbotmäßige Oligarchen und das Vorgehen gegen einzelne Firmen wie BP haben dann das Abschreckungspotenzial der russischen Politik gegen deutsche Investoren kräftig erhöht. Inzwischen fällt Russland in seiner Bedeutung für Deutschland deutlich zurück.

Welche Gesellschaftsform schließlich in Rußland entstehen wird, ob der Weg zu Demokratie und offener Gesellschaft im westlichen Sinne beschritten wird oder ob alte Traditionen einer geschlossenen Gesellschaft überwiegen werden, auch das wird nicht ohne Rückwirkung auf unsere eigene Gesellschaft bleiben. Hier bleiben viele Fragen offen, denn die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft vollzieht sich nicht in großen Sprüngen und nicht in Form von Schocktherapien sondern langsam und in ständiger Wechselwirkung mit der politischen und gesellschaftlichen Umwelt.

Was in Russland entstanden ist, das ist mit der sowjetischen Gesellschaft nicht mehr vergleichbar. Trotz des autoritären Regimes ist Russland weitaus offener als in den sechziger und siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts. Russen reisen viel und der Zugang zu Informationen ist auch dank Internet weitaus leichter als früher. Es ist der neue russische Nationalismus – manchmal gepaart mit religiösem orthodoxem Sendungsbewusstsein, der die alte Ideologie abgelöst hat.

Der bisherige „Westen“ – das Wort selbst setze ich in Anführungsstriche um klarzumachen, daß es ein ideologisch aufgeladener Begriff ist – will bei Rußlands Reformen helfen. Mit großen Ankündigungen haben die großen Sieben Rußland ihre Unterstützung zugesagt. Die Europäische Union führt mit TACIS ihre größten Projekte technischer Hilfe in Rußland durch und die internationalen Finanzorganisationen IWF und Weltbank oder die eigens für die Reformländer gegründete europäische Entwicklungsbank EBRD haben in Rußland Schwerpunkte gesetzt. Auch die Beratungshilfe der Bundesregierung setzt in Rußland mit etwa einem Drittel aller Mittel den Löwenanteil der Hilfen ein. Wir müssen uns fragen, ob diese Hilfe richtig eingesetzt wird und ob sie ihre Ziele erreicht.

Die Reformen sind trotz des erheblichen Einsatzes stecken geblieben, weil man sich auf die wirtschaftlichen Reformen konzentrierte und dabei die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Reformen vernachlässigte. Anders als in Fragen der Wirtschaft hatte der Westen auch nur wenig Einfluss auf diese Faktoren. Russland selbst hat sich seinen Weg gewählt – und trägt die Folgen.

Die Unterstützung der Reformen ist nur ein Sektor der schon heute weit breiter angelegten Zusammenarbeit Rußlands mit Deutschland und dem Europa der Europäischen Union, zu der irgendwann auch die osteuropäischen Nachbarn Rußlands gehören werden (wie Finnland heute schon). Die möglichen Felder für Kooperation aber auch für Konflikte sind andere als früher. Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik verspricht für beide eine bessere Selbstbehauptung in einer von der Technik beherrschten Welt. Der Umgang mit unserer regionalen und globalen Umwelt ist aber auch ein potentieller Konfliktherd.

Fragen an Rußland, Fragen an uns zu unserem Verhältnis zu Rußland im neuen Europa, gibt es viele, Antworten haben wie in der Geschichte üblich, einen sehr vorläufigen Charakter. Wichtiger als gute Prophezeiungen zu fabrizieren ist es, daß wir offen füreinander bleiben, genau zuhören und hinsehen und bereit bleiben, unser Urteil jederzeit zu revidieren, wenn es nicht zu den Realitäten passen will. Und vergessen wir nie, daß es Menschen sind, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen müssen und sie nicht abstrakten Mechanismen oder Theorien oder gespenstischen Weltgeistern überlassen dürfen.

Viele westliche Beobachter haben ständig Prognosen zur Entwicklung in Russland abgegeben anstatt zu überlegen, was man tun könnte, damit sich die Prognosen als falsch erweisen und die Entwicklung besser als erwartet verläuft. Auch in Zukunft geht es darum Chancen zur Annäherung zu erkennen und zu nutzen anstatt in eine Rhetorik der Unvermeidlichkeit von Konflikten zu zu erstarren. Nur eines bleibt auch klar: it takes two to tango! – wenn Russland nicht will, müssen wir uns darauf einstellen und uns auf das Mögliche beschränken.

Europa und Rußland - Russisches Selbstverständnis und das Bild von Europa in Rußland

Integration Rußlands in die zivilisierte Welt als Hauptziel

Unser Interesse kann es nicht sein, daß sich in Rußland zwischen den westlichen Ländern eine ruinöse Konkurrenz um Sympathien entwickelt. Vielmehr sollte der Gedanke einer Integration Rußlands in die Weltgemeinschaft im Vordergrund stehen. Es liegt in unserem Interesse, wenn Rußland nach allen Seiten gute Beziehungen pflegt, nicht zuletzt auch zu seinen vielen alten und neuen Nachbarn. Das dient auch der Überwindung der traditionellen Isolierung Rußlands. Ein gutes Verhältnis Rußlands zu den USA liegt ebenfalls in unserem Interesse, auch wenn wir wirtschaftliche Konkurrenten sind.

Nationalstaatsdenken und Nationalstolz

Es gibt einen deutlichen Rückfall in Nationalstaatsdenken in ganz Osteuropa. Rußland ist kein besonders extremer Fall dafür. In Rußland bedeutet das vor allem: ein Denken in Kategorien und Denkweisen der „realistischen Schule der Machtpolitik“, ein Denken, das auch während der kommunistischen Zeit immer vorherrschend war. Das läßt die gerade bei machtpolitischen Fragen oft uneinige EU als wenig attraktiven Partner erscheinen. Bilateral werden die europäischen Staaten häufig in den uns fremd gewordenen Kategorien gesehen, wie sie vor 1945 oder gar im Konzert der Mächte vor 1914 bestanden. Durch ihren ausgeprägten Bilateralismus Rußland gegenüber tragen die Europäer wenig dazu bei, dieses Bild zu korrigieren. Wir müssen erst selbst noch mehr an Europa glauben, wenn wir den Russen die EU als eigene Identität vorstellen wollen.

Auch die deutsche Russlandpolitik war aus meiner Sicht zu sehr bilateral angelegt. Aber die britische Distanz oder die italienische Nähe zu Russland war sicher in der EU nicht konsensfähig.

Der russische Nationalstolz ist für heutige Deutsche oft schwer verständlich. Anders als in Westeuropa war dieser Stolz auf die imperiale Herrschaft gegründet und darauf, daß andere die Sowjetunion gefürchtet hatten. Der Sieg im zweiten Weltkrieg – der für viele Russen schließlich existenzielle Bedeutung hatte, ist ein weiterer Anker für das nationale Selbstbewußtsein. Jetzt kommt es zwar zu einer Rückbesinnung auf religiöse Werte und auf historische Grundlagen aus der Zeit vor dem Bolschewismus, aber der verletzte Großmachtstolz und die resignierende Unsicherheit darüber, ob nicht doch mehrere Generationen „umsonst“ gelebt haben, bilden eine brisante und sehr emotionale Lunte, die sich am Pulverfaß der Probleme russischer Minoritäten jederzeit entzünden kann. Gerade auch auf dem Lande, auf den Kolchosen und Sowchosen, spielt der Nationalstolz eine große Rolle, sei er auch noch so wenig durch wirkliche Leistung abgedeckt. Nationalismus ist ein einigendes Band für die große ländliche Bevölkerung , die sonst so weit von Moskau entfernt ist.

Die geltenden nationalen Symbole sind heute überwiegend noch sowjetische Symbole – die Orden für den großen vaterländischen Krieg, die Auszeichnungen für Planerfüllung und Hochleistungen sind ja in der Vergangenheit erworben. Jelzin versucht, für die Russische Föderation neue Traditionen zu etablieren – ohne die bisherigen abschaffen zu können. Er muß vorsichtig vorgehen, weil trotz großer russische Mehrheit auch Rußland weiterhin ein multinationaler Staat ist, für den eine zu starke Betonung der russischen Nationalität Sprengkraft entwickeln könnte. Aber ich halte eine betont nationalistische Phase für Rußland wie für viele andere ehemalige Sowjetrepubliken für kaum vermeidlich, wobei es darauf ankommt, daß aus der identitätsstiftenden Funktion des Nationalismus nicht eine aggressive Haltung nach außen entsteht.

Haltung zur GUS / zum „nahen Ausland“

Die Zukunft Rußlands in Europa und der Welt wird wesentlich davon abhängen, wie sich das Verhältnis zu den früheren Sowjetrepubliken entwickelt. Heute werden die GUS-Staaten entweder als Fürsorgefälle bevormundet oder geringschätzig behandelt. Rußland verweist auf die Lasten, die es durch andauernde Unterstützung der früheren Republiken der UdSSR trägt. Die Republiken erwarten von Rußland billige Energielieferungen und sehen die an sich ganz normale Forderung nach Weltmarktpreisen als Erpressung und Anschlag auf ihre Souveränität an.

Die GUS-Staaten müssen erst noch lernen, daß staatliche Souveränität nicht Aufhebung der Interdependenz bedeutet und auch nicht aus wirtschaftlichen Abhängigkeiten befreit, sondern viel mehr zwischenstaatlichen Regelungsbedarf erzeugt als vielleicht erwartet wurde. Die Infrastruktur (Elektroenergie, Eisenbahnen, Telekommunikation) wird weiterhin überwiegend von Moskau aus gelenkt.

Die russische Außenpolitik gegenüber dem „nahen Ausland“ nimmt zunehmend hegemoniale Züge an, die mit der Entwicklung gutnachbarschaftlicher und stabiler Beziehungen nicht immer vereinbar sind.

Die russischen Minderheiten können innenpolitisch nicht weniger destabilisierend wirken wie die deutschen Minderheiten im neugeordneten Osteuropa nach den Pariser Vorortsverträgen nach dem Ersten Weltkrieg. Die anderen Republiken können gar nicht anders, als die bisherige herrschende Rolle der Russen zugunsten ihrer Titularnationen langsam abzubauen, wenn sie vor ihren Bevölkerungen bestehen wollen. Die russische Regierung kann die öffentliche Meinung nicht ignorieren, wenn die Behandlung der russischen Minderheiten von nationalistischen Kräften thematisiert wird. Es wird außerordentlicher Anstrengungen bedürfen, diese Konflikte so zu beherrschen, daß sie nicht von Demagogen benutzt werden und zu einer Tragödie für alle Seiten werden.

Der Druck der EU auf die baltischen Regierungen konnte die Spannungen mit den russischen Minderheiten in manchen baltischen Ländern entspannen helfen. Dennoch bleiben die Russen im Baltikum, die sich oft als Bürger zweiter Klasse fühlen, ein Unruhepotenzial.

Das Kernland: Rußland, Ukraine, Weißrußland

In Rußland ist die vollständige Trennung von der Ukraine und Weißrußland nicht wirklich akzeptiert. Auch Jelzin wollte ursprünglich wahrscheinlich nicht die GUS, sondern eine „Slawische Union“ des Kerngebietes Rußland, Ukraine und Weißrußland. Deshalb ist Rußland auch bereit, für die Reintegration von Weißrußland und der Ukraine Opfer zu bringen. Dabei wird heute durchaus noch akzeptiert, daß dies nicht gegen den Willen der jeweiligen Bevölkerungen geschehen soll und daß die entstehenden Strukturen nicht die eines Einheitsstaates oder nicht einmal eine Föderation sind, sondern daß möglicherweise konföderative Strukturen das höchste sind, was erreichbar ist.

In dieser Frage haben extremistische Nationalisten bis heute eine aggressive imperiale Politik befürwortet. Seit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine hat Russland vermutlich die Chance auf ein engeres Verhältnis zur Ukraine als Ganzes endgültig verloren. Selbst konföderative Strukturen sind heute zwischen Russland und der Ukraine kaum noch vorstellbar.

Dies als Reflex einer Nostalgie nach dem früheren Imperium zu sehen, greift viel zu kurz. Große Teile der Ukraine und Weißrußlands sind auch nach eigenem Verständnis durch die gemeinsame Geschichte mit Rußland geprägt. Völlige Eigenständigkeit ist für viele Menschen in den postsowjetischen Republiken ein ganz neues Phänomen. Es ist signifikant, daß die Unterstützung der völligen Loslösung gerade in den Gebieten groß ist, die traditionell nicht zum russischen Reich gehörten, sondern späte Eroberungen waren.

Gewichtige Argumente sprechen für eine enge Verbindung zwischen den drei Staaten. Dazu gehört vor allem das Problem der ethnischen russischen Minderheiten. Die bestehenden Grenzen sind unter historischen und ethnischen Gesichtspunkten künstlich, sie sind auch durch große Wirtschaftsräume oder kulturelle Selbständigkeit nicht sinnvoll zu erklären. Das bedeutet, daß die Staatlichkeit der Ukraine – und auch Weißrußlands – auf schwankendem Boden bleibt, wenn sie ihre Grundlagen in einer ethnisch-nationalen Identität sucht.

Solche Gemengelagen sind sehr konfliktträchtig (siehe Krim, Ostukraine). Je weiter die Staaten voneinander entfernt sind, desto brisanter werden die Auswirkungen möglicher ethnischer und territorialer Konflikte. Der beste Weg, solche Konflikte einzuhegen, ist es, die Grenzen einerseits sicher und anerkannt, andererseits für die Menschen so unbedeutend wie möglich zu machen. Das ist nur möglich durch einen gewissen Souveränitätsverzicht bis hin zu konföderativen Strukturen. Eine völlig auseinanderlaufende Wirtschaftspolitik würde die Grenzlinien eher noch verfestigen.

Diese Einschätzung ist durch die Ereignisse überholt worden. Die Konfliktzonen Krim und Ostukraine sind so nicht mehr zu entschärfen. Neue Ansätze könnten sich erst nach längerem Abstand zu den Ereignissen entwickeln.

Es gibt auch starke Gründe gegen solche enge Verbindung mit Rußland. So bleibt offen, ob Rußland dazu fähig sein wird, seine hegemoniale Rolle gegenüber Weißrußland und der Ukraine so weit zurückzustellen und zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zu finden, daß ein Souveränitätsverzicht nicht für den Bestand der Staaten selbst bedrohlich wird. Gerade die Betonung militärischer Integration kann von den Nachbarn als Bedrohung ihrer Existenz empfunden werden.

Es ist auch offen, ob die Ukraine (und vielleicht auch wieder Weißrußland) nicht aus dem Reflex der Bedrohung ihrer Souveränität heraus in Zukunft eher wieder mehr Abgrenzung von Rußland ansteuern werden. Die Tendenzen gehen meiner Ansicht nach eher in diese Richtung. Der Idealfall der größeren Integration scheitert am gegenseitigen Mißtrauen und am schieren Übergewicht des großen russischen Bären.

Es hat sich inzwischen gezeigt, dass Russland unfähig zu einer wirklich partnerschaftlichen Beziehung war. Der Machtreflex war stärker. Russland selbst hat dafür gesorgt, dass weder die Ukraine noch Weißrussland große Lust verspüren, vom russischen Bären umarmt zu werden.

Der Sonderfall: Kasachstan

Kasachstan hatte spätestens seit der Neulandkampagne der fünfziger Jahre fast seine nationale Identität verloren. Der russische und slawische Bevölkerungsanteil wuchs schnell, die Kasachen gerieten in die Minderheit. Die ethnische Grenze stimmt auch heute nicht mit der Staatsgrenze überein. Zwar haben die Kasachen dank hoher Geburtenraten und seit 1990 auch russischer Emigration wieder eine Mehrheit, aber ohne den großen russischen Bevölkerungsteil, aus dem sich die Mehrzahl qualifizierter Arbeiter und Techniker rekrutiert, ist Kasachstan vorerst nicht lebensfähig. Nasarbajew weiß das und versucht eine enge Anbindung an Rußland bei Erhaltung der Souveränität zu erreichen. Die Russen haben die Kasachen bisher abblitzen lassen. Zuerst wurden sie bei GUS-Gründung nicht eingeladen, dann aus der Währungsunion herausgedrängt.

Es besteht der Eindruck, daß Kasachstan nur ein Status als wichtigster Klientelstaat ohne volle Gleichberechtigung zugestanden wird. Kasachstan wird nicht darum herumkommen, dies zähneknirschend zu akzeptieren, weil die übrigen Auswege – Annäherung an die Türkei oder den Iran und Union der mittelasiatischen Staaten das Gewicht Rußlands nicht balancieren können und die große russische Minderheit sonst zum Gegenstand ständiger Konflikte werden könnte.

Hier war meine Einschätzung zu pessimistisch. Kasachstan hat sich weit mehr Spielräume erworben als damals absehbar war. Dazu hat sicher auch der Ressourcenreichtum des Landes beigetragen. Nasarbajew hatte Russland geschickt umworben und zugleich auf Distanz gehalten.

Die Peripherie (Moldau, Kaukasus, Tadschikistan, Baltikum)

Die Peripherie Rußlands wurde traditionell als Einflußgebiet Rußlands gesehen, gleich ob nun innerhalb oder außerhalb des russischen oder sowjetischen Staatsverbandes. Das Baltikum und der Zugang zur Ostsee ist solange und deshalb als selbständiges Gebiet akzeptabel, wie es keine Rußland feindlich gesonnene Macht (historisch Polen und Schweden, später Deutschland) gibt, die dieses Gebiet gegen Rußland mobilisieren könnte. Deshalb wird sich Rußland auch ein Minimum an Mitspracherechten in den baltischen Staaten sichern wollen. Solange es ein gutes Verhältnis Rußlands zum Westen gibt, sollten die Probleme mit den russischen Minderheiten im Baltikum lösbar sein. Sollte sich dieses Verhältnis verschlechtern, dürfte auch der Druck auf das Baltikum steigen.

Mit dem NATO-Beitritt der baltischen Staaten hat sich der russische Druck etwas vermindert, hält aber weiter an. Es ist wichtig, dass die NATO eine glaubwürdige Strategie auch gegen Formen der Subversion, des Cyberwar und unorthodoxe Formen der Kriegführung gerade auch im Baltikum verfolgt. Russland muss wissen, dass Krieg gegen das Baltikum Krieg gegen die ganze NATO bedeutet.

Die südliche Peripherie war immer schon durch Instabilität gekennzeichnet, solange nicht ein mächtiger Hegemonialstaat als Ordnungsmacht auftrat. Rußland möchte vermutlich vermeiden, daß irgendwelche anderen, potentiell als gefährlich eingestuften Staaten als neue Ordnungsmächte in dieser Region aktiv werden.

In der -richtigen- Einschätzung, daß die USA und Westeuropa dort keine wirkliche Rolle spielen können und wollen, wird versucht, den Westen für die Anerkennung einer russischen Rolle als Ordnungsfaktor zu bekommen. Diese Anerkennung wird nicht von der Türkei (Shirinowski spricht nur aus, was viele denken: daß die Türkei letztlich doch ein islamischer Drohfaktor für den Balkan und den Südrand Rußlands bleibt) und nicht vom Iran oder Pakistan (und dessen Satelliten in Afghanistan) erwartet, sondern vom Westen. Die Westeuropäer mögen theoretische Diskussionen darüber führen, für Rußland wäre eine iranische oder türkische Einflußzone an seinen Grenzen eine Entwicklung, die Ängste weckt.

Der Westen hat diese strategische Dimension vernachlässigt. Russland hat das Thema in eigene Hand genommen und die Türkei u.a. von Syrien aus, den Iran durch eine flexible Politik neutralisiert. Auch in der Republik Moldau hat Moskau einen starken EInfluss behalten, nicht zuletzt durch die anhaltende Unterstützung der Separatisten in Tiraspol.

Das traditionelle Bestreben Rußlands, seine Verteidigung immer so weit vom russischen Kernland wie möglich entfernt zu organisieren, war ein wichtiger Faktor für die Entstehung des russischen und sowjetischen Imperiums. Die Absicht, vor allem an der Südgrenze der GUS als Ordnungsmacht handlungsfähig zu bleiben ist also durchaus ein Reflex, der imperialistische Züge in sich birgt.

Das Problem ist aber, daß Rußland zur Stabilisierung seiner Randgebiete nicht ganz auf solche Funktionen verzichten kann, so daß die entscheidende Frage eher ist, ob es bei einem defensiven Ansatz bleibt (z.B. in Tadschikistan) oder ob offensiv-expansionistische Züge dieser Haltung um sich greifen, die durchaus ihre Anhänger haben (siehe Abchasien). Auch ist wichtig, ob Rußland dazu das Einvernehmen der Weltgemeinschaft sucht oder in traditionellen Unilateralismus zurückfällt.

Diese Fragen sind vorerst beantwortet: Russland verhielt sich aggressiv (wenn auch nicht unprovoziert) gegenüber Georgien und schuf in Südossetien einen zweiten Klientelstaat auf Kosten Georgiens.

Parallelen zu Weimar 1919

Wenn wir uns auf die deutsche Geschichte in der Zeit nach dem Versailler Vertrag besinnen, so gibt es in dieser Hinsicht viele Parallelen zum heutigen Russland. Die Landkarte Osteuropas war damals neu gezeichnet worden. Viele Nationen bildeten sich erst an Stelle der früheren multinationalen Gebilde Österreich-Ungarn und in geringerem Maße auch Deutschland.

Für Rußland bleibt folgendes zu bedenken: Jegliche gut gemeinte Empfehlung, mehr Integration nach westeuropäischem Vorbild anzustreben, stößt auf Zustimmung zuerst bei denen, die dem alten Imperium nachtrauern. Die westeuropäische Integration begann, als erkannt wurde, welches Leid und welchen Niedergang Europas der Nationalismus mit sich gebracht hatte. Auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion sind wir eher in einer historischen Phase wie nach den Befreiungkriegen gegen Napoleon, wo die Besinnung auf die Nation als Befreiung vom Imperium, nicht als Fessel der gegenseitigen Antagonismen verstanden wurde.

Außerdem müssen wir vorsichtig sein mit der Übertragbarkeit der europäischen Verhältnisse auf das postsowjetische Rußland. Die EU konnte sich nur entwickeln, weil kein Staat ein Übergewicht hatte, das nicht von anderen ausgeglichen werden konnte. Die Verknüpfung war interdependent. Rußland wäre in jeglicher Konstellation ein hegemoniales Zentrum, die Verküpfung mit den anderen Staaten wäre dependent.

Wir müssen anerkennen, dass die osteuropäischen Staaten recht hatten, wenn sie den Vergleich der russischen Integrationsbemühungen mit denen der EU strikt ablehnten. Die russische „Integration“ ist imperial, die der EU beruht auf der Gleichberechtigung der Mitglieder.

Es führt fast immer zu politischen Fehlern, wenn Verhältnisse aus einer Sphäre in eine andere übertragen werden. Was in Westeuropa Selbstbestimmung heißt, wird von Russland als separatistischer Sprengstoff in bestehenden Nationen missbraucht. Wenn der Westen leichtsinnig die „humanitäre Intervention“ als zulässig ansieht – und nicht wie früher als Einmischung, dann reagiert Russland mit „humanitären Interventionen“, bei denen es selbst definiert, was humanitär ist und welche russische imperiale Einmischung damit gerechtfertigt werden kann.

Es gibt viele Politikwissenschaftler, die das „Westfälische System“ der Nationalstaaten, die sich die Waage halten und sich nicht in jeweilige innere Angelegenheiten einmischen, für überholt erklären. Dabei begehen sie den Fehler, die immer wieder vorkommenden Verletzungen des Nichteinmischungsgebotes zur neuen Norm zu erklären. Russland hat aus dieser „neuen“ Völkerechtsdoktrin jedenfalls den Schluss gezogen, dass es sich bei seinen Nachbarn und inzwischen weit darüber hinaus selbstverständlich einmischen darf.

Natürlich ist das kein Argument gegen eine engere Kooperation Rußlands mit seinen Nachbarn, aber jede solche Kooperation steht unter der Bedingung, daß sie von den Juniorpartnern nicht als Last empfunden wird. Dies ist mit dem großen Rußland als Partner fast nicht zu machen, denn dazu gehört ja nicht nur gegenwärtiges Wohlverhalten, sondern auch die Erwartung, daß dies auch in Zukunft so bleibe. Deshalb sind Verbindungen möglicherweise besser über die neuen russischen Regionen zu entwickeln als über den russischen Zentralstaat.

Wir kennen regionale Ansätze zur Zusammenarbeit z.B. des Smolensker Oblast mit Weißrußland und Litauen, hier können auch alte Verbindungen genutzt werden, die auf dem Niveau der Zentrale nur zur Wiederbelebung sowjetischer Lenkungsansprüche führen würden.

Das Vorbild der europäischen Integration bleibt auch für Rußland interessant, aber wir müssen sehen, daß dafür erst noch die Voraussetzung entstehen muß, nämlich gleichberechtigte und gleichgewichtige stabile Beziehungen auf neuer Grundlage unter Überwindung der alten aus der Sowjetzeit stammenden nicht ökonomisch sondern politisch begründeten Abhängigkeiten (z.B. durch die bewußt Abhängigkeiten schaffenden sowjetischen industriellen Standortentscheidungen).

Europa-Orientierung oder Vorrang für USA

In Rußland gibt es eine starke Tendenz, das Gespräch mit den Europäern zu suchen. Noch stärker allerdings ist der Drang, sich mit den USA zu vergleichen und sich an dem großen amerikanischen Antagonisten und Vorbild zu orientieren. Das hat auch viel damit zu tun, daß der Anspruch, als Großmacht behandelt zu werden, in erster Linie an dem Verhalten der USA manifest wird. Daher auch die sehr empfindliche Reaktion, wenn Rußland nicht beteiligt wird, wo immer die USA involviert sind. Die Einsicht, daß Europa der wichtigste Partner Rußlands bei seiner zukünftigen Entwicklung ist, ist nur theoretisch vorhanden, sie wird nicht in praktische Politik umgesetzt. Die außenpolitischen Denkweisen russischer Eliten sind noch viel zu sehr in Begriffen militärischer Machtprojektionen befangen als daß sie den wirtschaftlichen Großmachtstatus der EU mit allen daraus resultierenden Konfliktgefahren für Rußland schon realisiert hätten.

Die EU wird inzwischen von Russland ernster genommen, vor allem, seit das Kooperationsabkommen der EU mit der Ukraine zum Streitobjekt wurde. Allerdings ist es weniger das Eigengewicht der EU, das Russland fürchtet, als die angenommene Automatik, dass ein EU-Beitritt immer auch einen NATO-Beitritt bedeuten könnte. Das traf auf die traditionellen „Neutralen“ wie Finnland, Schweden, Österreich und (aus anderen Gründen) Irland zwar nicht zu, aber die osteuropäischen ehemaligen Satelliten der Sowjetunion und die baltischen Staaten traten ja alle erst der NATO und dann der EU bei. Das Drängen der USA, die einen Beitritt der Ukraine und Georgiens zur NATO unterstützten, verunsicherte Moskau erheblich.

Die schon 1995 getroffene Annahme, dass es bei einem aggressiven Verhalten Russlands zu weiteren NATO-Beitritten kommen könne, schien sich zu bewahrheiten. Deutschland und Frankreich stellten sich auf dem NATO-Gipfel in Bukarest einer stärkeren Integration der Ukraine in die NATO entgegen – nicht, weil die Ukraine nicht das Recht hätte, der NATO beizutreten, sondern weil so ein Beitritt nur vernünftig ist, wenn er von der Bevölkerung voll unterstützt wird und wenn die NATO-Staaten alle bereit sind, bei einem russischen Vorgehen gegen die Ukraine mit allen Mittel der NATO militärisch gegen Russland vorzugehen. Solange es an dieser Bereitschaft Zweifel gab, war ein Beitritt ein Risiko für die Glaubwürdigkeit der NATO. Die russischen Eliten wussten aber 1995, dass sie mit einem imperialen Ausgreifen auf die Ukraine am Ende doch noch den NATO-Beitritt herbeiführen können – heute scheint das vergessen zu sein.

Das russische Selbstbewußsein und die Angst vor „Asien“

„Das russische Selbstbewußtsein“ gibt es nicht mehr – dazu hat sich die Gesellschaft zu sehr differenziert, wenn nicht sogar fragmentiert. Die sich an geografischen Begriffen festmachenden ideologischen Strömungen von Westlertum bis zum Eurasismus sind ernst zu nehmen. Auch irrationale Strömungen können politisch sehr mächtig werden. Sie beruhen aber nicht auf Tatsachen, sondern auf Stereotypen und Autostereotypen. Was in der russischen politischen Kultur als „asiatisch“ bezeichnet wird, hat häufig einen pejorativen und rassistischen Beigeschmack. Tatsächlich ist eine genuin asiatische Kultur in Rußland nie ein wichtiger Faktor gewesen.

Die Tatarenherrschaft war ein Phänomen sui generis – eine Despotie Tribut erzwingender nomadischer Steppenvölker, die über China übrigens zu Zeiten Kublai Khans ebenso als Fremdherrschaft hereingebrochen war wie über Rußland und Zentralasien. Untersucht man nüchtern die Nachwirkungen, dann ist spätestens im neuen Rußland eher eine Europäisierung der Tataren als eine Tatarisierung Rußlands eingetreten. Das „asiatische Element“, mit dem die sich selbst so nennenden „Eurasier“ in Russland begründen, dass Russland ganz anders als Europa sei, ist eine Fiktion!

Asien ist außer Konkurrenz. Damit vergleicht man sich in Rußland nicht. Dabei spielt sogar noch ein latentes Überlegenheitsgefühl gegenüber Asiaten mit, das aus der jahrhundertelangen Beherrschung asiatischer Völker resultieren dürfte. Diese Haltung wird auch eingenommen, obwohl zugleich japanische und koreanische Waren von billigen Textilien bis zu teurer Unterhaltungselektronik russischen und selbst westeuropäischen Konsumgütern vorgezogen werden. In Sibirien und Fernost sucht man sogar bewußt auch die europäische Präsenz zu fördern, weil die vermeintliche „gelbe Gefahr“ weiterhin in den Köpfen spukt.

Inzwischen bleibt Russland gar nichts anderes übrig, als den Aufstieg Chinas zur Weltmacht zur Kenntnis zu nehmen. Anders als in den fünfziger Jahren ist Russland auch in Friedenszeiten nur noch Juniorpartner der Chinesen. Man hat sich inzwischen damit arrangiert und versucht die Beziehungen zu China und den anderen Staaten Asiens enger zu gestalten – aber es bleibt die schmerzliche Frage, warum Russland es nicht schafft, etwas von der Dynamik Asiens zu übernehmen.

Russen sehen sich als Europäer – trotz ihrer nationalen Minderheiten

Die Russen sehen sich eindeutig als Europäer – auch wenn sie in Sibirien oder dem Fernen Osten leben. Der Begriff Europa wird mehrschichtig verwendet. Zum Teil wird er einfach als die „zivilisierte Welt“ angesehen, zum Teil als die weiße Welt (Vereinigung der „ersten“ und „zweiten“ Welt gegenüber der mit gewissem kolonialen Hochmut betrachteten „dritten“ Welt). Europäisch ist nicht Kleineuropa nach Muster der EU, sondern das transatlantische (oder sollte man sagen zirkumpolare) Europa, zu dem politisch auch die USA und Kanada gezählt werden. Das Schlagwort vom „Europa vom Atlantik bis zum Ural“ hat eigenartigerweise auch in Rußland seine Anhänger, wobei die Gebiete jenseits des Ural stillschweigend mit zu Europa gezählt werden.

Nähe zur europäischen Kultur

Zugleich wird eine große kulturelle Nähe zu Westeuropa empfunden, während die USA vor allem bei der älteren Generation als kulturlos gelten (das soll es ja auch bei uns geben).

Vor allem Deutschland gilt als Prototyp der europäischen Kultur. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, daß die kulturellen Verbindungen zwischen West und Ost vor allem über Deutschland vermittelt wurden. Die großen russischen Kulturpersönlichkeiten wie Puschkin, Turgenjew, Tschaikowskij oder Lomonossow werden nicht zu Unrecht als Teil des europäischen Geisteslebens ihrer Zeit empfunden, zu dem Rußland einen großartigen und eigenständigen Beitrag geleistet hat. Und es waren nicht zuletzt Deutsche, die in Rußland selbst oder von Deutschland aus Generationen von russischen Intellektuellen beeinflußt haben.

Jugendkultur ist „westliche Weltkultur“

Die russische Jugend ist heute auf die USA ausgerichtet und nimmt Europa als Teil der modernen Weltkultur, die von Amerika bestimmt wird, wahr. Hier findet das Bild von der „zivilisierten Welt“ ein Gegenstück in der einheitlichen westlichen Subkultur, zu der junge Russen sich hingezogen fühlen. Eine Orientierung z.B. an orientalischen oder gar asiatischen Vorbildern gibt es – jedenfalls bei der ethnisch russischen Bevölkerung – nicht (wobei aus dem Osten kommende esoterische Bewegungen wie Hare Krishna, Gurus oder Meditationsbewegungen auch Rußland schon erreicht haben – meist als Reimport aus dem Westen).

Mit dem Schwinden der Hoffnung, daß es in Rußland in absehbarer Zeit zu besseren Zukunftsaussichten kommt, wächst die Bereitschaft zur Auswanderung. Das Idealbild für das Land, in dem man leben möchte, ist heute in Rußland durch die USA geprägt. Danach dürfte gleich Deutschland kommen, das außerdem leichter erreichbar ist. Dies bedeutet nicht, daß sich solche Träume auch gleich umsetzen müssen. Familiäre und emotionale Bindungen an Rußland bleiben stark. Aber auch diese Träume sind Teil der kulturellen Prägung, die sehr westlich ist.

Inzwischen gehören russische Zuwanderer zum Stadtbild von Berlin, London ist eine Oase für russische Oligarchen und ihr Geld geworden, an spanischen Stränden hört man oft auch Russisch. Es stimmt mich für die weitere Entwicklung optimistisch, dass viele Russen den Westen kennen und oft auch familiäre Bindungen dorthin haben. Das macht es den Machthabern schwerer, mit den simplen Feindbildern der sowjetischen Vergangenheit Politik zu machen. Allerdings bleibt der Nationalismus eine ernst zu nehmende Gefahr.

Besorgt macht mich, dass eine aus meiner Sicht fehlgeleitete Asylpolitik in Deutschland – anders als bis in die siebziger Jahre – Angehörigen gewalttätiger Organisationen den Schutz des politischen Asyls gewährt, darunter auch tschetschenischen Terroristen. Damit wird die Auseinandersetzung nach Deutschland verlagert, wo Russen und Tschetschenen sich nicht scheuen, ihren Krieg auf deutschem Boden auszutragen. Russland neigt dazu, jeden Gegner der russischen Politik als Terroristen zu bezeichnen. Deutsche Gerichte hingegen neigen dazu, die Bezeichnung „Terrorist“ nicht anzuwenden, bevor die Bereitschaft zum Töten durch Anschläge und Morde bewiesen wird.

Rückbesinnung auf religiöse und nationale Werte

Die im Grunde sehr materialistisch bestimmte Jugendkultur bietet wenig Orientierung und kommt dem Bedürfnis nach Bindung und Geborgenheit nicht entgegen. Nicht anders als im Westen geht daher parallel zur Ausbildung der allgemeinen Konformität eine Rückbesinnung auf Religion und traditionelle Wertorientierungen vor sich, die sich in Rußland zu einem Teil an den vorgefundenen Traditionen von Kirche und Geschichte festmacht. Es ist kein Widerspruch, wenn einerseits junge Leute ihren Lebensstil amerikanisieren und andererseits (anders als mancher gewendeter Parteifunktionär) sich mit Inbrunst der orthodoxen Religion widmen und die Geschichte als russische Nationalgeschichte neu interpretieren.

Die Auseinandersetzungen mit und innerhalb der klassischen russischen Literatur werden heute erneut gelebt als seien sie hochaktuell. Die Figur des Netschajew aus Dostojewskijs „Dämonen“ lebt weiter, antiwestliche und antizivilisatorische Tendenzen gibt es in alter (kommunistischer) und neuer (eurasischer) Verkleidung.

Inzwischen hat sich die russisch-orthodoxe Kirche – damals noch unter starkem Einfluss von eingeschleusten ex-KGB-Offizieren – zu einem einflussreichen politischen Faktor entwickelt. Die russische Kirche ist nationalistisch, reaktionär und ultrakonservativ – kein positiver Faktor für eine weltoffene Gesellschaft, aber zugleich doch ein integrierender Faktor für die Nation.

EUROPA aus der Sicht Rußlands: Beziehungen zur Europäischen Union und Deutschland

Russische Politiker und Meinungsführer haben ein Bild von der EU, das vielleicht nicht dem entspricht, wie wir uns als Europäer gerne selbst sähen. Allerdings beruht dieses Bild durchaus auf der Perzeption von Tatsachen und nicht einfach auf mangelnder Kenntnis oder auf Vorurteilen. Wichtige Punkte für das Bild Europas in diesen Kreisen sind:

Westeuropa greift aus nach Osteuropa und Teile der GUS

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums hat aus russischer Sicht sofort zu einem Vorschieben westeuropäischer Interessen nach Osten geführt. Die Eigeninteressen der Osteuropäer, die dies weitgehend nur als Rückkehr zu ihren natürlichen Partnern ansehen, wurden dabei leicht übersehen. Die Diskussion um einen neuen Cordon Sanitaire gegen Rußland, die in Osteuropa, aber auch im Westen geführt wurde, hat die Russen alarmiert. Sie verstehen nicht, warum sie jetzt – wo sie beschlossen haben, der zivilisierten Welt anzugehören – wieder mit Mißtrauen beobachtet werden.

Das Misstrauen gegenüber den russischen Absichten ist vor allem in Polen und in den baltischen Staaten ausgeprägt. Es beruht auf langen historischen Erfahrungen, die dadurch befeuert werden, dass Russland offensichtlich die eigenständige Politik dieser Länder nicht einfach akzeptiert. Das geopolitische Denken in Einflusszonen und Machtprojektionen sieht alles zwischen Deutschland und Russland als Objekte eines geopolitischen Schachspiels an – bei dem die USA die Hauptrolle spielen.

Polen leistet sich unter der PiS-Regierung eine Distanzierung von Deutschland und Russland zugleich. Wenn dann noch die Entwicklung zu einem autoritären Regime droht, könnte Polen bald wieder isoliert sein. Nur durch die Zugehörigkeit zur EU kann Polen sich das leisten, ohne damit sofort eine Annäherung zwischen Deutschland und Russland zu provozieren.

Der gefährlichste Zustand für Deutschland und den ganzen Westen kann eintreten, wenn die Ukraine – mehr durch eigene Fehler als durch russische Einwirkung – zerfallen sollte. Rußland wird sich nur schwer der Forderung der Bevölkerungen der Krim und der Ostukraine entziehen können, wenn diese durch Referenden den Wunsch äußern, auf friedliche Weise ‚heim ins Reich‘ geholt zu werden.

Wir sollten uns mit größter Vorsicht aber unter Durchdenken aller möglichen Varianten auf eine solche Situation vorbereiten, um nicht unvorbereitet unbedachte Schritte zu tun. So ist es richtig , hier und heute auf der Staatlichkeit der Ukraine zu bestehen. Wir müssen aber die Ukrainer mehr noch als bisher darauf aufmerksam machen, daß sie selbst mehr tun müssen, um die Legitimität ihrer Staatsbildung zu festigen, z.B. durch deutlich ausgeprägte föderale Strukturen.

Für den Fall, daß die Ukrainische Regierung nicht mehr Herr der Lage bleiben sollte, müssen wir zuallererst vermeiden, in einen öffentlichen Gegensatz zu unseren westlichen Verbündeten zu geraten. Sonst gefährden wir unsere eigene Sicherheit. Dann aber sollten wir innerhalb des Westens für Verständnis dafür werben, daß die früheren administrativen innersowjetischen Grenzen nicht auch dann noch zum Heiligtum erklärt werden können, wenn die Ukrainer selbst sie durch Intransigenz aufs Spiel setzen.

Die Selbständigkeit der Ukraine sollte politisch und wirtschaftlich so lange wie möglich unterstützt werden, wir können sie aber als Westen nicht garantieren, wenn die Russen in der Ukraine nicht dafür gewonnen werden können, als gleichberechtigte Angehörige einer ukrainischen Föderation zu leben. Jede Lösung, die einen „Anschluß“ an Rußland von Ostukraine und Krim vermeidet, sollte uns lieb sein, aber wenn damit ein Bürgerkrieg vermieden werden kann, darf auch dies kein Tabu sein.

Diese Auffassung war von dem Verhalten der Regierung Kutschma geprägt, die wenig dafür tat, die Eigenständigkeit der Ukraine zu sichern. Die Revolution am Maidan hat die Lage verändert. Russland wählte den gewaltsamen Weg hybrider Kriegführung, um die Ukraine zu destabilisieren. Damit sind genau die Bruchstellen Krim und Ostukraine zum Tragen gekommen, die ich erwähnt hatte.

Bisher ist der Konflikt um die Krim und in der Ostukraine nicht entschärft. Die Rolle Deutschlands und Frankreichs ist dort stark gewachsen. Die Unabhängigkeit der Ukraine ist für die EU wichtiger, denn je.

Das russische Streben nach Mitsprache in Osteuropa werden wir auch zum Ärger unserer osteuropäischen Partner akzeptieren müssen. Wir sollten aber die Mitsprache an verantwortungsvolle Mitwirkung im Rahmen europäischer Strukturen binden, innerhalb derer Rußland kein Vetorecht zusteht, sondern nur Teilhabe an Konsultationen. Wir müssen Rußland klarmachen, daß es als gleichberechtigter Teil Europas gehört werden soll und muß, daß es aber als Hegemon nicht willkommen ist. Dieser Ansatz fällt den bisherigen russischen Eliten schwer – selbst nur beschränkt handlungsfähig zu sein, gehört nicht zum Denken einer Großmacht.

Russland ist in seiner jetzigen Verfassung nicht mehr zu einer „Mitsprache“ in Osteuropa fähig. Formen verantwortlicher Mitsprache in Form von Konsultationen hat Russland selbst verworfen und stattdessen auf hegemoniale Ansprüche gesetzt. Das fordert Gegenbewegungen heraus, die uns in der EU herausfordern.

Westeuropa grenzt Rußland aus?

Der Vorwurf der mißachteten Liebe wird immer wieder erhoben. Europa grenze Rußland aus, heißt es. Nun ist Rußland auch nach eigenem Verständnis zwar ein Teil Europas, aber zugleich auch mehr als das. Und wenn russische Politiker in Asien Reden halten, betonen sie mit Selbstverständlichkeit den Charakter Rußlands als Großmacht in Asien. Auch in Rußland weiß man im Übrigen, daß der Brocken Rußland für Westeuropa nur verdaulich ist, wenn er sich nicht zu groß gebärdet (wo er es doch schon ist).

Wir sollten als Europäer und EU aber die verbindenden Elemente bewußt betonen und das Trennende und das Unverdauliche nicht ständig an die große Glocke hängen. Rußland kann an vielen europäischen Veranstaltungen problemlos teilnehmen. Wir müssen darauf achten, den Russen das Gefühl zu geben, sie werden angehört und ihre Sorgen werden bei unseren Entscheidungen national und als EU berücksichtigt. Zugleich muß klar sein, daß dies auf Gegenseitigkeit beruht, getreu der in Rußland so gängigen Formel von den gegenseitig nützlichen Beziehungen. Am ehesten wird das Gefühl der Ausgrenzung vermieden, wenn russische Partner so häufig wie möglich und auf möglichst vielen Ebenen ständig Europäern der EU in einem Dialog gegenübersitzen müssen. Damit wird die russische Seite auch daran gehindert, sich alter russischer Tradition gemäß unangenehmen Fragen eher zu entziehen als sie zu diskutieren, sich eher zu isolieren als Gespräche mit dem Ziel von Kompromissen zu führen.

Das gilt heute eher noch mehr als 1995! – Russland muss ständig engagiert werden, es muss auch unangenehme Themen ständig zu hören bekommen, ohne Eifer, aber mit Beständigkeit, ohne Drohungen, aber mit Festigkeit. Irgendwelche Isolierung Russlands von Dialogforen halte ich nicht für sinnvoll – wohl aber sollte man keineswegs davor zurückscheuen, Russland Vorteile der Zusammenarbeit zu entziehen, wenn es glaubt, diese seien mit einer aggressiven Politik vereinbar. So halte ich die Wirtschaftssanktionen nach den Annexion der Krim für richtig, den Ausschluss aus den G7/G8 aber nicht.

Bei allen Sanktionen muss allerdings immer bedacht werden, dass sie letztlich ein Ziel haben müssen: zu einer Einigung über die Lösung der zugrunde liegenden Konflikte zu kommen. Selbst zur Zeit des Kalten Krieges gab es immer Kooperation in Zeiten der Konfrontation.

Westeuropa als protektionistische Festung

Obwohl die EU Rußland generalisierte Präferenzen gewährt hat und insgesamt seine Märkte mehr geöffnet hat als andere Welthandelspartner Rußlands, bleibt doch das Image der EU als protektionistische Festung. Das liegt daran, daß gerade die Einzelfälle, wo Dumpingsvorwürfe erhoben werden (Aluminium, Uran), wo die EU Begrenzungen aufrechterhält (Agrargüter, Textilien, Stahl, Kohle, Raketenstartdienste) Rußland dort treffen, wo es seine eigenen Entwicklungschancen sieht.

Damit ist auch die Furcht verbunden, die EU könne und wolle jederzeit ihren Markt auch für beliebige andere Güter wieder schließen, sobald Rußland nur konkurrenzfähig geworden sei. Daher auch das Bestreben, sich im PKA gegen solche zusätzlichen Beschränkungen abzusichern. Die russischen Sorgen sind nicht unbegründet, werden aber nicht durch Abkommen gelöst werden können, sondern nur durch einen andauernden Dialog über die kritischen Fragen der Handelspolitik. Das Auslaufen der generaliserten Präferenzen in den kommenden Jahren wird die Debatte über den Marktzugang Rußlands zur EU wieder beleben.

Auf beiden Seiten hat sich wieder eine statische Denkweise breit gemacht. Russland vergisst, dass es die EU durchaus positiv beeinflussen kann, wenn es sich kooperativ verhält. Russland selbst reagiert heftig, wenn andere auf aggressives Verhalten mit gleicher Münze reagieren. Auch in der EU – und noch mehr in den USA wird viel zu schnell das Bemühen aufgegeben, die andere Seite für sich zu gewinnen und auf win-win-Situationen hinzuarbeiten. Es reicht nicht, den Verlust des Vertrauens zu beklagen, sondern es geht darum, neues Vertrauen aufzubauen.

Westeuropa als strategisch unentschieden und schwach, von USA abhängig

Die politische Union Europas gilt in Rußland als kleine Münze. Das Beispiel Bosnien gilt nicht gerade als Ausweis der Stärke der EU und ihrer GASP. Die Russen gehen hier von einem machtpolitischen Ansatz aus und vermuten eine weit stärkere Rolle der USA als Hegemon hinter den Kulissen als dies wirklich der Fall ist. Deshalb wird auch mit der EU als ganzer nicht wirklich politisch gesprochen, als Partner gelten vielmehr neben den USA höchstens noch Deutschland, Frankreich und Großbritannien.

Bosnien war kein Ruhmesblatt für die Westeuropäer.

In Frankreich und Großbritannien fühlte man sich immer noch für das künstliche Gebilde Jugoslawien verantwortlich, dass die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen hatten. Nachdem Tito es nicht mehr zusammenhielt, zerfiel es durch den auferstandenen Nationalismus in viele Nationalstaaten.

Es hatte Russland tief getroffen, dass es an der Neuordnung des Balkans nicht wirklich beteiligt war. Ein mächtiges Russland (so wie Putin es versteht) hätte das nicht geduldet.

Deshalb ist es heute so wichtig, den Westbalkan langfristig zu stabilisieren. Als probates Mittel dafür galt lange der EU-Beitritt. Die Entwicklungen in Ungarn und Polen, die anhaltenden Fehlentwicklungen in Bulgarien und Rumänien, haben den Appetit auf Erweiterungen drastisch reduziert.

Die Integration des Westbalkans, also Serbiens, Bosniens, Montenegros, Nordmazedoniens, Albaniens und irgendwie auch des Kosovo, könnte die Europäische Union in ihrer bestehenden Verfassung in die Luft sprengen. Eine Anpassung der Stimmenverhältnisse im EP und im Rat, eventuell auch in der EZB (wo sonst eine Mehrheit für Selbstbedienung entstehen könnte), klare Sanktionen bei Regelverstößen, und mehr Kompetenzen für Brüssel, und wohl auch eine EU der zwei Geschwindigkeiten, sind unumgänglich, wenn die Erweiterung funktionieren soll. Ich halte den Beitritt des Westbalkan zur EU aus strategischen Gründen für unerlässlich, damit der Balkan nicht zum Schlachtfeld eines neuen Kalten Krieges mit Russland wird, ich halte die EU-Reformen genau deshalb ebenfalls für sehr dringlich.

Wenn die EU hier an Profil gewinnen will, sollten Fragen der GASP mit der russischen Seite auch in Form des offenen Dialogs zur Meinungsbildung vor möglichen Entscheidungen mehr besprochen werden und nicht erst in formeller Weise nach Beschlüssen des Rates. Dafür können alle Varianten von Präsidentschaft allein über Troika bis zur Runde der fünfzehn Staaten genutzt werden.

Was bedeutet die EU für die russische Bevölkerung

Die führenden Leute im Außenministerium und in den politischen Instituten wissen natürlich um die wichtige Rolle der EU. Doch das setzt sich keineswegs in konsistente Politik um.

Für den Mann auf der Straße wird die EU oft nur mit Fleischversorgung in Notzeiten und Visa-Problemen bei Reisen assoziiert. Von politisch besser informierten Russen wird die EU zu einem guten Teil mit Deutschland, Frankreich und England identifiziert, ohne daß die spezifisch gemeinschaftbildenden Spezifika der EU begriffen werden.

Dieser Bilateralismus wird auch im politischen Handeln immer wieder ersichtlich. Alle Integrations-Gemeinschaften weltweit werden von der russischen Außenpolitik immer zuerst daraufhin geprüft, wer sie hegemonial bestimmt. Die EU hat kulturell keine Konturen: es gibt deutsche, französische oder allenfalls amerikanische Kultur, aber keine Kultur der EU – wenn es eine gesamteuropäische Kultur gibt, dann gehört die russische Kultur dazu. Politisch ist die EU ein Eunuch: Ob in Bosnien oder Somalia, die EU wird als Anhängsel der nationalen Politiken der großen Mitgliedsstaaten angesehen.

In Fragen der Sicherheitspolitik zählt die NATO – und dort wiederum eigentlich nur die USA als Hegemon. Nur wirtschaftlich ist die EU eine zu berücksichtigende Größe. Auch hier ist russischen Partnern aber häufig der bilaterale Partner vertrauter als das Abstraktum EU. Da wird einerseits angestrebt, mit den Europäern den Ost/West-Airbus zu bauen und fast im gleichen Atemzuge wird dann auf Rapallo und die deutsche Führungsrolle in Europa angestoßen. TACIS wird vielleicht eine Chance geben, mehr europäisches Profil zu entwickeln, auch die EBRD sollte ihren europäischen Charakter stärker herausstellen. Mit dem Abschluß des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens hat auch ein Lernprozeß bei einer begrenzten, aber wichtigen Gruppe von Europakennern stattgefunden.

Die Selbstdarstellung der EU bleibt unbefriedigend

Das Konzept der europäischen Einigung ist in Rußland bisher unverstanden geblieben. Die Selbstdarstellung der EU ist unbefriedigend. Der Zusammenhang zwischen Delegation der EG-Kommission und den nationalen Botschaften, vor allem der Troika sollte klarer demonstriert werden, z.B. durch Einladung russischer Gäste in diesen Kreis. Das Symposium EU-Russische Föderation vom Herbst 1994 war ein wichtiger aber noch nicht ausreichender Schritt auf dem Wege, die EU mehr in das Bewußtsein russischer Eliten zu rücken.

Inzwischen gibt es EU-Botschafter, was den Status der EU-Vertretung deutlich verbessert hat. Die EU wird heute als Machtfaktor ernst genommen. Dennoch fehlt es weiterhin an Verständnis für die Funktionsweise der EU.

G7 werden höher eingeschätzt als die EU

Bisher werden die G7 (als wirtschaftlicher Weltsicherheitsrat) von den Russen als wesentlich prestigereicherer „Club“ angesehen als die EU. Dies ist unbegründet – die Russen haben nur noch nicht gemerkt, daß bei den G7 der Show-Effekt der Gipfel die Schwäche einer reinen Konsens-Veranstaltung verdeckt. Die EU sollte in diesem Rahmen mehr eigenes Profil zeigen – sie ist auf wirtschaftlichem Gebiet weit eher in der Lage, wirkliche Beschlüsse nicht nur zu fassen, sondern auch zu erfüllen und durchzusetzen.

Durch seine Mitgliedschaft bei den G7/G8 hat Russland gelernt, auf dem Instrument zu spielen. Allerdings ist die Bedeutung der G7 inzwischen weiter gesunken, weil ein Teil der Fragen, die dort behandelt wurden, nicht mehr ohne die aufstrebenden Mächte China, Indien, Brasilien, Mexiko oder auch Saudi-Arabien lösbar sind. Das hat zum Aufstieg der G20 geführt, was allerdings die Konsensfindung erschwert hat.

In Rußland heißt es oft, man brauche sich nur mit D gut stellen, dann habe man die EU in der Tasche. Das kann Enttäuschungen hervorrufen, wenn wir nicht auch die Mechanismen der Entscheidungsfindung mehr erläutern.

EU braucht eigenes Profil

Die EU darf sich ebenso wie Deutschland nicht – wie häufig geschehen – gegen die USA profilieren, sondern muß positiv mehr eigenes Profil entwickeln. Im russischen Volk behauptet sich noch das falsche Propaganda-Image, die Sowjetunion sei doch früher eine Wirtschaftsmacht gewesen und erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR zweitrangig geworden. Die Öffentlichkeitsarbeit der EU muß mehr als bisher in die russischen Provinzen getragen werden. Das Vehikel TACIS sollte auch für EU-Öffentlichkeitsarbeit genutzt werden. TACIS-Vertreter im Lande sollten als Vertrauensleute für uns genutzt werden. Gemeinsame Reisen und Vorträge in den Regionen sollten gemeinsam durch Präsidentschaft und Delegation organisiert werden. Statt Troika-Demarchen könnte zu vielen wichtigen Themen eine im Rat abgestimmte Presseerklärung in Rußland weit wirksamer sein.

Europäisches Übergewicht im Handel Rußlands

Bisher gibt es nur selten die bewußte Wahl bestimmter Vorbilder in Rußland, die wirtschaftliche Realität wird sich dort zugunsten Europas durchsetzen, wo Europa eine starke Stellung hat. Das ist vor allem an der Marktstellung Europas erkennbar: Von den russischen Handelsströmen gehen um 50% der russischen Exporte nach Europa. Der Anteil der USA ist weit geringer. Allerdings wächst der Anteil der USA und Asiens von niedrigem Niveau aus sehr schnell an.

Die russischen Regionen bilden mehr und mehr eigene Schwerpunkte je nach geografischem Einzugsgebiet. Dabei werden bestimmte zentrale Gebiete, die für die autarke Sowjetwirtschaft wichtig waren, an Bedeutung verlieren. Das europäische Übergewicht wird bisher kaum ausgespielt, US-Firmen bekommen eher Privilegien zugeschanzt, während Europäer diskriminiert werden. Hier sollten mehr gemeinsame Aktionen zugunsten europäischer Geschäftsleute und Investoren vorgesehen werden. Das Thema der Investitionsbedingungen eignet sich durchaus für eine gemeinsame Aktion. Ein europäischer Business-Club sollte ebenfalls nützlich sein.

Damals wurden die Regionen für die Wirtschaftsbeziehungen wichtig. Inzwischen hat die Re-Zentralisierung unter Putin die russischen Regionen wieder unter die Kontrolle Moskaus gebracht – allerdings auf Kosten der Effizienz. Damit sind auch die Beziehungen zur Zentralregierung auch für Investoren wieder wichtiger geworden.

Die Rolle Deutschlands in Rußland

Deutschland hat Rußland von allen EU-Staaten am meisten beeinflußt. Die deutsche Sprache ist in Rußland sehr stark vertreten, auch wenn die Jugend sich stärker am Englischen orientiert. Deutsche klassische Kultur (weit weniger die moderne) ist hier gut bekannt und beliebt. Nirgends auf der Welt wird Europa so stark mit Deutschland identifiziert wie in Osteuropa und vor allem Rußland. Bis zum Ende des kalten Krieges hatte die deutsche Sprache in diesem Raum noch eine erstrangige Rolle, die dem des inzwischen führenden Englischen kaum nachstand.

Heute zeigt sich Deutschland unfähig, mehr als eine minimale Präsenz geschweige denn ein tragfähiges Konzept auf diesem Sektor zu entwickeln. Schüler und Studenten, die Deutsch gelernt haben und nicht der deutschen Volksgruppe angehören, werden weitgehend sich selbst überlassen, finden weder bevorzugt Jobs, noch werden sie irgendwie in der Erhaltung ihrer Sprachkenntnisse unterstützt (das eine Goethe-Institut in Moskau ist hier völlig der Lage unangemessen – würde man die Zahl der Goethe-Institute an der Zahl des Potentials der Deutsch-Lernenden messen, dann bräuchte Rußland 20 Goethe-Institute und noch 200 von uns unterstützte Spracheninstitute dazu. Die Folge ist, daß uns ständig Partner in Regierung und öffentlichem Leben begegnen, die gestehen, sie hätten auch einmal Deutsch gelernt, aber alles vergessen und dann auf das Englische übergehen. Deutsche in Rußland bedienen sich oft automatisch des Englischen als „Weltsprache“, obwohl mir schon passiert ist, daß dann im Saal aus dem Englischen übersetzt werden mußte, während die überwiegende Mehrzahl Deutsch einwandfrei verstand. Die Dominanz der englischen Sprache kommt nicht England, sondern vor allem den USA zugute.

Die traditionell starke Rolle der deutschen Sprache in Russland (ebenso wie in Osteuropa) wurde in den neunziger Jahren verspielt. Heute ist der Vorsprung des Englischen nicht mehr einzuholen.

Deutschland ist mit Abstand der Wirtschaftspartner Nummer Eins in Rußland. Dabei spielt die von uns finanziell abgesicherte Verbindung zu den neuen Bundesländern bisher noch eine große Rolle. Die Frage bleibt, wie sich diese Position entwickeln wird, nachdem diese Sonderkonditionen 1994 endgültig ausgelaufen sind. Die geografische Nähe bleibt und Deutschland hat vorerst noch ein großes Potential von Menschen, die sich im russischen Markt und in der Sprache auskennen. Die Tendenz ist aber abnehmend, so daß gerade dann, wenn erst einmal die Talsohle in Rußland durchschritten ist, die deutsche Position verstärkt amerikanischer, westeuropäischer und vor allem ostasiatischer Konkurrenz ausgesetzt sein wird. Daher sollte auch unser Interesse sein, durch Kooperationen zwischen Firmen und durch Direktinvestitionen eine Verflechtung der beiden Volkswirtschaften zu erreichen, die dauerhafte Marktpositionen sichern hilft. Dazu ist im übrigen Westeuropa niemand wirklich bereit – hier gibt es eine deutsche Sonderrolle.

Deutschland ist weiterhin stark im russischen Markt vertreten. Heute sind es eher die schlechten politischen Rahmenbedingungen, die das weitere Wachstum der Wirtschaftsbeziehungen bremsen oder sogar zum Erliegen bringen. Ich sehe aber auch weiterhin eine deutsche Sonderrolle in Russland. Die Eiszeiten sind keine Dauereinrichtung – wenn das Eis schmilzt kann unsere Wirtschaft auf einem guten Niveau neu beginnen.

Das deutsche Gewicht wird in Rußland nicht als unproblematisch empfunden. Eine gewisse Diversifizierung wäre ein natürlicher Reflex auf die sehr einseitige wirtschaftliche Abhängigkeit.

Durch die Sanktionen nach der aggressiven russischen Ukrainepolitik und anderen Verhaltensweisen (Ermordung politischer Gegner in westeuropäischen Ländern, Einmischung in Wahlen, Cyberkrieg) war Russland gezwungen, seinen Handel zu diversifizieren. Das war aber kein großer Erfolg. Die Europäische Union ist eben der natürliche, benachbarte Partner Russlands – wenn Russland nur will.

Wissenschaftskontakte

Im Bereich der Wissenschaftskontakte steht Deutschland im Vordergrund des russischen Interessen. Den USA und Japan wird vorgeworfen, eher Interesse an kurzfristigem Aufkauf von Patenten und Menschen denn an langfristiger Kooperation zu haben. Allerdings wird das Verhältnis zur EU im wesentlichen als bilaterales zu Deutschland, Frankreich und Großbritannien empfunden. Die EU hat hingegen das Image bürokratischer Schwerfälligkeit, noch bestätigt durch die endlosen Probleme bei TACIS und der IWTZ-Vorbereitung auf EU-Seite.

Auf Gebieten, wo die USA sachlich mehr zu bieten haben, orientieren sich die russischen High-Tech-Betriebe klar an ihrem vorteilhafteren Partner, also an den USA. Wenn Europa kooperieren will, muß es auch etwas zu bieten haben. Und etwas zu bieten hat Europa auf vielen High-Tech–Gebieten nur noch, wenn es gemeinsam handelt. Diese gemeinsame Chance wird allerdings immer wieder durch nationalstaatliche Rangeleien getrübt, die dann eine Kooperation für die Russen uninteressant machen. Deshalb bleibt es auf vielen Gebieten unvermeidlich, daß einige EU-Mitglieder allein oder in Gruppen eine Führung übernehmen, um dann die übrigen ins Boot zu holen. Deutschland wird in den meisten Fällen diese Führungsrolle zufallen, eventuell gemeinsam mit Frankreich.

Russland hat nach sowjetischer Manier auch den Diebstahl geistigen Eigentums (wieder?) aufgenommen. Für eine wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit gerade auch mit dem privaten Sektor und mit Hochschulen ist aber gegenseitiges Vertrauen die wichtigste Grundlage. Die russische Politik hat die Münze Vertrauen immer unterschätzt, Vertrauen immer irgendwie mit Naivität gleichgesetzt. Das wird zunehmend die Technologiebeziehungen aufs Spiel setzen. Wir sollten versuchen, diesen Bereich zu bewahren, aber natürlich mit mehr Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die russischen Partner sich an die Regeln halten.

Verkehrspolitik und transeuropäische Netze

Die Orientierung der Verkehrspolitik ist stark von der Geografie bestimmt, so daß hier eine Anbindung an die transeuropäischen Netze sich natürlicherweise als für Rußland vorrangig herausstellt. Daran ändern die aus der USA-Mode geborenen gigantischen Ideen eines Tunnels unter der Beringstraße und der Autobahn Moskau-Alaska-Washington gar nichts. Zu den großen Vernetzungen materieller Art gehören Kommunikationsnetze über Kabel und Satellit, Luft-, Straßen- und Bahnnetze, die Anbindung an Binnen- und Seewasserstraßen aber auch Programme wie die europäische Energiecharta und der Verbund von Energienetzen. Rußland hat großes Interesse an einer Vernetzung dieser Art mit Europa. Europa und die EU sollten dies im eigenen Interesse erwidern.

Das russische Interesse an dieser Verflechtung scheint deutlich vermindert. Eigentlich ist nur die Pipeline North Stream übrig geblieben. Das liegt sicher auch an dem geringen Vertrauen der osteuropäischen Nachbarn einschließlich der Ukraine in die russische Politik.

Deutsche private Anbieter von Dienstleistungen auf dem Gebiet der Telekommunikation sind erst seit kurzem im internationalen Geschäft – anders als die Anbieter von Hardware, die gut etabliert sind.

Energiebeziehungen

Im Energiebereich ist Deutschland bei weitem der wichtigste Abnehmer von Energieträgern und damit der wichtigste Devisenbringer überhaupt. Investitionen hatte man sich zunächst vor allem aus den USA erhofft. Derzeit nimmt der Enthusiasmus für die USA ab. Aber das Bild der -erstrebten- Konsumgesellschaft wird weiterhin ganz von den USA bestimmt. Das hat die unerfreuliche Folge, daß weiterhin Energieeinsparungen als nachrangig gegenüber der Energieerschließung betrachtet werden.

In Rußland sehen wichtige Akteure die einseitige Abhängigkeit Rußlands von Rohstoff- und Energieexporten als schädlich an. Sie nehmen sie als Devisenquelle in Kauf, sind aber bemüht diesen Sektor eher abzubauen und auf technisch anspruchsvollere Exporte zu setzen. Dies wird heute nicht durch Realitäten abgedeckt. Unvermeidliche Enttäuschungen führen leider leicht zu Vorwürfen an den „Westen“, er wolle Rußlands Industrieexporte nicht hochkommen lassen. Eigene Unfähigkeit wird selten eingesehen.

Schon zu Sowjetzeiten waren russische Konsumgüter im Westen nicht konkurrenzfähig. Heute wäre Russland zumindest für den eigenen Binnenmarkt ein attraktiver Standort – wenn die Bedrohung durch – tief in staatliche Strukturen ausgreifende – organisierte Kriminalität nicht so hoch wäre.

Wir haben bisher nicht ausreichend den Dialog mit Rußland im Energiebereich geführt. Der Energie-Kooperationsrat ist zu sehr zu einer Veranstaltung zwischen VEBA/Deminex und dem Energieministerium geworden. Auf Firmenebene bestehen gute Kontakte. Die politische Spitze muß aber auf diesem wichtigen Gebiet unserer Beziehungen mehr Flagge zeigen – die USA tun dies erfolgreich in der Gore-Tschernomyrdin-Kommission, die gerade in Energiefragen sehr aktiv ist.

Mit der deutsch-russischen strategischen Arbeitsgruppe – und den deutsch-russischen Wirtschaftsgipfeln gab es vielversprechende Ansätze. Im Energiebereich ist der Dialog auch heute noch gut entwickelt. Die deutsche Abhängigkeit von russischer Energie wurde nicht als problematisch angesehen, da Russland sich sogar während des Kalten Krieges als zuverlässiger Lieferant bewährt hatte. Es war deshalb ein kapitaler Fehler, dass Russland inzwischen die Energiepolitik als politische Waffe (gegenüber der Ukraine, aber auch anderen) eingesetzt hat.

Deutschland sollte sich nicht von der aggressiven Rhetorik Donald Trumps gegen North Stream beeinflussen lassen – allerdings lässt das russische Verhalten eine stärkere Diversifizierung der Energiequellen Deutschlands angezeigt sein.

Die Europäische Energiecharta muß gerade mit dem Hauptproduzenten Rußland dringend mit Leben erfüllt werden, sonst stirbt sie einen leisen Tod.

Die russischen Banken orientieren sich an Europa

Die russischen Banken schauen auf Europa mit Bewunderung und wollen es nachahmen , aber auch mit Angst vor der Übermacht der europäischen Hochfinanz. Auch hier überwiegt bilaterales Denken.

Die Beratung

Beratung ist dort erfolgreich, wo an konkretem Bedarf angeknüpft wird und schon Verbindungen bestehen. Gefahren sind einerseits die oft sehr unkritische Übernahme der Ergebnisse durch russische Stellen. Auf der anderen Seite gibt es auch das Phänomen, daß die Berater und deren Ansichten völlig ignoriert werden und daher die Beratung ins Leere geht. Wichtig ist, kritisches Herangehen zu fördern und zugleich russische Spezifika mehr einzubeziehen.

Es kann für Rußland nur gut sein, wenn es zu einem wirklichen Wettbewerb der (verbliebenen) Systeme durch eine zivilisierte politische Diskussion kommt. Für die Beratung sollte daraus der Schluß gezogen werden, daß nicht einfach Standpunkte wie Lehrstoff dargeboten werden, sondern durchaus auch kontroverse Standpunkte verschiedener westlicher Konzepte gemeinsam mit russischen Meinungsträgern diskutiert werden.

Einzelheiten der Beratungskonzeption sollen hier nicht erörtert werden. Es sollte jedenfalls national wie europäisch eine Bestandsaufnahme erfolgen und eine Überprüfung, was wie wirkt und was vielleicht richtig oder falsch gemacht wurde.

Einige der Berater, die damals in Russland eine Rolle gespielt haben, wie z.B. Jeffrey Sachs aus den USA oder Anders Aslund aus Schweden, gelten heute als verantwortlich für schlechte Ratschläge. Sie hätten Russland zu einer unsozialen „neoliberalen“ Politik gedrängt. Ich halte diese Vorwürfe für völlig überzogen. Die führenden russischen Politiker haben von den Beratern nur aufgenommen, was sie ohnehin schon für richtig hielten.

Die Berater wären maßlos überschätzt (und haben sich selbst oft maßlos überschätzt), wenn man ihnen einen entscheidenden Einfluss auf die damalige russische Politik zubilligt. Einer der wichtigsten deutschen Berater, der frühere Kartellamtschef Kartte, wurde mit dem sehr vernünftigen Vorschlag, den Aufbau einer Marktwirtschaft mit Strukturen zur Kontrolle von Marktmissbräuchen zu verbinden, völlig ignoriert.

Humanitäre Hilfe

Die humanitäre Hilfe hat inzwischen vor allem auf dem Lande kein gutes Image mehr. Zu sehr steht heute der Schaden für den russischen Produzenten in der Diskussion. Angebotsorientierte Beratung ist, z.B. in der Landwirtschaft, zwecklos, weil sie Dinge aufdrängt, die niemand will.

Gutgemeinte private Initiativen der humanitären Hilfe sind nützlich für die Erhaltung guter Kontakte weit in das Land hinein. Sie dürfen aber nicht durch Dilettantismus und z.T. Mißbrauch für kommerzielle Zwecke die Hilfe diskreditieren, was leider auch vorkommt.

Grundfragen für den zukünftigen Weg Rußlands - Rußland hat Wachstumspotential

Im Unterschied zu Westeuropa, wo wir die „Grenzen des Wachstums“ erreicht haben und unsere Märkte überwiegend gesättigt sind, hat Rußland noch großes Wachstumspotential. Neue technische Entwicklungen und gleichartige Technisierung führen auch zu kultureller Angleichung trotz aller bleibenden Spezifika. Wo Rußland dieses Wachstumspotential findet, hängt auch davon ab, wo wir Kooperationsbereitschaft zeigen. Wir sollten nicht zögern, in Absprache mit europäischen Firmen damit auch ein wenig an selektiver Industriepolitik mitzuwirken, z.B. dort wo sich die Volkswirtschaften gut ergänzen.

Dies ist in Osteuropa, aber nicht in Russland geschehen. Die russische Politik hat ihre Kontrolle zugunsten alter Strukturen und Machtgruppen verstärkt und damit die Effizienz vernachlässigt. Damit gab es Wachstum, aber auch große Anfälligkeit für Krisen. Das Potenzial für qualitatives und nachhaltiges Wachstum bleibt weithin ungenutzt.

Nachwächterstaat oder Wohlfahrtsstaat ?

Entscheidend für die zukünftige Orientierung wird sein, wie die Rolle des Staates in der Gesellschaft bestimmt wird: soll der Staat nach angelsächsischem Muster nur als Nothelfer für Bedürftige und als Garant der Rahmenbedingungen für eine liberale Wirtschaft fungieren oder soll er – wie in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern auch eine aktive Rolle durch Gesellschaftspolitik spielen. Angesichts der immensen sozialen Probleme in Rußland wäre eine gesellschaftpolitisch aktive Rolle im Interesse der Stabilität wünschenswert – wir sollten dafür werben. Zugleich muß allerdings vermieden werden, daß dies als Entschuldigung für unsolides Finanzgebaren dient.

Die Regierungen unter Jelzin haben die Gesellschaftspolitik vernachlässigt. Putin hat das Thema aufgenommen – allerdings die große Ungleichheit nicht vermindert.

Föderalismus

Das Selbstverständnis der Russen stößt sich am Widerspruch regionaler und zentraler Interessen, die Föderationssubjekte handeln heute weitgehend selbständig. Aber bei Scheitern der Wirtschaftsreformen besteht große Bereitschaft zu Re-Zentralisierung mit allen Folgen bis hin zur Akzeptierung einer Diktatur. Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Stufen der Staatlichkeit im Rahmen der Föderation wird auch entscheidend für die Lösung des Demokratieproblems sein. Die Denkweise in Rußland ist durch die Grenzenlosigkeit des Landes mitgeprägt und ähnelt in dieser Hinsicht oft mehr dem amerikanischen Denken als dem oft provinziell-engen westeuropäischen Denken.

Aus der Sicht der Mehrheit der russischen Bürger war die erste, liberalisierende Runde der Wirtschaftsreformen gescheitert. Wenige Oligarchen wurden sehr reich, viele aber verarmten. Putin hat daran wenig geändert, aber die erneute Zentralisierung durch Entmachtung der Regionen und die Verwandlung einer gerade aufkeimenden Demokratie mit anarchischen Zügen in ein autoritäres Regime haben mehr Stabilität ermöglicht und damit auch einen bescheidenen Wohlstand für den langsam entstehenden Mittelstand, der eher aus Staatsbediensteten als aus selbständigen Unternehmern besteht. Der Nationalismus hat die kommunistische Ideologie als Bindemittel ersetzt.

Was die Staatsform im russischen Großraum angeht, so bietet Westeuropa insgesamt wenig anwendbare Erfahrungen, während die USA und Kanada (letzteres auch mit großen arktischen Gebieten) ein Vorbild sein können. Europa kann hingegen für die Formen des Föderalismus interessante Elemente für Rußland bieten, wenn diese (ähnlich dem amerikanischen Modell des Föderalismus) auf die Größe des Landes angepaßt werden.

Diese Möglichkeit hat Russland vorerst verpasst. Tatsächlich ist aber auch heute „Russland groß und der Zar weit“ – in den Regionen haben statt gewählter Gouverneure nun ernannte Statthalter Moskaus die Macht, aber die Kontrolle bleibt begrenzt.

Erfolgsperspektiven entscheidend für Stabilität

Es liegt im europäischen Interesse, daß die Russen eine überschaubare Erfolgsperspektive wenigstens auf Teilgebieten bekommen. Die eigenen Erfolge werden von der russischen Bevölkerung bisher zwar mitgenommen, aber kaum wahrgenommen. Solange die russische Regierung dazu nicht fähig ist, sollten wir ihr helfen, Erfolge nicht nur zu haben sondern auch darzustellen. Noch wichtiger ist ein klareres und realistisches Bild davon, was als in absehbarer Zeit erreichbar angesehen wird. Dazu muß auch der Westen mehr als bisher bereit sein, Rußland längerfristige Kooperations-Zusagen zu machen.

Die von Deutschland angebotene „strategische Partnerschaft“ war mehr als eine Floskel: damit war eine sehr substanzielle Zusammenarbeit auf vielen Gebieten gemeint, wo sich beide Länder gut ergänzten. Einige in Russland hatten das verstanden, ich hatte den Eindruck, dass auch Putin wusste, welche Chancen damit verbunden waren. Nur verstehen die ex-KGB-Offiziere und die „Siloviki“ nicht, dass so eine Kooperation nur funktioniert, wenn Vertrauen aufgebaut und geschützt wird. Machtspielchen haben in so einer Beziehung nichts zu suchen. Es ist eine alte Krankheit der russischen Diplomatie, einen Ausgleich statt radikale Durchsetzung von Interessen für „unprofessionell“ und ein Zeichen von Schwäche zu halten. Das Partnerschaftsangebot Deutschlands wurde ebenso wenig angenommen wie das Angebot der Europäischen Union.

Definition von Interessen und der Einfluß von Stereotypen über Rußland im Westen

Im Westen und vor allem in Deutschland sitzen Stereotype noch immer tief, Rußland macht immer noch vielen Angst – die Unsicherheit über seinen zukünftigen Weg läßt nach Sicherheit suchen. Die westlichen Diskussionen wirken auf die russische Öffentlichkeit und die Meinungsführer zurück. Damit entsteht ein Dialog zwischen den Gesellschaften, der politisch nicht kontrollierbar ist. Wir müssen damit leben, daß über möglichen russischen Imperialismus, über Cordon Sanitaire oder NATO-Beitritte in Osteuropa geredet wird. Um so mehr sollte aber darauf gedrängt werden, daß die Regierungen diese Themen in direktem Dialog aufnehmen und auch mit Hilfe des Instruments der Botschaften ihre wirklichen Auffassungen klären, damit dieser Dialog nicht mittels Presse-Phantomen ausgetragen wird.

Bis heute spielt die Presse im Westen keine gute Rolle für die Beziehungen zu Russland. Der Grund ist eine polarisierte Meinungsberichterstattung, und die generelle Tendenz, Nachricht und Kommentar nicht mehr zu trennen (in deutschen Fernsehnachrichten bekommt man ja auch zuerst gesagt, was „davon zu halten ist“, bevor überhaupt die Nachricht kommt). Gerade Russland erregt die Gemüter. Daher findet man zu oft eine unkritische Verteidigung Russlands und kurz darauf eine ebenso unkritische Verurteilung Russlands, statt umfassender abwägender Berichterstattung.

Russische Außenpolitik und Europäische Interessen

Der außenpolitische Standort Rußlands - Rußland als verletzte Weltmacht

Die Neigung zur Vergeßlichkeit sollte uns nicht übermannen: das, was heute Rußland heißt, ist der Kern der ehemaligen Weltmacht Sowjetunion, der Kern, dem die Kernwaffen verblieben sind. Rußland bleibt das Potential zu einer Weltmacht. Seine Raketen können nach wie vor jeden Winkel der Erde erreichen. Der Stolz manch eines Mitglieds der politischen und militärischen Eliten in Rußland nährt sich immer noch an Quantität und Qualität der Waffenschmieden.

Tatsächlich ist Rußland als Weltmacht deklassiert worden. Das Gefühl, den kalten Krieg verloren zu haben, ist vor allem bei der mittleren Generation weit verbreitet, ein Gefühl, das den Stolz verletzt. Die Äußerungen aus den USA dazu haben dieses Salz ja gehörig in die Wunden eingerieben! Man möchte so sein wie die USA – und nachdem das große Ziel Chruschtschows „Einholen und Überholen“ und „den Kapitalismus begraben“ fehlgegangen ist, so soll jetzt der konsequente Weg in den Kapitalismus mit amerikanischer Dynamik das Heil bringen.

Nationale Rettung ist auch das Ziel der Reformgegner. Sie konstatieren das Scheitern des westlichen Weges, und wußten es ja schon immer. Unter Selbstkasteiungen sehen sie die eigene Lage noch schlimmer als sie ist, wenn damit nur die westliche Verschwörung gegen das große, heilige Rußland bewiesen wird.

Rußland als europäische Großmacht

Rußland mag für einige Zeit nicht die Kraft haben, sich als Weltmacht zu präsentieren. Eine europäische Großmacht ist und bleibt Rußland allemal. Wer in Europa seine Rechnung ohne Rußland macht, verrechnet sich. Dabei ist Rußland nicht einfach in Europa integrierbar. Zu groß ist der Brocken, den der westliche Annex der eurasischen Landmasse zu verdauen hätte, wollte er Rußland einfach hineinnehmen in den Prozeß des europäischen Zusammenwachsens. Aber zugleich ist eine immer engere Verflechtung mit Rußland der einzige Weg, den drohenden Riß zwischen Ost und West, der irgendwo zwischen Bug und Dnjepr droht, zu vernähen.

Diese immer engere Verflechtung fand zunächst statt, hatte aber nicht den erhofften Effekt, den Riss zwischen Ost und West zu vermeiden. Hauptgrund ist nicht, wie manchmal behauptet wird, die NATO-Osterweiterung oder mangelnder Respekt vor der russischen Großmacht. Vielmehr hat sich in Russland selbst einmal mehr die politische Richtung durchgesetzt, die ihr Selbstbewusstsein daraus zieht, gefürchtet zu werden. Neue Nuklearwaffen werden entwickelt und stationiert, neue Formen hybrider Kriegführung werden ausprobiert, Drohungen werden zum probaten Druckmittel. Und dann tut man noch so, als sei es völlig unerwartet, dass die Nachbarn Russlands darauf nicht gerade freundlich reagieren.

Aber der Westen hat auch kapitale Fehler begangen. Insbesondere die dummen und unzutreffenden Sprüche, der Westen habe den Kalten Krieg „gewonnen“, waren ein Bärendienst für die Kräfte der Vernunft in Russland. Außenpolitisch wurde Russland genau so ernst genommen wie es Zähne zeigte. Die freundliche, kooperative Außenpolitik Russlands, repräsentiert von Außenminister Kosyrew wurde nicht honoriert. Die Intervention in Libyen war ein Sündenfall. Russland wurde überredet, einer Unterstützung der Verteidiger von Bengasi aus der Luft zuzustimmen, Frankreich und Großbritannien, und – zögerlich – auch die USA legten das Sicherheitsratsmandat so aus, dass damit eine umfassende Intervention zum „regime change“ gerechtfertigt wurde. Nicht nur Russland fühlte sich dadurch düpiert – und ermutigt, ähnlich großzügig mit dem Völkerrecht umzugehen.

Rußland in Ost- und Südasien

Rußland bleibt immer auch eine Macht in Asien. Seine lange Grenze mit China ist inzwischen erstmals bis auf wenige Ausnahmen fixiert. Entspannung an den asiatischen Grenzen Rußlands zeichnet sich ab. Aber es bleiben offene Fragen. Die enormen Transportwege und -kosten lassen die pazifischen Gebiete Rußlands mehr nach Japan, Korea und China schauen als nach Moskau. Die rohstoffreichen und menschenleeren Gebiete Ostsibiriens werden nur durch einen schmalen, längs der Eisenbahn postierten Gürtel russischer Militärkolonien von China und der Mongolei abgeschirmt. Ängste vor demographischem Druck aus Asien mögen unbegründet sein, sie sind aber ein psychologisch und damit politisch wirksamer Faktor.

Noch aus sowjetischer Zeit stammt das Sonderverhältnis Rußlands zu Indien.

Rußland und der nahe und mittlere Osten

Der nahe Osten und mehr noch der mittlere Osten liegt Rußland geographisch nahe. Zwar gibt es keine direkte Grenze mehr, aber Rußland sieht sich an der tadshikisch-afghanischen oder an den Grenzen zu Iran und zur Türkei durchaus auch als Verteidiger seiner eigenen Grenzen. Hartnäckig verfolgt die russische Politik das Ziel der „gemeinsamen“, d.h. russischen Verteidigung der GUS-Außengrenzen.

Aus meiner Sicht wurde auch die russische Politik in Syrien im Westen falsch interpretiert. Bei uns wird sie als Rückkehr Russlands als imperiale Macht im nahen Osten, als Teil einer Großmachtstrategie verstanden. Tatsächlich ist die russische Intervention in Syrien auch russische Innenpolitik. Zwischen den islamistischen Tschetschenen und Dagestanern und Minderheiten dieser Nationalitäten in Syrien gab es immer Verbindungen. Al-Qaida und andere islamistische Extremisten betrachteten Russland als Feind und drohten auch in Russland selbst mit Anschlägen.

Ob der russische Geheimdienst seinerseits für Anschläge verantwortlich war oder nicht, kann ich ohne Kenntnis der Hintergründe nicht beurteilen – zwischen zutreffenden Gerüchten und wilden Verschwörungstheorien ist nur ein schmaler Grat. Aber sicher ist, dass Russland eine islamistische Machtübernahme in Syrien auch als Bedrohung seiner inneren Lage – vor allem im Kaukasus – betrachtet hat.

Im Übrigen hat sich die russische Strategie in Syrien bisher als die einzige erwiesen, die ein Ende des Konfliktes (durch einen Sieg Assads) möglich macht. Die türkische Strategie des containment gegen die Kurden und damit auch indirekte Unterstützung von Islamisten, die westliche Strategie, erfolglos nach „gemäßigten“ Assad-Gegnern zu suchen, und die US-Strategie Obamas mit leeren Drohungen zu arbeiten, und die Verweigerung jeglicher Strategie durch Trump sind jede für sich nur zur Verlängerung des Krieges geeignet gewesen.

Das nahe Ausland – die GUS zwischen Integration und Zerfall

Die Gemeinschaft unabhängiger Staaten war vielleicht einmal nach dem Vorbild der EG geplant. Sicher ist das nicht, denn viele in Rußland hätten von Anfang an eine „slawische Union“ zwischen Rußland, Weißrußland und der Ukraine vorgezogen. Inzwischen gibt es in der GUS ein Geflecht von mehreren Hundert Verträgen und Abkommen, die aber nur zu einem geringen Teil auch operativ geworden sind.

Die Idee der GUS ist prinzipiell vernünftig. Die Staaten der ehemaligen Sowjetunion hatten einen einheitlichen Wirtschaftsraum gebildet. Das Aufbrechen der UdSSR zerstörte wirtschaftliche Lieferbeziehungen und persönliche Familienbande. Warum also nicht bewahren oder gar wieder anknüpfen an alles, was immer möglich ist? Allerdings beruhten die Lieferbeziehungen weithin auf administrativen Fehlallokationen, die unter Marktbedingungen unhaltbar sind, selbst die vielbeschworene Völkerfreundschaft im Vielvölkerstaat Sowjetunion verdeckte nur mäßig die Hegemonie der russischen Nation über die anderen Völker.

Inzwischen ist die Idee einer GUS aus gleichberechtigten Staaten tot. Russland tritt offen als Hegemon auf. Damit werden einige schwache Staaten wieder enger an Russland gebunden. Zugleich stößt diese Haltung andere ab und führt zu einer weiteren Distanzierung von Moskau. Der Preis der Unfreiheit ist zu hoch für die wirtschaftlichen Vorteile, die Moskau bieten kann.

Die russische Südflanke vom Kaukasus bis zur Moldau

Vor über Hundert Jahren kostete der erste kaukasische Krieg Rußland ein Drittel seines Verteidigungsbudgets. Heute ist erneut der Kaukasus der Unruheherd Nummer Eins an der russischen Grenze. Rußland versucht, die Unruheherde mit Mitteln zu kontrollieren, die frappierend an die Mittel des zaristischen Rußland erinnern. Schon vor dem Tschetschenienkrieg wurde die Hegemonie der orthodox-christlichen Osseten gefördert, um die muslimischen Inguschen und Tschetschenen zu neutralisieren, die Abchasen werden als Puffer gegen Georgien eher gestützt als befriedet, Georgien insgesamt militärisch fest integriert, in Aserbeidschan und Armenien wird alles getan um nicht einfach einen Frieden, sondern eine pax russica zu erreichen. Und an der Moldau zeichnet sich eine Lösung des Problems der Russen in Tiraspol erst ab, nachdem klar ist, daß der Weg Moldaviens Richtung Unabhängigkeit und nicht Vereinigung mit Rumänien geht.

Die „eingefrorenen Konflikte“, die sich jederzeit wieder auftauen lassen, sind ein erhebliches Drohpotenzial für Russlands Nachbarn. Eine Lösung wird zumindest von Russland nicht angestrebt. Inzwischen ist die Annexion der Krim und der Konflikt in der Ostukraine hinzugekommen. Die Auflösung der Sowjetunion ging mit erstaunlich wenigen Kriegen einher – inzwischen wird mancher Krieg zur Neuordnung der Verhältnisse nachgeholt.

Die neue Grenze – Rußland, der Norden und die baltischen Staaten

Die russischen Eliten haben überwiegend akzeptiert, daß die baltischen Staaten wohl endgültig nicht zu Rußland gehören wollen. Das heißt aber nicht, daß der russische Einfluß dort einfach aufgegeben werden soll. Solange das Verhältnis Rußlands zum Westen gut ist, Rußland auch keinerlei Bedrohung seiner Sicherheit an den baltischen Grenzen fürchten muß, solange ist die baltische Unabhängigkeit sicher. Wenn aber das Klima sich unglückseligerweise verhärten würde, dann können die baltischen Staaten Sicherheit allein nicht mehr gewährleisten, dann werden sie sie in Westeuropa suchen – aber nicht ohne Probleme finden.

Finnland hat sich von seiner Haltung des Eichhörnchens vor der Höhle des Bären emanzipiert, aber im Falle einer Verschlechterung des Ost-West-Verhältnisses gilt für Finnland das gleiche wie für das Baltikum. Sicherheit gibt es nur im westlichen Bündnis oder in einer sehr vorsichtigen, bewaffneten Neutralität.

Deshalb habe ich auch – anders als mein damaliger Botschafter von der Gablentz – die NATO-Erweiterung im Baltikum für richtig gehalten. Die baltischen Staaten waren zwischen beiden Weltkriegen selbständig gewesen und hatten ihren Willen zur Selbstbehauptung gezeigt.

Die schwierigen Nachbarn: Ukraine, Weißrußland und Kasachstan

Drei Nachbarn Rußlands beherbergen fast 20 Millionen Bürger russischer Nationalität. Viele Russen können nicht fassen, daß die Mutter der russischen Städte, Kiew, nun Ausland sein soll, viele Familien fragen sich, ob nun die Großmutter oder der Sohn plötzlich Ausländer sein sollen, in Weißrußland ist das Gefühl, eine eigenständige Nation zu sein, nicht sehr ausgeprägt.

Der osteuropäische Raum, vor allem die Ukraine war immer von vielen Nationalitäten bevölkert. Neben ukrainisch wurde auch deutsch, jiddisch, russisch, ungarisch, krimtatarisch und polnisch gesprochen. Grenzziehungen führten nie zu homogenen Nationalstaaten, sondern immer zu Ländern mit erheblichen nationalen Minderheiten. Je mehr die ethnische Mehrheit den Staat zu ihrem Staat macht, desto weniger kann sie die Loyalität der anderen Bürger sichern. Das macht die Ukraine sehr verwundbar – und Russland nutzte diese Verwundbarkeit.

Rußland an der Ostsee

Der Zugang Rußlands zur Ostsee ist seit der Zeit Peters des Großen nicht mehr so begrenzt gewesen. Durch den Kaliningrader Oblast bleibt Rußland aber ein Fenster zur Ostsee erhalten. Bisher ist offen, was aus diesem Vorposten wird: manche wünschen sich eine Freihandelszone, die nach Westen blickt und lebendige Beziehungen zum ganzen Ostseeraum pflegt, andere sehen dort eher die Chance, russische See- und Landmacht in den Ostseeraum zu projizieren und die baltischen Staaten in Disziplin zu halten.

Eine wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung des Gebietes Kaliningrad dürfte nur unter hohen Kosten erreichbar sein. Die Exklave könnte sich nur unter der Bedingung erheblicher Autonomie und einem weit besseren Entwicklungsstand als in Rußland insgesamt einigermaßen entwickeln. Dafür spricht aber wenig. Die politische und in deren Gefolge auch die wirtschaftliche Entwicklung ist gegenüber der im Übrigen Rußland eher in Rückstand geraten. Eine Rolle Rußlands an der Ostsee dürfte auch in Zukunft über St.Petersburg laufen, nicht über Kaliningrad.

Spätestens mit der Stationierung von Iskander-Raketen im Kaliningrader Oblast droht die Region wieder zu einer Militärkolonie abzusteigen. Das Modell des „vierten baltischen Staats“ scheitert an der Furcht der russischen Führung, dort die Kontrolle zu verlieren. Dabei ist die russische Anwesenheit zwar historisch durch nichts zu begründen – aber die Zugehörigkeit zu Russland dürfte schon dadurch gesichert sein, dass die unmittelbaren Nachbarn Polen und Litauen ebenso wie das ferne Deutschland kein Interessen an dem Gebiet haben – aber es auch nicht in der Hand eines der Länder aus dieser Gruppe sehen möchten.

Die Neuorientierung der MOE-Staaten

Die MOE-Staaten vom Baltikum über Polen und Ungarn bis hinunter zum Balkan schauen heute nach Westen, allerdings nicht ohne immer wieder mißtrauisch über die Schulter hinweg zu beobachten, was Rußland in ihrem Rücken treibt. Sie werden den Dialog mit Rußland irgendwann wiederaufnehmen müssen. Sie täten dies gerne mit Rückhalt von EU und NATO, denn sie wissen, daß sie sonst in Moskau weiterhin als zweitrangige Mächte behandelt werden.

Heute, nach der Erweiterung der NATO und der EU nach Osten, könnten diese Länder auch gegenüber Russland selbstbewusster auftreten und damit auch einen Dialog auf Augenhöhe mit Moskau führen. Russland akzeptiert diese Nachbarn aber weiterhin nicht als gleichberechtigte Partner und verbaut sich damit Chancen zu einer engeren Verflechtung mit den Nachbarn. Antirussische Reflexe in Osteuropa finden so immer wieder neue Nahrung.

Rußland und Deutschland

Zu Deutschland besteht ein eigenartiges Verhältnis, das Distanz und Nähe verbindet, es gibt mehr Übereinstimmungen als zwischen vielen anderen Europäern und es gibt leichter Mißverständnisse.

Die beiden Reden, die der russische Präsident Putin auf deutschem Boden gehalten hat, 2001 im Deutschen Bundestag, und 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, markieren die große Spannung zwischen beiden Polen des deutsch-russischen Verhältnisses. Die Politik von US-Präsident Trump und die antideutsche Haltung der PiS-Regierung in Polen wären eigentlich eine große Chance für Russland, seine Beziehungen zu Deutschland wieder zu verstärken.

Doch eine Politik, die versucht, die EU zu spalten, deutsche Innenpolitik im Sinne einer blinden Hinwendung zum autoritären Russland zu beeinflussen, eine Politik, die imperial und nicht kooperativ ausgerichtet ist, bedroht Deutschland mehr als die Probleme mit den USA und innerhalb der EU. Russland bietet keine Alternative für Deutschland!

Was heute möglich ist, sind pragmatische, wirtschaftlich untermauerte Beziehungen zu Russland, die überall da auf Grenzen stoßen, wo Russland seine Macht ausspielt. Wenn Russland sich hin zu mehr Demokratie und friedlicher Kooperation verändert, dann ist das Potenzial da, mehr daraus zu machen.