Russische Außenpolitik

Einschätzung eines anonymen Artikels 

der Nesawisimaja Gaseta 1995

Die Moskauer Zeitung „Nesawisimaja Gaseta“ veröffentlichte 1995 einen anonymen Artikel über ein Konzept zur russischen Außenpolitik. Ich vermutete als Autoren hochrangige Mitarbeiter des Außenministeriums und der Geheimdienste. Da ich aus meinen persönlichen Gesprächen in Moskau natürlich auch ein Stimmungsbild hatte, das zeigte, dass dieser Artikel ernst zu nehmen war, habe ich damals meine Einschätzung aufgeschrieben.

 

Ich war Abteilungsleiter Wirtschaft und Wissenschaft, nicht Botschafter. Die offizielle Berichterstattung zu diesen Tendenzen und die Einschätzung dazu oblag der politischen Abteilung und hilfsweise auch dem Pressereferenten. Ich habe mich daher darauf konzentriert, die Folgen für unsere „Hilfsprogramme“ zu bedenken und innerhalb der Abteilung (mit ca. 27 Mitarbeitern aus dem AA und fünf weiteren deutschen Ministerien, plus Bundesbank und KfW) in einem Brainstorming darüber zu sprechen. Dazu habe ich ein Papier mit zehn Thesen verfasst, das hier ebenfalls nachzulesen ist.

 

Im Herbst 1995 habe ich Moskau verlassen (und mich anschließend um Lateinamerika gekümmert), so dass weitere Schlussfolgerungen von meinem Nachfolger und seinen Kollegen zu ziehen waren.

 

Hier meine Einschätzung zu dem Artikel (den ich im Original leider nicht habe):

Die Überschriften orientieren sich an Stichworten aus dem Artikel. Auf im ursprünglichen Papier vorhandene Untergliederungen habe ich hier verzichtet. Manche Absätze habe ich zusammengefasst, grammatische Fehler möglichst korrigiert.

 

Russische Außenpolitik

 

Konzentration der Kräfte, Neue Macht durch Aufbau starker Positionen

 

Konzentration der Kräfte im Inneren und Aufbau starker Positionen nach außen sollen dazu beitragen, den als selbstverständlich vorausgesetzten Anspruch Rußlands auf seine Großmachtstellung zu bekräftigen. Die Autoren sind realistisch genug, die gegenwärtige Schwäche Rußlands zu bedauern. Sie sehen die Achtung vor Rußland schwinden, die Selbstachtung Rußland sei damit in Gefahr.


Die Autoren gehen damit auch davon aus, daß die Selbstachtung Rußlands wesentlich mit seiner Großmachtstellung verknüpft ist. Dies ist ein Zeichen imperialen Denkens, das ein deutliches Zeichen eines verwundeten Stolzes ist.

 

Stärkung der Wirtschaft

 

Die neue Machtstellung Rußlands wird eng mit dem wirtschaftlichen Neuaufbau verknüpft sein. Die außenpolitischen Eliten in Rußland haben erkannt, daß der wirtschaftliche Mißerfolg des sowjetischen Modells (Obervolta mit Raketen) die militärisch begründete Machtstellung völlig untergraben hat.

 

Als Ziel des wirtschaftlichen Aufschwungs wird aber gerade monoman das Erringen einer Machtstellung nach außen in den Vordergrund gestellt. Die innere Funktion einer Verbesserung der Wirtschaftslage wird einseitig als soziale Stabilisierung gesehen, während das Ziel des maximalen Wohlstandes der Bevölkerung oder andere individuelle Ziele wie "pursuit of happiness" überhaupt keine Rolle spielen.

 

Eliten, die immer noch das Funktionieren eines so empfindlichen Mechanismus wie einer Marktwirtschaft in den Dienst einer Machtpolitik stellen wollen, sind sicher nicht geeignet, den wirtschaftlichen Aufschwung wirklich zu erreichen. Sie erreichen innerstaatlich wie nach außen nicht das notwendige Vertrauen - lateinisch KREDIT.

 

Status in der GUS

 

Die ehemaligen Sowjetrepubliken werden klar als Hegemonialzone Rußlands angesehen. Dabei werden alle früheren Gebiete der UdSSR einbezogen. Es gibt nur graduelle Unterschiede. Den baltischen Staaten werden mehr Spielräume eingeräumt, auch Turkmenistan gilt als lebensfähiger und damit weniger abhängig. Zugleich soll die Hegemonie Rußlands die Stellung Rußlands als Großmacht festigen.

 

Diese Ziele sind eindeutig neo-imperialistischer Natur - vergleichbar der Rolle der USA gegenüber ihren lateinamerikanischen Nachbarn am Anfang dieses Jahrhunderts (Teddy Roosevelt). Auch dort ging es nicht um direkte Kolonisierung oder Kontrolle, sondern um einen machvollen Führungsanspruch. Die Frage, ob die Nachbarn eine solche Hegemonialrolle akzeptieren, wird abgetan: es bleibe ihnen angesichts der realen Machtverhältnisse gar nichts anderes übrig.

 

Neue Hebel

 

Die "neuen Hebel" der Außenpolitik werden nicht klar definiert. Nur gegenüber der GUS werden vor allem wirtschaftliche Durchdringung und politisch-militärische Integration als Herrschafts-Instrumente angesehen. Die NATO und das westliche System haben hier sicher inspirierend auf die Autoren gewirkt.

 

So wie die Karikatur des Kapitalismus, die unter kommunistischer Herrschaft gelehrt wurde, heute als durchaus erstrebenswert gilt (eine sehr unsoziale Form also), so wird offenbar auch die Karikatur dessen, was man früher für das westliche System hielt, jetzt für außenpolitisch vorbildlich gehalten.

 

Die Beziehungen zwischen den westlichen Staaten werden als Hegemonie der USA durch sanfte Machtausübung gepaart mit wirtschaftlicher Durchdringung - aber durch und durch unter dem Blickwinkel der realistischen - machtpolitisch-geopolitisch orientierten Schule gesehen. Das erklärt auch den Hang, die USA und Deutschland als bilaterale Akteure zu überschätzen.

 

Gigantischer Vorteil zurzeit: Rußland hat keine Feinde

 

Offensichtlich wird diese Tatsache vor allem als Chance begriffen, sich darauf vorzubereiten, daß Rußland wieder einmal Feinde hat. Historische Erfahrung läßt dies als kluge Politik erscheinen. Es wird auch durchaus darauf geachtet, daß Rußland nicht durch eigenes Verhalten wie aggressive Rhetorik oder zu expansive Politik gegenüber der GUS sich keine neuen Feinde schafft. Allerdings bekommt dies einen durch und durch taktischen Charakter durch den mehrfachen Hinweis auf die derzeitige Schwäche Rußlands, die dies geboten sein lasse.

 

Wie soll denn Rußland Vertrauen bei den anderen weltpolitischen Akteuren gewinnen, wenn es die derzeitige Schwäche als Hauptgrund für zivilisierteres Verhalten ansieht und nicht die bessere Einsicht. Nach wie vor wird Außenpolitik als Machtkampf, als eine Art kalter Frieden angesehen, der nur nicht wieder in kalten Krieg übergehen dürfe - solange dies Rußland in seiner Schwäche treffe.

 

Außenpolitik als eine kooperative Unternehmung, die neben der unvermeidlichen Konkurrenz auch kooperative Anstrengungen zur Lösung gemeinsamer Probleme beinhaltet, kommt sehr kurz und wird wiederum unter das Motto des "sacro egoismo" gestellt - gegenüber dem Westen nicht anders als gegenüber der GUS.

 

Aggressive Rhetorik stört nur

 

Aggressive Rhetorik wird von den Autoren abgelehnt. Sie sehen schon jetzt die Gefahr einer Verschärfung des internationalen Klimas durch rhetorische Abenteuer auf russischer Seite, durch Mystifikationen, Großmannssucht ohne reale Abdeckung oder durch den Glauben an russische Macht. Die Probleme werden scharf gesehen. Ein kooperativeres Verhältnis zum Westen und gute Beziehungen zu allen anderen Nachbarn werden ausdrücklich für wünschenswert erklärt.

 

Es könnte eine fatale Illusion der Autoren sein, wenn sie glauben, daß eine imperial ausgreifende Hegemonialpolitik ohne aggressive Rhetorik leichter akzeptiert würde als eine grobschlächtigere Variante. Wenn Rußland Hegemonialpolitik betreiben will, wird es die Folgen zu tragen haben auch wenn diese in "zivilisiertem Ton" vorgetragen werden.

 

Furcht vor erneuter strategischer Isolierung - wie 70 Jahre lang

 

Die strategische Isolierung Rußlands in den vergangenen 70 Jahren, Rußland ohne Freunde (der Warschauer Pakt wird realistischerweise nicht mehr als Freundschaftspakt, sondern als hegemoniales Herrschaftsinstrument angesehen) - das soll überwunden werden.

 

Westen (USA) nicht zu Bündnis mit der Russischen Föderation (RF) bereit

 

Die Autoren hatten zum Teil wohl geglaubt, im Kondominium mit den USA als gleichrangiger Partner den Großmachtanspruch wahren zu können. Man wollte Einigung mit dem Westen, ja Integration in den Westen, aber unter Wahrung des Supermachtstatus. Enttäuschung war damit vorprogrammiert.

 

Eine NATO-Erweiterung schwächt die Russische Föderation

 

Nach wie vor sieht Rußland seine größte Sicherheitsgefährdung durch Machtgruppierungen, an denen es nicht teilhat oder die es nicht beeinflussen kann. Da die NATO als Instrument der US-Hegemonie gesehen wird und die europäische Rolle dort völlig unterschätzt wird, ist auch jede NATO-Erweiterung eine Schmälerung Rußlands, solange es nicht mit den USA gemeinsam das NATO-Instrument nutzen kann, um Einfluß auf sein Umfeld (vor allem in Osteuropa) ausüben zu können.

 

Es ist interessant wie das Bild (die Karikatur) des Westens aus kommunistischen Zeiten weiterhin die Politik bestimmt, während die Suche nach neuen Zielen und Funktionen der NATO-Integration Rußland bisher fremd geblieben ist. Dahinter steckt sicher auch die fundamental andere frühere Erfahrung als Supermacht ohne wirklich gewichtige Partner.

 

Wirtschaftliche Instrumente einer hegemonialen Großmachtpolitik

 

Das Bild des gegenwärtigen und des zukünftigen Rußland

 

Die RF ist wirtschaftliche schwach und wird progressiv noch schwächer

 

Die Autoren sehen die Folgen des bisherigen Reformprozesses vor allem unter dem Gesichtspunkt einer machtpolitischen Schwächung Rußlands. Der Niedergang des militärisch-industriellen Komplexes (verbrämt als Verlust der technischen Intelligenz und der wichtigsten Technologien) wird als schmerzlich empfunden und nicht als unabdingbare Voraussetzung für die Umorientierung der russischen Wirtschaft auf den zivilen Sektor.

 

Wie die meisten Mitglieder der alten russischen Eliten, sind auch die Autoren sich nicht klar darüber, daß Rußland vor der harten Wahl steht: zivile Wirtschaft oder eine Wirtschaft als Machtbasis für eine Hegemonialmacht. Beides wird vorerst nicht zu haben sein.

 

Gefahr nationalistischer Selbstüberschätzung, die in Abenteuer führt

 

Die Gefahr einer irrationalen, nationalistisch-patriotischen Machtpolitik wird klar gesehen. Zugleich wird aber eine Art "aufgeklärter Machtpolitik" gefordert, die auf die technische Intelligenz (sprich auf den militärisch-industriellen Komplex), auf einen nationalen Entwicklungsplan (verfaßt von den Wirtschaftsexperten aus den alten technischen Industrie-Eliten) und auf Stärkung der Machtministerien (der alten Koalition von MID und Geheimdiensten) setzt.

 

Es wäre fatal für Rußland, wenn es diese alten Koalitionen nicht überwindet und den neuen Privatunternehmern, den wirklich produktiven zivilen Wirtschaftssektoren und dem Vorrang der inneren Entwicklung nicht Raum gibt. Die alten Eliten, die hier gefördert werden sollen und für eine primär nach außen gerichtete Politik stehen, für die Wirtschaftsentwicklung nur ein Instrument ist, können Rußland nur in eine Sackgasse führen. Die Autoren können das in intellektuell überzeugenderer Weise wie die primitiven Ultranationalisten, leider aber nicht mit besseren Folgen.

 

Neue Industriepolitik endlich umsetzen

 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Rußland eine Industriepolitik braucht, die neue Investitionen in Schlüsselsektoren fördert, die für die zivile Industrie zentral sind. Es ist auch richtig, wenn kritisiert wird, daß es dafür noch kein Konzept gibt. 

 

Der Hauptirrtum liegt darin, daß man Rußland für einen großen "Sanierungsfall" hält, daß der militärisch-industrielle Komplex nur marktwirtschaftlicher und effizienter organisiert werden muß, daß die bestehenden Strukturen nur modernisiert werden müssen. Tatsächlich ist Rußland ein Konkursfall, wo nicht viel zu retten ist. Mittel in Sanierung zu stecken, ist weithin Verschwendung. Das Geld fehlt dann für die dringenden Neuinvestitionen in neue zivile und soziale Sektoren (Konsumgüter, Dienstleistungen), ja sogar in die Sektoren, die Haupt-Devisenbringer sind (Öl und Gas). Wenn es in Rußland bisher keine überzeugende Konzeption für eine Industriepolitik gibt, dann liegt das auch daran, daß die unterschiedlichen Gruppen der bisherigen Industrie auf Sanierung setzen, während für einen Neuanfang bisher keine starken Gruppen (außerhalb eher intellektueller Gruppen um Gaidar usw.) stehen.

 

Technische Intelligenz bewahren

 

Dieses Stichwort richtet sich an die ungeheuer große Zahl der bisherigen technischen Eliten in Rußland. Wer im militärisch-industriellen Komplex arbeitete, wer an naturwissenschaftlichen Instituten eine Führungsposition hatte, galt früher als Teil der am meisten geachteten Eliten.

 

Heute ist diese intellektuell zwar einseitig orientierte aber doch sehr selbstbewußte Schicht deklassiert und demoralisiert. Sie bildet aus meiner Sicht das revolutionäre Potential in Rußland. Fällt diese Gruppe in die Hände fehlgeleiteter Demagogen, dann ist dies eine große Gefahr für Rußlands Stabilität.

 

Die Illusion der Autoren liegt in dem Glauben, diese Elite könne in ihren bisherigen Berufen oder Tätigkeiten bewahrt werden. Das geht nur, wenn weiterhin der Vorrang einer Macht-Wirtschaft vor einer Markt-Wirtschaft gilt. Das würde aber die Verewigung der Entwicklungsfehler des Sowjetsystems bedeuten. Diese Menschen müssen auf neue Ziele umorientiert werden und bisher ist keiner sichtbar, der diese neuen Ziele definierte oder als Führungspersönlichkeit dafür auftreten könnte.

 

Einzige Hoffnung wäre, wenn viele dieser Menschen sich in kleinen Privatbetrieben eine eigene Existenz aufbauten. Es spricht aber wenig dafür, daß das wirklich geschieht. Die technische Intelligenz ist keine ökonomische, es sind weithin Menschen, denen Eigeninitiative nie erlaubt war und die in Kategorien von Zentralplanung und -lenkung dachten.

 

Technologien bewahren

 

In Rußland werden die technologischen Leistungen, die unter dem Sowjetsystem erzielt wurden, weiterhin grob überschätzt. Tatsächlich sind diese technischen Leistungen sehr punktuell und vielfach auf Sektoren konzentriert, die keinen Markt haben. Außerdem wird unterschätzt, daß technische Leistung ein Nichts ist, wenn sie nicht mit Mut, Initiative, Organisation und Ökonomie verbunden ist - erst alles zusammen ergibt Innovation.

 

Rußland braucht also neue Technologien, nicht die Bewahrung der alten. Dabei kann es auf hohem intellektuellem Niveau der theoretischen Wissenschaften aufbauen, nicht aber auf der viel zu engen Forschung der Betriebe, die oft unfähig sind, aus dem alten Schema auszubrechen und deren Spektrum in der Regel so eng definiert ist, daß Fachidiotentum eher die Regel als die Ausnahme ist.

 

Recht und Ordnung

 

Eine Stärke der Argumentation der Autoren liegt in der Betonung der Notwendigkeit einer stabilen Rechtsordnung für den Wiederaufbau der Wirtschaft.

 

Problematisch ist auch hier, daß es einen erheblichen - wenn auch zur Zeit eher verdeckten - Dissens in den russischen Eliten gibt, welche Art Rechtsordnung Rußland brauche. Durch "Recht und Ordnung" kann der Spielraum für private Initiative ebenso geschützt werden wie er in ein Zwangskorsett eingeengt werden kann. Die Neigung der im alten Denken erzogenen Eliten geht weiterhin in Richtung von mehr Regulierung und Kontrolle und weniger in Richtung Stärkung des Rechtsweges und der Privatautonomie. Das zeigt sich immer dann, wenn im Grunde vernünftige Einrichtungen, die für die Marktwirtschaft geschaffen werden, sich schnell wieder an dem alten Muster des Staatskontrolleurs orientieren - so z. B. die Steuerpolizei.

 

Begrenzung Korruption

 

SIC: Nur "Begrenzung", nicht Bekämpfung, wird für realistisch gehalten, wahrscheinlich zu Recht.

 

Es ist zu bemerken, daß ein gewisses Maß an Korruption zwar unmoralisch ist, die Entwicklung einer erfolgreichen Wirtschaft aber nicht unbedingt verhindert (siehe Japan, Teile Lateinamerikas). Das Problem in Rußland ist, daß ein Teil der alten Strukturen (zum Beispiel auch im Außenhandel) aus durch und durch korrupten kommunistischen Strukturen nahtlos in die Marktwirtschaft überwechselt und sich dort als sehr anpassungsfähig erweist. Wenn aber Korruption zum Staatssystem wird, dann kann es zu massiven Störungen der Stabilität kommen.

 

Strategie des Aufschwungs fehlt in der RF

 

Es gibt tatsächlich nicht eine Strategie, sondern viele in Rußland - viele, die auch gleichzeitig verfolgt werden und sich teils sogar widersprechen. Die Autoren deuten nur an, daß sie den Aufschwung durch wirtschaftliche Sanierung und Anpassung in den technischen Branchen sehen, wo Rußland bereits hohes Potential hat, auch im Waffenmarkt, und daß sie ausländisches Kapital für wichtig halten (die Machtpolitik soll so vorsichtig betrieben werden, daß das westliche Kapital nicht versiegt).

 

Die Autoren sind zur Definition einer Strategie des Aufschwungs sicher kaum in der Lage, weil sie die wirtschaftliche Erholung als instrumental für Aufbau von Machtpositionen sehen. Damit würden sie aber zurück zu einer Variante des Sowjetmodells - ohne dies wahrhaben zu wollen. So ist die vorgetragene "realistische" Position in hohem Maße unrealistisch.

 

Unabhängige Kommission für wirtschaftliches Entwicklungskonzept

 

Als Lösung wird vorgeschlagen, eine unabhängige Kommission mit der Ausarbeitung eines nationalen Entwicklungsplanes zu beauftragen.

 

Da die Personaldecke der zu Reformpolitik fähigen Gruppen sehr dünn ist, fragt sich, wer dann noch zu einer unabhängigen Kommission gehören könnte. Viele der Autoren des Papiers sehen sich wohl selbst als Mitglieder einer solchen Kommission. Das wäre natürlich überhaupt keine Lösung, weil es in Rußland keinen unabhängigen Sachverstand gibt, der über den Parteiungen über die Reformkonzepte stünde. Jeder ist Partei, und jede Berufung in eine solche Kommission wäre schon eine politische Festlegung der Ergebnisse. Daher nützt so eine Kommission überhaupt nichts - vielleicht schadet sie sogar - wenn ihr mehr Autorität zugemessen wird als anderen Stimmen.

 

Taktisches und Strategisches Denken wird mit fundamentalen Grundsätzen stark vermischt

 

Es war immer ein Kennzeichen des marxistisch-leninistischen Denkens, daß taktische Gesichtspunkte und fundamentale Orientierungen jederzeit in einem dialektischen Widerspruch gesehen wurden, daß Lüge und Verstellung als so normal und legitim angesehen wurden, daß die minimale Vertrauensbasis für ein Gespräch oft verlorenging. Jede Überzeugung war Teil des dialektischen Fluidums, in dem nichts stabil war, in dem die Umstände (das Sein) jederzeit das Bewußtsein auf den Kopf stellen konnten. Die Autoren lassen noch viel von diesem Denken erkennen, wenn sie durch manche Formulierungen verraten, daß ihr jetziges Bewußtsein ganz durch das Sein der Schwäche Rußlands bestimmt ist, aus der man das Beste. machen müsse, indem man das kleinste Übel wähle - immer wieder schimmert der Gedanke durch: Wenn wir erst einmal wieder erstarkt sind, ... 

 

Kräfte sammeln, Achtung und Selbstachtung fördern

 

So dient die Konzentration der Kräfte vor allem dem Ziel, Stellungen aufzubauen für eine neue Runde im ewigen Kampf des Daseins, der offenbar einfach ungefragt vorausgesetzt wird. Kein Wort fällt über die neuen großen Herausforderungen: von einer Weltwirtschaft des Wachstums, zu einer mit "sustainable growth" (Rio--Konferenz) überzugehen, den Planeten bewohnbar zu halten und die Atmosphäre und das Wasser des Lebens zu bewahren, den Hunger und das Elend in den sogenannten Entwicklungsländern zu überwinden und Konflikte zu lösen statt sie auszunutzen.

 

Die Selbstachtung ist den russischen Eliten weithin verlorengegangen, weil sie an das Imperium geknüpft war. Selbstachtung war an Achtung durch andere gebunden, an Achtung auf Grund von Macht und Angst vor Gewalt. Notfalls wurde die Geschichte gefälscht und jede wichtige Erfindung einem Russen zugeschrieben - die Lüge war sekundär, die Selbstachtung stieg trotzdem. Wenn die Russen nicht lernen, Achtung auf individuelle Leitung und nicht auf Machtsymbole zu stützen, werden sie noch einen weiten Weg zu gehen haben. Wichtig wird sein, daß der Westen Rußland Achtung zeigt, wo es wirkliche Leistungen zeigt und die Achtung ebenso klar verweigert, wo sie sich nur auf Macht zu stützen versucht.

 

Fundamentales Großmachtdenken, Unilateralismus

 

Derzeit zu geringe Hebel, Hebel kommen mit wirtschaftlichem Aufschwung

 

Immer wieder ist davon die Rede, daß derzeit die Hebel nicht vorhanden sind, um überzogene Ansprüche zu stellen. Damit wird aber zugleich insinuiert, daß solche Ansprüche legitim seien, wenn erst solche Hebel vorhanden sind.

 

Die mechanistische Auffassung der Außenpolitik als einer mechanischen Balance mit hebeln und mit (Daumen-) Schrauben ist ebenfalls ein Relikt des verkommenen dialektischen und historischen Materialismus Stalinscher Prägung. Es gilt als "professionell", Hebel zu suchen, um den Partner zu zwingen - der Partner ist immer auf der anderen Seite der Waage, es sei denn er befindet sich in einem vorübergehenden Bündnis. Es ist das Bild eines Nullsummenspiels mit vielen Partnern, aber nur einem Rußland, das wieder an den langen Hebel möchte. Kein Wort von Solidarität oder gemeinsamen Problemen.

 

Denken in Hegemonialsphären

 

Der GUS-Teil ist völlig vom Denken in Hegemonialsphären geprägt. Die Diskussion geht allein darum, welche Form der Machtausübung über die armen Nachbarn sinnvoll und wirksam ist und im russischen Interesse liegt.

 

Dies ist ein weit verbreitetes Phänomen. Auch sehr vernünftige Leute in Rußland können sich nicht damit abfinden, daß irgendeine der früheren Sowjetrepubliken einen eigenen Weg geht. Gegenüber dem Baltikum wird zähneknirschend hingenommen, daß nur ein begrenzter Einfluß besteht, bei allen anderen wird offen etwas angestrebt, was man nur als indirekte, aber totale Beherrschung beschreiben kann.

 

Bilateralismus statt Multilateralismus als Hegemonial-Instrument

 

Interessant ist, daß ein GUS-Multilateralismus ausdrücklich nicht angestrebt wird. Dies würde Rußland nicht erlauben, sein Gewicht voll gegen alle übrigen gemeinsam auszuspielen, es könnte zu Bündnissen gegen Rußland im multilateralen Stimmverhalten kommen. Die Autoren sehen aber die GUS als Hegemonialraum, in dem Rußland die Richtung bestimmt. Ein gewisser Multilateralismus wird nur als vorübergehende Taktik angesehen.

 

Taktik: Eindruck vermeiden, "the Empire strikes back", keine agressive Rhetorik, die nicht abgedeckt ist

 

Wie schon oben angesprochen, werden diese an sich vernünftigen Ratschläge auch und vor allem unter taktische Ziele gestellt. Der Westen soll beruhigt werden, den Nachbarn die russische Hegemonie schmackhafter gemacht werden. Nach Stärkung RF soll auch noch mehr GUS-Integration möglich sein noch über die politisch-militärische Komponente hinaus. Was ist das anderes als völlige Beherrschung? Damit wird vieles von den für den Westen beruhigenden Elementen der Stabilisierung im GUS-Raum wieder entwertet. Wenn dann das Konzept "Leadership (Hegemonie) statt Kontrolle" als geringeres Übel bezeichnet wird, dann stellt sich die Frage nach dem Idealzustand, der ja offenbar nur an den gegenwärtigen Machtverhältnissen scheitert. Damit steht aber die Stabilität dieser schon recht expansiven Doktrin zusätzlich in Zweifel.

 

Wirtschaftliche Hebel

 

Unter den mechanischen "Hebeln" der Außenpolitik nehmen wirtschaftliche Hebel einen wichtigen Rang ein. Bezeichnend bleibt, daß die Wirtschaft nicht Selbstzweck ist bzw. zum Zweck der größten Wohlfahrt der größten Zahl dient, sondern Teil der Hebel der Machtpolitik sein soll.

 

Kapitalverflechtung, Kapitalexport in für RF interessante Branchen, Debt for Equity

 

Diese Politik verfolgt Rußland schon seit geraumer Zeit. Hinhaltender Widerstand der anderen Republiken wird mit Geduld und unter Zeigen von Folterinstrumenten langsam überwunden. Rußland kauft die Teile der Industrie auf, die für die Nachbarländer zur Quelle einer Eigenständigkeit werden könnten. Schulden bei Rußland werden rücksichtlos als Druckmittel verwendet (während Rußland gleiches dem Westen vorwirft, der allerdings sehr großzügig mit den russischen Schulden umgeht).

 

Während Rußland sich bisher nicht bereit zeigt, die interessantesten Branchen dafür freizugeben, gegen Ablösung russischer Schulden von Ausländern gekauft zu werden, wird genau dies unter massivem Druck von der Ukraine und anderen GUS- Staaten verlangt. Zugleich verlangt Rußland freien Zugang zu den Investitionen in den GUS-Staaten. Dabei wird zugleich versucht, westliche Investitionen dort zu behindern (siehe russisches Verhalten gegenüber den BP-Plänen in Aserbeidschan)

 

Die russischen Autoren teilen offenbar diese Vision des abhängigen Kapitalismus - wieder nach Vorbild der USA in Lateinamerika - Shirinowskijs Ideen dazu sind weiter verbreitet, als seine Clownerien vermuten lassen! - Allerdings besteht auch eine große Illusion. Die Verflechtung setzt wiederum bei der Sanierung sowjetischer Strukturen an und ist damit ebenso zum Scheitern verurteilt wie der versuch innerhalb Rußlands auf die alten Betriebe zu setzen.

 

Interessanter und aussichtsreicher ist der Versuch, durch Neuinvestitionen und Kapitalverflechtung auch mit westlichen Investitionen in GUS-Staaten (die uns immer wieder vorgeschlagen werden) eine russische Machtstellung in den alten/neuen Märkten zu etablieren. Es wird darauf zu achten sein, ob dies zum Schaden westlicher Unternehmen und mit dem Ziel, diese irgendwann zu verdrängen geschieht oder ob es bei gleichberechtigter Teilhabe bleiben soll - eher die weniger wahrscheinliche Idee.

 

Freier Warenverkehr, offene Märkte für Rußland

 

Die neuen GUS-Grenzen haben Rußland sicher geschadet, wenn auch geringer als dies von den alten Eliten behauptet wird. Rußland folgt heute der Theorie, mit der es westlichen Neokolonialismus seinerzeit denunziert hat: wirtschaftliche Abhängigkeit statt direkter Beherrschung anzustreben. Die Politik der für Rußland offenen Märkte als Grundlage für Aufschwung der russischen Wirtschaft erinnert ebenfalls an Strategien der USA und Großbritanniens aus dem letzten und dem beginnenden 20. Jahrhundert.

 

Solange die offenen Märkte auf Gegenseitigkeit beruhen, wäre dies sicher auch zum Nutzen der übrigen GUS-Staaten. Der Ton des Beitrags in der Nesawisimaja Gaseta ist allerdings von der Assymetrie zwischen Rußland und anderen Partnern durchdrungen. Bilateral soll der starke Partner diktieren, was dem schwächeren frommt - nicht mit Gewalt, aber mit der Drohung, man könne warten und den Partner im Stich lassen (z. B. keine Energie liefern) oder die Stabilität seiner Regierung nicht garantieren (was ist das anderes als Drohung mit Subversion) -.

 

Zahlungsabkommen → Zahlungsunion, aber keine Währungsunion (Ausnahme Belarus)

 

Die Autoren liegen hier ganz auf der Linie, die auch Boris Fjodorow immer vertreten hat: Rußland soll sich von den Fehlern der anderen abkoppeln und nicht zulassen, daß die Republiken ihre Probleme auf Kosten Rußlands lösen, indem sie Inflation exportieren und Rußland für die Subventionierung von Energie und Nahrungsmitteln verantwortlich machen.

 

Eine Zahlungsunion, in der ein regulärer Zahlungsverkehr möglich wird, liegt natürlich gerade im Interesse des größten Gläubigers Rußland. Die Verantwortung für die Währungen aber, die auch eine Kopplung der Wirtschaftspolitik nach sich ziehen müßte, wäre für Rußland nur risikoreich.

 

Hauptzielrichtungen

 

Die Konzentration der Kräfte erfordert den Verzicht, überall auf der Welt präsent zu sein. Dies ist eine Absage an die frühere sowjetische Politik der globalen Supermacht. Die RF soll vorerst weiter auf globalistische Politik verzichten, heißt es - also nicht etwa auf alle Zeiten

denn das Motiv ist Schwäche Rußlands, nicht Einsicht darin, welchen Kosten solche Globalpolitik Rußland in jedem Falle aufbürden würde. Interessant ist, wo nun diese Konzentration hinzielen soll: Zuerst werden Regionen genannt, auf die sich russische Machtprojektionen richten, dann immer wieder der Hauptpartner und im Grunde doch auch Hauptantagonist USA genannt - in verschiedensten Zusammenhängen, auch Asien und der Pazifik rangiert noch vor Europa während Europa nur am Ende und eigentlich nur unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung der USA und der Zähmung Deutschlands durch ein europäisches Sicherheitssystem betrachtet wird.

 

Indien

 

Indien wird an erster Stelle genannt - nicht anders als in den Wolkenkuckucksplänen Shirinowskijs. Hier kann Rußland an traditionelle Verbindungen anknüpfen, wirtschaftlichen Interessen kommt entgegen, daß es sich um einen für russische Waren in Grenzen aufnahmefähigen Markt handelt, der dynamisch wächst.

 

Die Illusion könnte darin liegen, daß Rußland an die Erhaltung des indischen Marktes glaubt, wenn dieser sich langsam liberalisiert. Dann wird aber Qualitätswettbewerb möglich werden und dort verliert Rußland bis auf weiteres noch jeden Konkurrenzkampf. Man könnte sagen, je verstaatlichter und weniger dynamisch die indische Wirtschaft bleibt, desto mehr Chancen für Rußland - aber desto weniger zukunftsträchtig der indische Markt.

 

Südosteuropa (Griechenland, Bulgarien)

 

Die Autoren haben offenbar vergessen, daß Griechenland zur EU gehört. Die Griechen selbst haben durch ihre nationalistische Balkanpolitik zu diesem Eindruck sicher viel beigetragen und die Hoffnung genährt, daß die EU-Bindung Griechenlands Rußland nicht an Machtprojektionen Richtung Griechenland hindert. Zugleich wird auf den griechisch-türkischen Gegensatz gesetzt. Bulgarien und Griechenland dürften solchen Ideen zum Teil offen gegenüberstehen.

 

Auch hier übrigens eine gefährliche Nähe zu Shirinowskij. Ein russischer Schwerpunkt auf dem Balkan mit Bulgarien als predilektem Partner, Griechenland als Verbündetem und Serbien als Säbel ist nicht weit von den Konstellationen der früheren Balkankriege entfernt.

 

Wahrscheinlich ist Rußland vom Balkan ebenso wenig fernzuhalten wie Deutschland (beide sind nah genug) - aber gerade hier sehe ich die an sich wichtige europäische Einbindung Rußlands nicht als realistisch an, die allein Großmachtambitionen in diesem Raum bremsen könnte.

 

Südosteuropa als Einflußzone Rußlands ist eine Aussicht, die frösteln lassen sollte. Serbien wartet ja schon auf einen Wechsel in Rußland, bei dem die "vernünftigen" Kräfte zur Macht kommen, die realistische Machtpolitik treiben - Ich glaube, daß auch Miloszevic seine Politik für Realpolitik hält - die Realitäten jedenfalls haben ihm bisher Recht gegeben.

 

Die Gefahr in der "realpolitischen Haltung" auch unserer Autoren ist, daß sie auch wenn sie eine sehr vorsichtige und gegenüber dem Westen eher kooperative Politik empfehlen, zugleich nicht einsehen, welche Risiken das Spiel mit dem Feuer von Machtprojektionen auf dem Balkan birgt. Nicht die Lösung der Probleme um Sarajewo wurde (wohl auch von den Autoren) gefeiert, sondern der "diplomatische Sieg" Rußlands.

 

Nahost

 

Eine erneute russische Rolle im Nahen Osten ist keine Überraschung. Alte Eliten, die jahrelang mit den arabischen Partnern vertraut sind, geben den Gedanken nicht auf, durch solche "proxies" (wie es die Amerikaner nennen würden) Einfluß ausüben zu können. Vor allem die Lobby der Waffenexporteure sieht eigentlich nur im Nahen Osten eine Überlebenschance.

 

Frühere russische Waffenexporte gingen in eine große Zahl von Staaten, die entweder schon bankrott waren oder es auf Grund der Bindung an die UdSSR wurden. Auf dieser grundlage war ein gut Teil des russischen Waffenhandels völlig unwirtschaftlich. Heute wird von der Waffenlobby versucht, Beziehungen zu neuen Partnern anzuknüpfen, bisher mit nur sehr mäßigem Erfolg - daran sind natürlich die bösen amerikanischen Konkurrenten Schuld. Daher suchen sie den Ausweg, bei denjenigen alten Partnern anzuknüpfen, die zahlungsfähig sind und vom Westen keine Waffen bekommen: Irak und Libyen. Noch wird sehr vorsichtig auf eine Aufhebung der Embargos hingearbeitet, der Westen soll mitziehen oder Rußland entschädigen.

 

Ostasienpolitik, China

 

China als größter Nachbar mit der längsten Grenze zu Rußland bleibt ein zentraler Partner. Das Sonderverhältnis zu China bleibt aber ambivalent, Aussicht auf Chancen und Angst vor chinesischen Machtprojektionen halten sich die Waage. Die Autoren setzen auf Spannungsabbau gegenüber China und maximale Freundschaft. Zugleich ist China inzwischen zweitgrößter Handelspartner Rußlands. Eine überlegene russische Position ist nicht mehr erreichbar.

 

Pazifik: China, Japan, USA

 

Rußland sieht sich als pazifische Macht, seine Teilnahme an APEC hat das demonstriert. Die RF ist auch ein pazifischer Staat, Japan, USA, Kanada werden als pazifische und zugleich zirkumpolare Nachbarn gesehen. Auffällig ist, daß die Wirtschaftsbeziehungen zu dem dynamischen asiatisch-pazifischen Raum völlig gegenüber den machtpolitischen zurücktreten.

 

Interessant ist die zirkumpolare Variante, die uns Europäern manchmal aus dem Blickfeld gerät, aber natürlich, mehr noch als die transatlantische Variante, Rußland und die USA zu Partnern und potentiellen Antagonisten im gesamten Raum von Lissabon bis Wladiwostok macht. Die Strecke für Flugverbindungen ebenso wie für Raketen ist über den Pol näher als jede andere Strecke zwischen den Zentren Rußlands und der USA (und Japans).

 

Mit dem Westen 

 

USA als Hauptpartner im Westen

 

Nur zwei traditionelle westliche Länder (ohne den Sonderfall Griechenland) werden überhaupt erwähnt: USA und Deutschland. Großbritannien, Frankreich, Italien bleiben merkwürdig ausgeblendet. Auch hier spiegelt sich machtpolitisches Denken wieder, denn sowohl als Mitglieder der G7 als auch der EU sind diese drei z. B. weit stärkere Länder durch ihre Wirtschaft als es das schwache Rußland ist. Aber die einseitig machtpolitische Sicht sieht nur den Niedergang nach Ende der Kolonialreiche und die angebliche Hegemonie der USA in der NATO und die weit schwächere Deutschlands in der EU.

 

Diese einseitige Sicht dessen, was der Westen ist, zeigt ein tiefes Nichtbegreifen dessen, was dort nach dem 2. Weltkrieg entstanden ist. Was wir dazu sagen, wird nicht geglaubt, weil es nicht erlebbar ist. Daß schärfste Konkurrenz mit Solidarität und Gemeinsamkeit einher gehen kann, geht den Russen bisher jedenfalls nicht ein. Hier liegt ein hohes Risiko für russische Fehlkalkulationen (die ja schon zu

sowjetischen Zeiten passierten, weil man den Westen nicht begriffen hatte! - und das liegt so lange gar nicht zurück!)

 

Kooperation soweit möglich, sektoral auch Konkurrenz

 

Nach dem "Ende der romantischen Phase" der Beziehungen zum Westen lautet der Hauptvorwurf, die russische Politik habe sich einseitig am Westen orientiert, sei entgegen russischen Interessen dem Westen hörig gewesen. Auch Kosyrew spricht davon, daß man in der früheren Lage habe vorsichtiger reden müssen. Die Konkurrenz auf manchen Gebieten: darunter wird vor allem der Waffenhandel

verstanden, der eben auch entgegen amerikanischen Wünschen den Iran einbeziehen müsse, der nicht jedes amerikanisch inspirierte Embargo beachten solle. Je nach politischer Richtung heißt das, daß Libyen, Irak oder sogar Serbien beliefert werden sollten.

 

Es bleibt offen - und soll es wohl auch - inwieweit die Autoren wirklich glauben, der Westen würde dies ohne Rückwirkung auf die Beziehungen zu Rußland hinnehmen. Es ist eine Position des Austestens der Belastbarkeit der Beziehungen zum Westen, die sich darauf verläßt, daß der Westen aus Eigeninteresse oder aus eigenem schlechten Gewissen auch eine weit "selbständigere und selbstbewußtere" Rolle Rußlands hinnehmen muß.

 

Schochin ist sowohl politisch wie wirtschaftlich ein Vertreter dieser Richtung in der aktiven Politik. Auch das Parteiprogramm der Dekabristen Fjodorows geht in diese Richtung. Es wird leider vergessen, daß solches Austesten nicht nur zu einer Erosion des gerade erst gewonnenen Vertrauens führt, sondern auch an gefährliche Bruchstellen heranführen kann.

 

USA und Deutschland als Hauptpartner in Europa

 

Die Autoren sehen Rußland offensichtlich als Vormacht in Europa, nicht aber als vorwiegend europäische Macht, sondern als eine Macht, die auch europäisch ist, dessen Interessen aber weit darüber hinaus reichen. Als Hauptpartner werden durchgehend die USA gesehen, im Grunde als einziger ebenbürtiger Partner der RF. Europa wird in dem ganzen Papier sehr stiefmütterlich behandelt und nur unter dem

Aspekt eines europäischen Sicherheitssystems und der Beziehungen zu Deutschland.

 

Dahinter steht selbst für die Beziehungen zu Europa wieder die Parität zu den USA, deren europäische Präsenz der Hauptgrund ist, warum ein europäisches Sicherheitssystem gewollt wird. Daneben wird nur Deutschland als europäischer Partner ernstgenommen, während die EU nur im deutschen Kontext wahrgenommen wird. Diese Sicht ist ebenso realitätsfern wie sie für die Denkweise der Autoren und wohl der Mehrzahl der russischen Akteure typisch ist.

 

Europäisches Sicherheitssystem mit RF, Isolierung vermeiden

 

Immer wieder wird die Furcht vor Isolierung erkennbar. Die Gefahr geht in erster Linie von den USA aus- solange die USA die NATO beherrschen, ist die NATO eine Gefahr. Erst wenn es zu einem Kondominium Russlands und der USA über die NATO kommt, ist das europäische Sicherheitssystem perfekt. Eine NATO mit Rußland als zweitem Pol neben den USA - damit Deutschland neutralisiert - der Rest der Welt zählt ohnehin nicht - das erst wäre das Ideal.

 

Wo immer diese Illusion herstammt- offenbar meinten manche der Autoren, daß nach Ende der ideologischen Gegensätze die strategische Partnerschaft, die die USA anboten, auf so etwas ähnliches hinauslaufen könnte. Das war sicher nie realistisch.

 

Das Insistieren auf einem europäischen Sicherheitssystem unter Einbeziehung Rußlands ist verständlich und bedenklich zugleich. Verständlich, weil die historische Erfahrung Rußlands die ist, daß vorübergehende friedliche Phasen nicht stabil sind, daß Rußland bedroht ist, wenn es nicht weit von seinen Grenzen entfernt verteidigt wird und weil deshalb die Chance einer weitgehenden Bereitschaft zur Verständigung genutzt werden muß, um solchen möglichen Situationen vorzubauen. Bedenklich, weil weit weniger in Modellen der Kooperation als in Vorbeugung der Konfrontation gedacht wird. Fähigkeit zur Konfrontation gilt geradezu als Ausweis der echten

Souveränität und außenpolitischer Professionalität. Interessendurchsetzung geht vor gemeinsamer Problemlösung, zu Kooperation gezwungen zu sein, ist ein Zeichen der Schwäche, souveräne Freiheit will sich nicht durch Zwang zum Kompromiß begrenzen lassen.

 

Westen in Dialog GUS-Integration einbeziehen

 

Unabhängig davon, daß die Vorstellungen von einer Hegemonie ohne direkte Herrschaft im Raum der früheren UdSSR jetzt und in Zukunft im Westen kein Verständnis finden werden, ist es ein guter und vernünftiger Vorschlag, darüber mit dem Westen in einen Dialog zu treten. Dies ist auch deshalb wichtig, weil eine gewisse russische Sonderrolle in diesem Raum trotz aller Widersprüche vorgezeichnet ist. Rußland ist zu groß und es wird in Zukunft zu mächtig sein, als daß nicht alles, was Rußland tut, selbst ohne jede bewußte Einmischung erhebliche Auswirkungen auf seine direkten Nachbarn haben wird. Der Westen sollte daher großes Interesse an diesem Dialog haben. Er muß aber zugleich sehr klar machen, daß er sich nicht in eine Hegemonialstrategie "einbinden läßt.

 

Eine Sonderrolle Rußlands zu verhindern, würde eine sehr aktive Rolle westlicher Staaten im GUS-Raum voraussetzen, die auch erhebliche Spannungen mit Rußland in Kauf nähme. Ich halte das für völlig unrealistisch und auch nicht für wünschenswert. Eine Ausnahme ist vielleicht das Baltikum, dessen Unabhängigkeit systematisch zu fördern sicher die Mühe lohnt.

 

In einem Dialog sollte das Ziel sein, die immer noch überschießenden russischen Absichten so einzuhegen, daß die Nachbarn Rußlands imstande sind, eine Rolle einzunehmen, die der Mexikos gegenüber den USA und nicht der Nikaraguas oder Grenadas vergleichbar wäre.

 

Ambivalenz gegenüber dem Westen

 

Russische Interessen nicht mit "einseitigem Blick nach Westen" vereinbar

 

Diese Behauptung wird von breiten Kreisen als Dogma hingenommen. Wohin Rußland denn sonst noch "blicken" solle, wird meist mit Hinweis auf China und Asien beantwortet. Allerdings wird hier kein wirkliches Modell für Rußland gesehen. Tatsächlich heißt die Gegenüberstellung "Westorientierung" oder "Selbstfindung als Gegenmodell gegen den Westen". Die Inhalte der Auffassungen der „Eurasisten“ und Panslawisten, der Autarkiebefürworter und der Prediger des "Dritten Weges" laufen alle letztlich auf ein Gegenbild zum Westen hinaus.

 

Man muß diese Haltung verstehen, denn es ist unmöglich, aus der russischen und sowjetischen Geschichte einfach auszusteigen. Allerdings ist die Auffassung, diese Geschichte sei vor allem Abgrenzung gegen den Westen gewesen, historisch falsch - es findet sein Symbol in der Heroisierung des Tatarenfreundes Alexander Newskij gegen die westlich orientierten Elemente Rußlands. Diese Haltung ist einfach nur antimodernistisch, sie erliegt der Illusion, als gäbe es eine besondere russische Mathematik, eine Umwertung aller  Naturgesetze nur für Rußland.

 

Tatsächlich ist diese Haltung eine Abwehr der Gefährdung des Status für diejenigen Eliten, Intellektuelle und Politiker, die sich dem Westen und der Modernität nicht gewachsen fühlen.

 

Eine Minderheit in der RF will einen neuen kalten Krieg, der für RF aus nachteiliger Position geführt werden müßte - Es wäre eine "Farce des kalten Krieges"

 

Die Autoren setzen sich von den "kalten Kriegern" als rationale und pragmatische Politiker ab. Ihr neoimperialer Ansatz gegenüber der GUS und ihre Fehleinschätzung der Folgen für das Verhältnis zum Westen relativiert aber diesen Unterschied wieder.

 

Der Vorteil der pragmatischen Position mag sein, daß die Autoren rationalen Argumenten und einem intensiveren Dialog mit dem Westen zugänglich sind. Allerdings bleibt der Dialog sehr schwierig, weil die zerstörerische Wirkung dialektischen Denkens die Gesprächsgrundlagen sehr erschwert, wenn taktisches Herangehen jedes Mal die Ehrlichkeit der Argumentation des jeweils anderen

infragestellt. Es wird ja nicht nur von russischer Seite "parteilich und dialektisch" argumentiert, sondern auch von den westlichen Partnern ein ähnlich unehrliches Argumentieren erwartet. Daraus dann die Substanz für stabile Abreden herauszudestillieren, ist sehr schwierig.

 

Reformen müssen eigenständig erfolgen, der Westen ist zu Hilfe unfähig oder nicht Willens

 

Die Erwartungen an den Westen waren vor allem Erwartungen an die USA. Die G7 und der restliche Westen wurden als Paladine der USA angesehen, die schon folgsam seien, wenn Washington Rußland nur unterstützte. Die Enttäuschung über mangelnde Unterstützung richtet sich deshalb auch vor allem an die USA.

 

Der deutsche Beitrag wird überwiegend als Folge der Kosten der Einheit und Preis für den Truppenabzug gesehen (und als viel zu billig!) und nicht als uneigennützige Hilfe (Dankesbekundungen sind nicht allzu ernst zu nehmen, sie kommen gerade aus dem Kreise der Autoren nicht).

 

Jetzt folgt aus dieser Interpretation natürlich auch die Furcht, daß Deutschland nach dem Truppenabzug kein Interesse mehr an Rußland haben könnte. Jelzin hat dies klar in Bonn ausgesprochen. Wenn Deutschland jetzt Rußland weiterhin unterstützt, wird dies vielleicht ernster genommen - zugleich aber sicher nach neuen Erklärungen gesucht - da hier niemand an Uneigennützigkeit glaubt.

 

Sinkendes Interesse an Rußland

 

Die Gefahr des sinkenden Interesses an Rußland ist sehr real. Im Westen gibt es viel Enttäuschung darüber, daß sich die hohen Mittel für Rußland bisher nicht in einer wirklich stabilen und erfolgreichen Entwicklung niedergeschlagen haben. Auch die wachsende nationalistische Welle in Rußland ist nicht dazu angetan, die Kooperationsbereitschaft im Westen zu fördern. Wenn in den USA der russische Neoimperialismus diskutiert wird, dann sicher in journalistischer Überzeichnung, aber der Kern ist auf russisches Verhalten zurückzuführen, sowohl auf das von den Autoren ja auch bedauerte rhetorische Geklingel als auch auf reales verhalten. Die Thesen der Autoren geben dieser Diskussion eher noch zusätzliche Nahrung.

 

Der Westen ist unfähig oder nicht willens, russischen Reformen zu helfen

 

Die Erkenntnis, daß die Reformen in Rußland zuallererst von den Russen selbst durchzuführen sind, ist keineswegs originell. Auch massivste westliche Hilfe kann Rußland nicht allein reformieren, der Schuh ist zu groß. Außerdem zeigt sich immer wieder die mangelnde Absorptionskraft Rußlands für wirksame Hilfe.

 

Einerseits ist man nicht bereit die Bedingungen für Hilfe zu verbessern, andererseits beklagt man mangelnde Bereitschaft. Einerseits werden die ausländischen Investoren eher abgeschreckt als auch nur geduldet, andererseits betrachtet man es als Mißachtung, wenn nicht massiv investiert wird.

 

Die bisherige westliche Hilfe, die für Rußland vielleicht nicht genug war, die aber im Vergleich zu weit bedürftigeren Entwicklungsländern gigantisch war, wird einfach nicht wahrgenommen. Hier liegt m.E. eine kognitive Dissonanz vor: Hilfe für eine Großmacht kann und darf nicht sein - deshalb wird sie einfach nicht wahrgenommen, sie bleibt etwas für Finanzexperten, aber Bedingungen werden nicht akzeptiert.

 

Es ist auch nicht auszuschließen, daß westliche Hilfe vielfach mit dem Willen einzelner Kreise zur Bereicherung identifiziert wird. Es ist ja Hilfe zum Aufbau des Kapitalismus in Rußland. Und das bedeutet eben, Reiche reicher machen und Arme ärmer. Wie schon gesagt, "der Aufbau der Karikatur des Kapitalismus", der Glaube an den früheren Teufel, der zum Gott wurde.

 

Der Westen kann und will Krisenherde am Rande Rußlands nicht befrieden

 

Hier liegt ein harter und wahrer Kern der Analyse. Der Westen kann und will nicht Ordnungsfaktor auf dem früher sowjetischen Gebiet sein. Die geopolitische Vorstellung eines entstandenen Vakuums, in das Rußland notgedrungen wieder hineinstoßen müsse, drängt sich vielen Russen auf - sollte der Westen hineinstoßen, wird Zeter und Mordio geschrien.

 

Tatsächlich ist der Westen und sind andere Staaten keine Machtfaktoren, die an der Peripherie Rußlands zählen. Nur im Baltikum stoßen die Interessen unmittelbar aufeinander. Finnland wäre ein weiterer solcher Staat, aber Finnland wird dem Westen klarer als bisher zuzurechnen sein, wenn es erst tatsächlich der EU beigetreten ist.

 

Hoffnung auf neue Verbündete im Westen (USA) enttäuscht

 

Rußland hat offensichtlich eine Mitverantwortung als Großmacht erwartet, die ihr von den USA zugestanden werden sollte, die auf einer Fehlbeurteilung der westlichen Strukturen insgesamt beruht. Das Mitspracherecht wird auch von den Autoren eingeklagt, allerdings nicht mehr global (vorübergehend jedenfalls) sondern in regionalen Schwerpunkten (siehe oben).

 

Die russischen Argumente sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Wo Russen leben, gibt es auch legitime russische Interessen, wo Rußlands Sicherheit betroffen ist, gibt es das ebenfalls. Der Esten sollte daher dringend einmal sich darüber klar werden, was er als legitime russische Interessen zu akzeptieren bereit ist und wo er ein Ausgreifen von angeblichen Interessen über das legitime Maß hinaus sieht.

 

Westliche Doktrinen aus jüngster Zeit haben hier neuen Gefahren Tür und Tor geöffnet. So begründet das Prinzip der humanitären Intervention (nach Vorbild der Intervention zur Rettung amerikanischer Bürger in aller Welt, die die USA immer vertreten haben) - ausprobiert in Somalia - unter dem Dach der VN geradezu einen Anspruch darauf, so auch zugunsten angeblich unterdrückter russischer Minderheiten einzugreifen - und wenn die VN sich gegen Rußland verschwören, muß es eben allein handeln. Auch das Eingreifen zugunsten der Menschenrechte in Bosnien kann ambivalente Folgen haben und ein ähnliches Eingreifen in der Ukraine oder im

Baltikum rechtfertigen, sollte sich die Lage dort destabilisieren.

 

Das alte nicht mehr moderne - aber weit striktere Nichteinmischungsgebot war grausam für die betroffenen Menschen, deren Schicksal untätig zugesehen wurde - in einer Lage der Gefahr einer größeren Konfrontation bleibt aber auch in Zukunft vielleicht nur dieser Weg (z.B. im Falle eines Konflikts um die Ukraine).

 

Westen mißachtet russische Interessen, weil die RF nicht mächtig ist

 

Es fällt auf, daß die Autoren diese Behauptung aufstellen ohne auch nur klar zu sagen, welche russischen Interessen denn mißachtet würden. Offenbar handelt es sich um Prestigemomente - wie die Einbeziehung in Bosnien.

 

Kritisch könnte sein, daß diese Behauptung vor allem auch rechtfertigen kann, daß Rußland zu einem späteren Zeitpunkt - wenn es mächtiger ist - Vereinbarungen und Arrangements mit dem Westen über den Haufen wirft, weil diese ja nur auf Grund der russischen Schwäche zustande gekommen seien. Es gibt genug Leute aus den alten Eliten, die jegliches Eingehen auf westliche Interessen als Verrat an russischen Interessen sehen.

 

Tatsächlich nur geringe Interessengegensätze

 

Es ist sehr wichtig, daß die Autoren herausstellen, daß die realen Interessen Rußlands und des Westens sich kaum unterscheiden. Aber auch hier bleiben die tatsächlichen Inhalte seltsam diffus. Insgesamt sind aber die Thesen auf Kooperation mit dem Westen eingestellt, Konfrontation nehmen sie nur in zu hohem Maße als Risiko in Kauf der Fehler ist, daß das Risiko unterschätzt wird, selbst durch

russisches verhalten Konfrontation heraufzubeschwören (ein oft auch von den Sowjets begangener Fehler)..

 

Westen fürchtet neuen Expansionismus

 

Richtig! aber die Thesen der Autoren beruhigen diese Furcht nicht, sondern nähren sie noch. Offenbar meinen die Autoren, daß nur direkte Eroberung als Expansionismus gilt, zumal das Verhalten westlicher Länder (USA-Lateinamerika, Frankreich-Westafrika) nahelegt, daß indirekte Beherrschung nicht dazurechnet.

 

Unterschätzt wird, daß das Denken in Einflußzonen sich im Westen abgeschwächt hat, weil globale Probleme mehr in den Vordergrund rücken - Probleme, die die russische Öffentlichkeit noch kaum wahrnimmt. 

 

Eine Minderheit im Westen beschwört die russische Gefahr und will einen neuen kalten Krieg

 

Dies ist eine Interpretation westlichen Verhaltens, die als symmetrisch zu den Auseinandersetzungen in Rußland gesehen wird. Dabei wird bewußt außer Acht gelassen, daß die Mehrheit der Warner vor Rußland und der Befürworter eines weiteren containment erst durch russisches Verhalten in Abchasien, der Moldau, Tadschikistan, Aserbeidschan/Armenien und Georgien eine Rechtfertigung für ihre

Positionen gefunden hat.

 

Die alte Argumentation, durch eine wenig nachgiebige Haltung stütze man die "Falken" in Moskau, ist eben auch auf den Westen anwendbar- das müssen russische Politiker erst noch begreifen; sonst fördern sie, was sie als Popanz schon darstellen.

 

Einige im Westen wollen keinen russischen Einfluß auf Weltpolitik

 

Auch dies eine richtige Feststellung. ich würde sogar sagen, die meisten im Westen und die große Mehrheit der betroffenen Völker erinnert sich nicht mit Begeisterung an den sowjetischen Einfluß auf die Weltpolitik und sieht einem ähnlichen russischen Einfluß nicht mit Enthusiasmus entgegen.

 

Das ändert gar nichts daran, daß Rußland diesen Einfluß de facto hat, wo es ihn ausüben will. Als Mitglied des Sicherheitsrates und durch immer noch große militärische Macht hat Rußland ein hohes Störpotential für die Weltpolitik, selbst wenn es kaum gestaltend eingreifen kann. Dieses Störpotential zu neutralisieren und die Macht in konstruktive Bahnen zu lenken bleibt eine schwierige Aufgabe. Die Autoren sind dafür dialogbereite aber bisher noch keine überzeugten oder überzeugenden Partner.

 

Der Westen könnte Rußland strategisch isolieren, GUS-Integration bremsen und im Innern destabilisieren

 

Allein die Unterstellung geht immer noch von konfrontativen Strukturen der Beziehungen zum Westen aus. Das zeigt, daß auf beiden Seiten auch von Seiten des Westens noch viel Vertrauensbildung nötig ist, bis das Denken des kalten Krieges in den Köpfen vergangen ist. Und auch die Russen müssen bewußt eine Politik der Vertrauensbildung betreiben. Dazu gehört Ehrlichkeit statt Dialektik - dies

sei den Autoren ins Stammbuch geschrieben, die Professionalität mit Machiavellismus verwechseln.

 

Eine NATO-Erweiterung ohne die RF richtet sich gegen die RF

 

Die Russen haben recht, wenn sie hinter dem Streben der Osteuropäer in die NATO die Furcht vor Rußland vermuten. Daraus schließen sie, daß eine erweiterte NATO sich automatisch gegen Rußland richten müsse. Dies wäre aber nur dann so, wenn Rußland die osteuropäischen Nachbarn tatsächlich bedrohen würde. Zu einer solchen Bedrohung gehört auch die Gefahr hegemonialen Verhaltens seitens Rußlands.

 

Ich will hier nicht die derzeit diskutierten Auswege ansprechen. Aber weder darf Rußland die NATO durch Kondominium neutralisieren, noch sollte sich die NATO zum Knüppel osteuropäischer Ängste machen lassen, solange russisches Wohlverhalten durch Dialog erreichbar erscheint.

 

USA als Hauptpartner, Polar-Nachbarn USA, Kanada, Japan

 

Vom Westen wird weniger erwartet als noch vor Jahresfrist. Die westliche Einschätzung der Rußlandhilfe kontrastiert erheblich gegen die russische. Die USA werden als Hauptpartner deutlich gegenüber allen anderen hervorgehoben. Dann wird aber beklagt, die USA orientierten sich zunehmend nach innen. Die Bush-Politik des Vorrangs der Außenpolitik kam gerade den Autoren sicher entgegen, zumal

auch die Bush-Administration ein eher klassisches Verständnis von Außenpolitik als Machtpolitik hatte.

 

Es wird unterschätzt, daß mit Clinton wahrscheinlich mehr als früher moderne Formen der Außenpolitik, kooperative Formen, gemeinsame Problemlösungen möglich wären. Das haben die Russen bisher mangels Verständnis für die verstärkt innenpolitischen Parameter in den USA bei den meisten demokratischen US-Präsidenten nicht begriffen, zu Mißverständnissen kam es mit Kennedy, mit Carter und jetzt mit Clinton.

 

Asienpolitik - Japan, China, Pazifikpolitik

 

Die Asienpolitik wird herausgestellt - klar noch vor der Europapolitik. Maximal freundschaftliche Beziehungen zu China sind angesichts der langen beiderseitigen Grenze auch im Interesse des Weltfriedens notwendig und sollten auch vom Westen positiv gesehen werden.

 

Interessant ist, daß damit eine weit über Europa hinausweisende Rolle Rußlands klar definiert wird. Dies wäre in keiner Weise vereinbar mit einer Integration Rußlands in der sich ausweitenden Europäischen Union, obwohl es auch dort (mit abnehmender Bedeutung) noch Sonderinteressen gibt (wie z.B. Frankreichs Interessen in Afrika).

 

Die Rolle Japans bleibt sehr blaß, Südkorea wird ebenso wenig als Partner erwähnt (der er inzwischen ist) wie Nordkorea als Problem (dem sich Rußland wird stellen müssen).

 

Der Anspruch als Pazifik-Anrainer mitzureden wird gestellt, aber eigentlich nicht weiter sachlich untermauert. Wo soll denn Rußland dort mitreden? Wirtschaftlich ist es in Asien noch kein bedeutender Faktor (mit Ausnahme des China-Kleinhandels).

 

Europa

 

Europas Rolle bleibt für die Autoren besonders unverstanden und blaß. Die europäische Integration ist kaum weniger unverstanden wie zu sowjetischen Zeiten. Richtig ist sicher, wenn die Handlungsfähigkeit Europas derzeit als begrenzt angesehen wird. Die Erfahrungen auf dem Balkan sprechen Bände. Der behauptete Europessimismus ist wohl eher Reflex amerikanischer Mode-Diskussionen. Ich halte

das eher für ein Gerede, das den Unmut über die Brüsseler Regelungswut und das Desinteresse an Details der Marktordnungen schon als Zeichen für Europessimismus nimmt.

 

Sicher, Deutschland konzentriert sich auf neuen Bundesländer, aber wir können uns eigentlich nicht vorwerfen, dabei Osteuropa vernachlässigt zu haben. Sicher hat die Außenpolitik angesichts der Binnenorientierung, die teils provinzielle Züge , nicht das notwendige Gewicht - das ist aber seit langem der Fall.

 

Die Post-Maastricht-Krise sollte jedenfalls nicht überschätzt werden, nach den spektakulären Ereignissen wie Maastricht und den Neubeitritten kommt eben wieder eine Zeit der konzentrierten Detailarbeit und dabei entwickelt sich Europa still und weniger spektakulär weiter.

 

Kein neues europäisches Sicherheitssystem ist entstanden, eine EU-Erweiterung ist unbedenklich

 

Ein europäisches Sicherheitssystem halten die Autoren für die RF für besonders wichtig. Dabei wird eine NATO-Erweiterung als einem solchem System widersprechend angesehen, während eine EU-Erweiterung nach Osteuropa in russischem Interesse sei. Dies ist eine überraschende Feststellung dem Papier.

 

Darin spiegelt sich eine Unterschätzung der politischen Kraft der EU wider, vielleicht auch die auch in der EU bestehende - Auffassung, daß die Erweiterung der EU diese bis zu einer losen Freihandelsunion verwässern könnte.

 

Unter einem europäischen Sicherheitssystem verstehen die Autoren und viele Russen überhaupt etwas anderes als wir im Westen: es  eht m.E. viel mehr um die Abgrenzung hegemonialer Interessensphären als um die kollektive Gewährleistung von Sicherheit jedes einzelnen Staates. Rußland will klären, bis wo sich die NATO und von wo an Rußland sich verantwortlich fühlen sollen für die Sicherheit der übrigen Länder, wo vielleicht Überschneidungen auftreten, wo Konflikte vermieden werden sollen. Ohne diese Denkweise gleich zu übernehmen, sollte der Westen einmal überlegen, wie er diese Fragen denn beantworten würde gerade unter dem Gesichtspunkt der Konfliktvermeidung.

 

Das Instrumentarium muß verändert werden

 

Die Vorschläge zur Veränderung des Instrumentariums der russischen Außenpolitik sind gegenüber den klaren Äußerungen zur Doktrin eher zurückhaltend, unsicher und wenig überzeugend. Die Klage, es gäbe keine einheitliche Stimme, keine Koordinierung der Politik, Ressortegoismen störten die Koordinierung - könnten aus jedem Land der Welt (und nicht zuletzt aus Deutschland) stammen und sind nicht sehr originell. Natürlich ist Außenpolitik eine Resultante innenpolitischer Kräfteverhältnisse und Meinungsbildung.

 

Die großen Hoffnungen auf Stärkung des Präsidialapparates dürften wenig begründet sein. Oder hoffen etwa alte außenpolitische Eliten, die im MID keine Chance mehr für sich sehen, auf neue Posten, wenn neue Apparate geschaffen werden? - Seltsam ist die Betonung der Rolle der Machtministerien, so z.B. des Offizierskorps auch der Geheimdienste. Sehen die Autoren eine Chance für die Machtministerien, wieder Einfluß auf Außenpolitik zu gewinnen? - Trauern sie der alten Verflechtung zwischen Geheimdiensten und Außenministerium nach - oder fürchten sie einen wirklichen Abbau dieser Verflechtung? - Das Papier biedert sich jedenfalls sowohl dem Militär als auch den Diensten an. Der Sicherheitsrat wird als ineffizient kritisiert. Der Dialog Legislative - Exekutive soll gestärkt werden. Beides ist sicher richtig.

 

Das Problem liegt darin, welche Politik damit befördert werden soll. Wenn unter Professionalismus machtpolitischer Realismus bis hin zu offenem Neoimperialismus verstanden wird, dann sind neue Strukturen von Lukin bis zu den Leuten der Abwehr (KontrRaswedki), von Konservativen im MID bis zu Kokoschin sicher ihre besseren Repräsentanten gegenüber plumpen "Patrioten" wie Ruzkoj oder Maschakow.

 

Die Forderung nach besseren Strukturen für GUS-Politik ist eine logische Folgerung aus dem Schwerpunkt, den die GUS für die Autoren bildet. Auch hier kommt es auf den Inhalt an, der mit den neuen Strukturen verbunden werden soll. Es gibt kein klares Votum, wo die GUS-Politik verfolgt werden soll, wohl aber eine Art Wettbewerb darum, wer sie am professionellsten, also am ehesten der Konzeption

der Autoren entsprechend betreiben will.

 

Personalpolitik

 

Die Autoren beklagen die Demoralisierung des Personals in MID und bei den KontrRaswedki (der Abwehr), denen das Personal weglaufe. Auch der Status der Offiziere solle verbessert werden, wobei eine Art "Bürger in Uniform" anzustreben sei.

 

Der Niedergang des öffentlichen Dienstes gefährdet in der Tat die Qualität der russischen Politik innen wie nach außen - die Bezahlung ist jämmerlich, das soziale Ansehen nicht hoch, der Reichtum der Neureichen für die früheren Eliten verletzend. Deshalb sind die Ziele der Autoren wichtig und legitim. Problematisch wird nur sein, im Rahmen welcher Doktrinen sozusagen die Sozialisierung der neuen Eliten stattfinden soll. Die Inhalte der Doktrin der Autoren knüpft zu sehr an altes an und verschüttet das Neue, was es in den vergangenen Jahren schon gegeben hat.

 

Auch die Forderung, durch bessere Masseninformation gegen Mystifikationen, gegen "einfache Lösungen", gegen parteipolitische Instrumentalisierung der Außenpolitik einzutreten, ist grundsätzlich richtig. Die Autoren wollen rationale, berechenbare Politik, die Konflikte vermeidet, Macht ausübt, aber Risiken begrenzt. Wenn dies die öffentliche Meinung in Rußland erreicht, dann wäre dies gegenüber heute ein Fortschritt. Vielleicht findet der mit "aufgeklärtem Imperialismus" getränkte Thesenapparat sogar leichter Zugang zur öffentlichen Meinung als stärker rationalistische Ansätze, die vielleicht weniger fruchtbaren Boden hätten.

 

Das Papier wirkt in der gegenwärtigen Meinungsbildung durchaus überwiegend rational und aufgeklärt, allerdings können die Inhalte, die z. T. unrealistisch und z.T. machiavellistisch sind, die Gefahr heraufbeschwören, daß Risiken eingegangen werden und Fehleinschätzungen eintreten und Enttäuschungen in emotionale Irrationalismen umschlagen. Auch sehr rationale Politiker in Rußland sind davor nicht gefeit.

 

Haltung zu den ehemaligen Sowjetrepubliken

 

Destabilisierung durch GUS-Entwicklung, russische Minderheiten

 

Sehr ernst genommen werden sollte die Furcht der Russen, durch Destabilisierung in GUS-Staaten vor allem in der Ukraine - auch selbst in den Abgrund gezogen zu werden. Die Furcht vor innerer Destabilisierung ist begründet, denn eine Regierung in Rußland kann einen rationalen Kurs nicht lange durchhalten, wenn Blut von Russen in Nachbarländern einmal vergossen wird und dazu reichen wenige

Provokationen aus. Der Zerfall Rußlands wird als weiterhin bestehende Gefahr angesehen. Das ist zunächst wenig wahrscheinlich. Eher beobachtet man eine Konsolidierung Rußlands in seiner jetzigen Form. Aber Im Falle einer schweren Krise der Ukraine ist ein Übergreifen auf Rußland durchaus möglich, ebenso wenn durch Nationalismus und andere Konflikte in der GUS Rußland sich zum Eingreifen gedrängt fühlt. Dann entstehen soziale Spannungen durch den dann fast sicheren wirtschaftlichen Mißerfolg, die Rußland in seiner gegenwärtigen Verfassung auch nicht ohne weiteres aushalten kann.

 

Hegemonieanspruch, Leadership statt Kontrolle - Modell USA/Mittelamerika

 

Das Konzept eines Hegemonieanspruchs, Leadership statt Kontrolle - ähnelt sehr dem Modell der langjährigen US-Politik gegenüber Mittelamerika, von der Willy Brandt einmal sagte: es sei eindeutig eine interventionistische Politik, man müsse den USA aber zugestehen, daß sie von allen Weltmächten noch am "zivilisiertesten" mit ihrer Klientel umgegangen sind. So wollen auch die Autoren eine Art

"aufgeklärten Imperialismus"

 

Ich werde das Gefühl nicht los, als kämen die Russen damit 70 Jahre zu spät. Wie in vielen deren Fragen auch der Wirtschaft - scheint die Zeit 1917 stehengeblieben zu sein und wie Rip van Winkle (Washington Irving) finden sich die Russen nicht in der veränderten Umwelt zurecht.

 

Die Ausarbeitung des Konzepts "Hegemonie statt Kontrolle" ist besonders ausgefeilt. Hier liegt im Grunde der Schwerpunkt des Konzepts der Autoren. Hier liegen auch trotz positiver Ansätze zur "zivilisierten Durchsetzung" und zum Dialog mit dem Westen darüber, klare neoimperiale Elemente.

 

Die Gründe für die Bevorzugung der indirekten Beherrschung sind machtpolitischer Natur. Wenn Vormacht ausspielen ohne Verantwortung zu haben als positiver Grund gewertet wird, ist das das Gegenteil von verantwortlichem Verhalten gegenüber den Nachbarn, denn es bedeutet Rücksichtslosigkeit gegenüber der inneren Entwicklung der neuen Staaten.

 

Wenn die billigere, wenn auch nicht kostenlose Variante gewählt werden soll, dann vor allem weil auf die innere soziale Lage nicht mehr Rücksicht genommen werden soll, solange nur die Stabilität bewahrt werden kann. Dies ist ein großer Rückschritt gegenüber den

inzwischen entstandenen entwicklungspolitischen Ansätzen im Westen gegenüber den früheren Kolonien. Wenn Bilateralismus statt Multilateralismus vorgeschlagen wird, dann allein als Herrschaftsinstrument nach dem Motto divide et impera. Auch die Bevorzugung

einer Zahlungsunion statt Währungsunion soll die Vorteile des Zahlungssystems vor allem für Rußland sichern. 


Die Erhaltung der Position der russischen Sprache ist übrigens eine erst neuerdings entdeckte Zielsetzung. Offenbar nimmt die Bedeutung der lokalen Sprachen zu, die zu Staatssprachen der neuen Staaten geworden sind. Eine Erhaltung des Russischen in einer Rolle, wie sie zu Sowjetzeiten bestand, dürfte unmöglich sein, ausgenommen als Sprachenrechte für russische Minderheiten. Russisch als Zweitsprache dürfte in der Ukraine, Belarus und Kasachstan durchsetzbar sein, woanders nur für definierte Minderheiten Sprachenkonflikte können jedenfalls Auslöser für gefährliche ethnische Konflikte werden.

 

Die Autoren meinen, daß die Integrationstendenz wächst, zugleich aber Integration nach EU-Vorbild nicht möglich ist, weil dem sich stärkenden Rußland viele schwache Staaten gegenüberstünden. Unter diesen Umständen sei eine Vereinigung nachteilig für RF.

 

Die Entwicklung vor allem 1993 war gekennzeichnet durch mehrfache Versuche der anderen GUS-Staaten eine stärkere Integration zu erhalten oder neu zu erreichen, allerdings auf multilateraler und gleichberechtigter Grundlage. Rußland hat aber nur dort Integration gefördert (so auch Konzept Boris Fjodorow), wo es bilateral mit schwachen Partnern wie Belarus, Armenien und Tadschikistan im Gespräch war.

 

Politik einer gemäßigten Einmischung

 

Trotz der Doktrin, die nur eine begrenzte Souveränität der Nachbarn in der GUS zuläßt, wollen die Autoren nur eine Politik der gemäßigten Einmischung, und zwar bei Menschenrechtsverletzungen, Minderheitenproblemen oder Bürgerkriegen, die russische Flagge solle als Symbol des Schutzes überall respektiert werden.

 

Diese "gemäßigte" Einmischung ist dadurch brisant, daß Rußland gerade in der Minderheitenfrage eine "gereizte Partei" ist - ähnlich Deutschland gegenüber Polen und CSR nach Versailles. Der Schutz richtet sich gegen legitime Regierungen souveräner Staaten und

ist damit tendenziell aggressiv.

 

Den Autoren ist dies bewußt und sie suchen für die Einmischung das Dach der VN. Der Westen würde eine stabilisierende Rolle RF akzeptieren, wenn damit keine militärische Expansion und Machtstärkung verbunden wäre.

 

Die Frage bleibt, ob das nicht eine Fehleinschätzung ist. Das Dach der VN würde schnell brüchig und könnte nicht mehr tragen, wenn es zur Abdeckung bilateraler zwischenstaatlicher Konflikte dienen soll.

 

Klare Ziele entwickeln:

 

Stabilität

 

Stabilität an der russischen Peripherie ist sicher ein legitimes Ziel. Wirtschaftlich-finanzielle Zusammenarbeit kann dazu dienen. Menschenrechte für Minderheiten, vor allem Russen, sind ebenfalls keine illegitime Zielsetzung, können allerdings auch zum Vorwand für massive Einmischung werden. Die Doppelstaatsbürgerschaft für alle Ex-SU-Angehörigen (etwa auch für Baltikum?) wird von russischer Seite klar als Instrument für ein Interventionsrecht zugunsten "seiner Staatsbürger" betrachtet - obwohl nach Völkerrecht die zweite Staatsbürgerschaft ja im Lande der anderen Staatsangehörigkeit gar keine Schutzrechte etabliert.

 

Die Stabilität in Rußland könnte sowohl durch feindselige Reaktionen auf wirtschaftliche Abhängigkeiten als auch durch Nationalismus gegen russische Minderheiten gefährdet werden, weil solche Ereignisse Extremisten in Rußland stärken würden.

 

Einheitliche Ziele und Strategien

 

Die Festlegung der GUS auf eine Art GASP mit einheitlichen Zielen und Strategien bedeutet für die Autoren praktisch eine Führung der Außenpolitik durch Rußland und Verzicht der anderen Republiken auf ein eigenes Profil. Was dann noch Selbständigkeit bedeutet, ist sehr fragwürdig. Die militärisch-politische Integration, bis zu Vereinten Streitkräften (also weniger NATO-Ost, als neuer Warschauer Pakt - weil Hegemonie-gesteuert) soll weiter gehen als alles was die EU in etwa 30 Jahren erreicht hat.

 

Die vorgeschlagenen Direktkontakte zwischen Gebieten, Städten und Betrieben sind sicher ein Instrument zur Verständigung und daher positiv zu bewerten. Aber die einheitliche politisch-militärische Politik ist doch nur eine Verbrämung für die eingeschränkte Souveränität, die den GUS-Staaten abverlangt wird, die inzwischen verarmt sind und denen quasi durch harte Fakten bewiesen wurde, daß für sie das

UdSSR-Ende nachteilig war.

 

Ex-SU ohne Rußland nicht lebensfähig (Ausnahmen Baltikum und Turkmenistan)

 

Die früheren Sowjetrepubliken sind nach Ansicht der Autoren kaum allein lebensfähig, weil ihnen die notwendigen Spezialisten fehlen und weil dort - auch aus diesem Grunde - Wirtschaftsreformen kaum im Ansatz umgesetzt sind,

 

Allerdings könnten die Republiken versuchen, sich auf andere Staaten als Rußland abzustützen. Dem wollen die Autoren offenbar politisch und durch indirect rule entgegenwirken. Dennoch ist zu erwarten, daß jedenfalls gewisse andere Einflüsse neben der russischen Dominanz eine Rolle spielen werden - so Chinas in Kirgistan und vielleicht auch Kasachstan, der Türkei in Usbekistan, Turkmenistan und

Aserbeidschan, und des Iran in Tadschikistan, Aserbeidschan und Turkmenistan.

 

Völlige Trennung von Ex-SU nicht gangbar wegen Verflechtung Wirtschaft und wegen russischer (und anderer) Minderheiten

 

Die Wirtschaftsverflechtung beruht weitgehend auf administrativen Standortentscheidungen, die auf Rentabilität der Warenströme keine Rücksicht genommen hatten. Es ist zu erwarten, daß die Bedeutung der alten Verflechtungen mit Fortschreiten der marktwirtschaftlichen Reformen eher abnimmt. Zugleich werden die neuen - nicht minder Abhängigkeit begründenden Beziehungen auf Grund neuer Investitionen und Warenströme wichtiger werden.

 

Eine völlige Trennung von Rußland ist in der Tat kaum möglich. Allerdings ist bis auf weiteres die Fähigkeit Rußlands zur wirtschaftlichen Durchdringung durch russischen Kapitalmangel und den Reformbedarf im eigenen Lande sehr begrenzt, so daß andere - westliche - Länder doch ein gewisses Gewicht bekommen können, wenn sie dies nur wollten.

 

Die Minderheitenfrage wird die Republiken noch stärker an die RF binden als wirtschaftliche Bindungen.

 

Struktureller Abstand zu Rußland wächst

 

Der wachsende strukturelle Abstand zu Rußland ist eine Realität, die eine erneute wirkliche Integration immer schwieriger werden läßt. Die Strukturen der anderen GUS-Staaten sind dabei dauerhaft schwächer als die Rußlands, so daß das relative Gewicht Rußlands eher noch ansteigt. Allerdings können die schwächeren Randstaaten angesichts ihrer Instabilität auch zu einer dauerhaften Belastung

Rußlands werden.

 

Die RF soll "sacro egoismo" folgen, nicht wieder Sklave der Kolonien werden

 

Die sowjetische Geschichte wird von weiten Kreisen als Ausbeutung Rußlands zugunsten der "Kolonien" im Kaukasus und in Zentralasien gesehen. Sicher gab es erhebliche Transfers von Rußland in diese Gebiete, allerdings auch abhängige Entwicklungen in der Peripherie, die der russischen Zentrale zugutekamen - die russische Textilindustrie lebte von Billigimporten von Baumwolle aus Usbekistan.

 

Eine große Rolle spielte sicher auch der psychologische Effekt, daß Russen es auf ihren teuren Kolchosmärkten vielfach mit den weit geschäftstüchtigeren Orientalen aus dem Kaukasus und Zentralasien zu tun hatten, die sie oft zugleich verachteten und beneideten.

 

Die Haltung des "sacro egoismo" ist sicher auch eine Trotzhaltung gegen die "armen Brüder", die ja die weitere Bevormundung durch den großen russischen Bruder schnöde verschmäht haben. Etwas Vergleichbares ist ja auch in der Tschechischen Republik gegenüber der Slowakei zu beobachten.

 

Volle Integration bedeutet Verantwortung

 

Die Argumente könnten aus den USA der Zeit Teddy Roosevelts stammen. Beherrschung - also Imperialismus - gilt als völlig legitimes Ziel, fast als die Raison d'étre der Außenpolitik. Indirekte Beherrschung der direkten vorzuziehen ist Ausfluß von Pragmatik, nicht etwa von weniger imperialistischen Vorstellungen.

 

Es ist schon grotesk, wie die Autoren schildrn, wie die indirekte Beherrschung zum größten Schaden der Betroffenen, und zum alleinigen Nutzen Rußlands wirken soll. Die Verantwortung für die schlechte soziale Lage - an der Rußland nicht teilhat - soll allein die nationale Regierung tragen, sie bleibt instabil und wenn sie Schutz sucht, dann nur bei Rußland.

 

Volle Integration träfe auf Widerstand - auch wenn sie gewaltlos wäre

 

Volle Integration ist auch unvorteilhaft, weil sie auf Widerstand träfe. Nicht etwa unmoralisch oder wider das Recht auf Selbstbestimmung wäre eine direkte Beherrschung, sondern einfach zu aufwendig. Auch indirect rule der Engländer in Indien war damit begründet.

 

Volle Integration würde Westen alarmieren, NATO würde ausgeweitet, Kapital bliebe aus

 

Solange Rußland nicht stark genug ist, soll Appeasement den Westen besänftigen, vole Integration einer neuen UdSSR würde ihn alarmieren, eine indirekte Beherrschung offenbar nicht. Russische Expansion würde die NATO-Ausweitung fördem, durch Kooperation glaubt man sie offenbar verhindern zu können. Westliches Kapital wird für die Stärkung Rußlands als notwendig angesehen - das meinte auch Lenin zu Beginn der NEP.

 

Tatsächlich dürfte es für die westliche Haltung viel entscheidender sein, mit welchem Geist Rußland seine Politik gegenüber den GUS betreibt. Die von den Autoren nicht für ganz voll genommenen Engländer und Franzosen könnten die ersten im Westen sein, die eher wieder darauf setzen, Rußland durch containment zurückzuhalten, die USA werden sicher ebenfalls reagieren. Nur von Deutschland,

von denen die Russen es offenbar erwarten, die Führungsrolle in Europa zu spielen, dürfte am ehesten zu erwarten sein, daß sie die Ordnungsfunktion Rußlands nach Süden und Osten hinzunehmen oder sogar zu fördern bereit sind, solange dies nicht nach Osteuropa ausgreift.

 

Die RF soll den Zerfall seiner Nachbarn nicht fördern

 

Das ist ein durchaus rationales Gebaren. Mit abhängigen Nachbarn wird die Lage nur schwieriger, wenn sich diese multiplizieren. Aber zugleich wird nicht ausgeschlossen, daß möglicherweise ein Zerfall nicht verhindert werden kann - das gilt vor allem für die Ukraine.

 

Die RF kann Regierungen nicht garantieren, wenn diese unfähig sind, Minderheiten zu schützen. 


Das soll wohl heißen, RF kann Regierungen stürzen, wenn Rußland die schützende Hand wegzieht. Dies gehört zum Konzept der indirekten Herrschaft.

 

Ukraine: besonders gefährliche Lage

 

Die Autoren sehen zu Recht die Ukraine als den gefährlichsten Krisenherd in Rußlands Nachbarschaft an. Allerdings wird die europäische Dimension dieser Risiken nicht ausreichend erkannt. Wenn für die Zeit in 2-3 Jahren die Desintegration der Ukraine für möglich gehalten wird, so ist das ernst zu nehmen. Die Westeuropäer sollten sich frühzeitig darauf einstellen, was sie in diesem Falle zu tun gedenken.

 

Es wird genau analysiert, was die Brüchigkeit der Ukraine ausmacht. Das Fehlen eines Minimalkonsenses, fehlender Reformwille und mangelnde Fähigkeit zu Reformen der Wirtschaft bedrohen in der Tat die Unabhängigkeit und Staatlichkeit der Ukraine in der jetzigen Form nicht weniger als nationalistische und ethnische Differenzen.

 

Eliten wollen Grad Unabhängigkeit

 

Die Autoren gehen davon aus, daß die ukrainischen Eliten nicht einfach den Anschluß an Rußland wollen. Das schließt auch Rußlandfreundliche Eliten ein. Nur im Falle der Desintegration der Ukraine wird die Vereinigung von Teilen der Ukraine (ohne die Westukraine) für selbstverständlich gehalten. Das Problem der illegalen Emigration nach Rußland wird so lange bestehen wie die Grenzen einigermaßen durchlässig sind. Davon zu sprechen ist etwas eigenartig, wenn zugleich von russischer Seite die doppelte Staatsangehörigkeit (Rußland plus... ?) gefordert wird - nicht etwa eine GUS-Angehörigkeit neben den nationalen.

 

Streitkräfte kaum noch steuerbar, Waffenmißbrauch; technische Katastrophen

 

Hier wird ein düsteres, aber leider wohl nicht unrealistisches Bild gezeichnet. Einerseits sprechen viele in Rußland mit gewisser Schadenfreunde über das Scheitern der Ukraine auf dem Wege zur Stabilisierung, andererseits gibt es doch die Furcht vor unkontrollierbaren Entwicklungen.

 

Die russische Ambivalenz ist unübersehbar. Einerseits beklagt man die mangelnde Steuerungsfähigkeit der Ukrainer, andererseits wird durch wirtschaftlichen Druck (Energielieferungen) diese Steuerungsfähigkeit weiter vermindert. Einerseits beklagt man zu Recht die Reformunfähigkeit in der Ukraine und befürchtet technische Katastrophen, andererseits tritt Rußland nicht eindeutig für Schließung z. B. von Tschernobyl ein.

 

UKR-Krise kann auch RF destabilisieren

 

Dies ist ein sehr ernstes Problem. Im Grunde destabilisiert die Lage in der Ukraine Rußland schon heute. Die russische Regierung macht sich zu Recht Sorgen und denkt daran, wie sie auf eine katastrophale Entwicklung in der Ukraine reagieren kann. Sie weiß, daß sie dann angesichts von 12 Millionen Russen in der Ukraine unter ungeheuren Druck von Seiten der Nationalisten und Patrioten geraten wird. Es

wird eine gigantische - fast unmögliche Aufgabe gegen solche Strömungen eine einigermaßen rationale Politik durchzuhalten. Schon heute gibt es Anpassungen an den Nationalismus, ohne die die Regierung befürchtet, plötzlich isoliert dazustehen und im Ernstfall völlig die Unterstützung zu verlieren.

 

Die größte Gefahr ist die Eigendynamik, die entstehen kann, wenn irgendwo in der Ukraine Blut fließt, wenn dort Russen vielleicht Kosaken-Russen verteidigen und die ukrainischen Streitkräfte oder ebenfalls Irreguläre Kräfte als Unterdrücker von Russen dargestellt werden können. Wie lange die russische Regierung sich hier "neutral" halten kann, ist fraglich lange sicher nicht! Außerdem wird die Regierung nicht verhindern können, daß irreguläre russische Kräfte von Extremisten in Rußland unterstützt werden: entweder sie springt auf den gleichen Zug oder sie fällt herunter.

 

Baltikum: Gute Nachbarschaft

 

Das Baltikum wird als Sonderfall gesehen, wo "gute Nachbarschaft", aber nicht Reintegration das Ziel ist. Zugleich wird aber der Schutz der russischen Minderheit und russischer Sicherheitsinteressen ausdrücklich zum Ziel erklärt, was ein Sonderinteresse Rußlands am Baltikum begründet, das natürlich auch mit westlichem Verhalten dem Baltikum gegenüber kollidieren kann.