Was darf ein Botschafter?
Ist Andrij Melnik ein „Undiplomat“?

VERÖFFENTLICHT 4. APRIL 2022
Mit einem Nachtrag vom 19.April 2022 und kleineren Korrekturen

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hat erneut eine Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik gefordert. «Wenn diese außenpolitische Katastrophe der Bundesrepublik nicht aufgearbeitet wird (…) dann läuft man Gefahr, dass sich etwas Ähnliches wiederholt und dass man sich wieder in eine Abhängigkeit begibt», sagte Melnyk im Interview der ARD-Sendung «Bericht aus Berlin» am Sonntagabend.

Darf der das? – Ja, er darf das! Die Aufgaben von Diplomaten haben sich verändert. Heute gehört „Public Diplomacy“ zu den Kernaufgaben eines Botschafters. Das bedeutet, dass der Repräsentant eines Landes sich nicht nur an die offiziellen Vertreter – in erster Linie des Außenministeriums – des Landes, in dem er akkreditiert ist, wendet, sondern auch an die Öffentlichkeit in seinem Gastland.

Das schließt auch wertende Aussagen über die aktuelle oder frühere Außenpolitik des Gastlandes ein. Allerdings spricht ein Botschafter immer und verbindlich für sein Entsendeland. „Private“ Äußerungen stehen ihm nicht zu, denn alles, was er sagt, wird seinem Land zugerechnet. Bisher habe ich den Eindruck, dass Andrij Melnik gerade auch bei kritischen Äußerungen seinen Präsidenten und seine Regierung vertritt.

Es ist Aufgabe des Botschafters, die Interessen seines Landes mit Nachdruck zu vertreten. Dabei ist er nicht verpflichtet, der Regierung seines Gastlandes zu gefallen. Er braucht grundsätzlich das Vertrauen seiner eigenen Regierung. Wenn das fehlt, wird er nicht ernstgenommen.

Ein guter Botschafter wird daran arbeiten, in seinem Gastland das Vertrauen in sein Land, in seine Regierung und in die Integrität seiner Person zu erwerben und zu erhalten. Wenn das nicht gelingt, wird er sehr einsam sein und auch die Interessen seines Landes nicht effizient vertreten können. Das wäre nicht gut.

Die Durchsetzung der Interessen seines Landes bedarf manchmal durchaus eines gewissen Drucks auf die Regierung des Gastlandes – auch dadurch, dass die Öffentlichkeit des Gastlandes gewonnen wird. Ein kluger Botschafter wird dabei sehr genau studieren, welche Interessen des Gastlandes sich mit denen seines eigenen Landes in Übereinstimmung bringen lassen – und diese gemeinsamen Interessen betonen und unterschiedliche Interessen auszugleichen versuchen. Wenn das nicht gelingt, wird sein Druck nur Unmut wecken, aber erfolglos bleiben. Das wäre nicht klug.

Zudem äußerte sich der Diplomat zu einem geplanten Treffen mit Bundespräsident Steinmeier nächste Woche. Bereits am ersten Kriegstag habe er ein Gespräch mit Steinmeier angefragt. «Es gab keine Antwort» – eingeladen habe ihn nun sein außenpolitischer Berater. «Natürlich werde ich nächste Woche kommen, um Gespräche zu führen.»

Die Staatsoberhäupter und Regierungen einiger großer Länder – darunter auch Deutschland – haben es sich angewöhnt, Botschafter anderer Staaten eher selten und nur bei besonderen Anlässen auf höchster politischer Ebene zu empfangen. Stattdessen verweisen sie auf die Ebene der Beamten. Das ist angesichts von etwa 200 Staaten, mit denen Beziehungen gepflegt werden, anders kaum zu schaffen. Allerdings ist die russische Aggression gegen die Ukraine ein besonderer Anlass.

Das andere Argument, die Politiker sähen sich ohnehin oft genug direkt und bräuchten für den Dialog keine Diplomaten, ist hingegen unsinnig: ich habe oft genug erlebt, wie wenig Zeit bei solchen Direktgesprächen tatsächlich auch für wichtige Fragen zur Verfügung steht und wie gering in der Regel die interkulturelle Kompetenz und das internationale Wissen der Politiker ist – und wie wenig sie in der Lage sind ohne diplomatische Hilfe einen Ausgleich gegenseitiger Interessen zu erreichen.

In einer Krise, die an Gefährlichkeit und Tragik alles übertrifft, was Europa seit dem 2.Weltkrieg erlebt hat, ist es meiner Auffassung nach ein Gebot der Stunde, dass der Bundespräsident persönlich den betroffenen Botschafter nicht nur für Übergabe des Beglaubigungsschreibens oder zum Neujahrsempfang empfängt, sondern regelmäßig auch sonst – und einer Bitte um Gespräche persönlich nachkommt – ein Gespräch mit einem seiner engsten Mitarbeiter sollte vorausgehen, um das Staatsoberhaupt gut vorzubereiten. Das gilt auch für Besuche beim Bundeskanzler, der Außenministerin und bei anderen Kabinettsmitgliedern.

Andrij Melnik hat recht, wenn er beklagt, dass seinen Bitten um Gespräche zunächst nur langsam und nicht auf der höchsten Ebene entsprochen wurde. Das ist nicht unfreundlich dem Botschafter gegenüber, sondern seinem Land gegenüber.

Andrij Melnyk hatte zuvor Steinmeier eine höchst bedenkliche politische Nähe zu Russland attestiert. «Für Steinmeier war und bleibt das Verhältnis zu Russland etwas Fundamentales, ja Heiliges, egal was geschieht. Auch der Angriffskrieg spielt da keine große Rolle», sagte Melnyk dem «Tagesspiegel». (…) «Steinmeier scheint den Gedanken zu teilen, dass die Ukrainer eigentlich kein Subjekt sind», kritisierte Melnyk.

Hier geht der Botschafter zu weit. Ein öffentlicher Angriff auf das Staatsoberhaupt des Gastlandes, in dem dessen Integrität infrage gestellt wird, gilt eigentlich als Grund für die Beendigung einer Mission und den Ratschlag an den Botschafter, das Land zu verlassen. Es ist nicht einfach unhöflich gegenüber dem Staatsoberhaupt, es greift auch in die innenpolitische Debatte ein - dazu hat ein Botschafter sich zurückzuhalten.   

Es ist aber keineswegs illegitim, die Regierungspolitik des Gastlandes zu kritisieren, wenn das dem Interesse seines Landes dient und der Bezug darauf klar ist. Wenn die Ukraine von Russland überfallen und mit Krieg überzogen wird, dann ist es sogar die Pflicht des Botschafters, auch auf Freunde möglichst viel Druck dahingehend auszuüben, dass seinem Land geholfen wird.

Diplomatie heißt nicht – wie manchmal kolportiert wird – „für seine Vaterland zu lügen“. Wer das tut, verliert jedes Vertrauen und schadet den Interessen seines Landes. Aber seine Interessen nachdrücklich zu vertreten, kann durchaus deutliche Worte erfordern. Ein offenes Wort ist nicht „Undiplomatie“, sondern Teil der Diplomatie.

Kluge Diplomatie muss aber Menschen gewinnen und nicht abstoßen. Es ist immer eine schwierige Abwägung, einerseits klar und deutlich zu sein und andererseits nicht Freunde zu verlieren, indem diese sich beleidigt oder unverstanden fühlen. Das Gespür für diese Abwägung ist bei Andij Melnik nicht gerade ausgeprägt.

Dem Sender Bild Live sagte er, die aus der Stadt Butscha berichteten Gräueltaten an Bewohnern müssten für die Bundesregierung eine rote Linie sein. Nötig sei nun ein Importstopp für Öl, Gas und Kohle sowie für Metalle. In Richtung Bundesregierung sagte er: «Man sieht diese Gräueltaten und ist immer noch nicht bereit, wirklich alles zu unternehmen, damit Putin seinen Appetit auf diese Gräueltaten verliert. Wie kann man schlafen, wenn man nach diesen Bildern starke Worte findet, aber nichts tut?», fragte er. Und fügte an: «Was soll noch passieren, damit man die härtesten Sanktionen auf den Tisch legt? Chemische Attacken – oder worauf wartet man?»

Auch der emotionale Appell an das Gastland, an seine Bürger und Politiker, ist völlig legitim und auch angebracht. Gerade in einer Kriegssituation, die unendliches Leid für die Menschen in der Ukraine bedeutet, kommen Emotionen ins Spiel, alles andere wäre ein Mangel an Empathie. Er darf natürlich sagen, welche Politik Deutschlands er für richtig halten würde – ebenso wie die Bundesregierung das anders als der Botschafter sehen und entscheiden darf.

Allerdings wird jeder Botschafter auch feststellen, dass seine Mühen an Grenzen stoßen. Die Regierung seines Gastlandes muss ihre Interessen – und dazu gehören außenpolitische Interessen ebenso wie die innenpolitischen Gegebenheiten – ebenfalls mit Nachdruck vertreten. Der Botschafter mag enttäuscht sein – und darf das auch sagen – aber er muss auch realistisch bleiben, die Gründe verstehen lernen und diese seiner Regierung mitteilen. Nur dann ist er ein effizienter Botschafter.

Botschafter Melnik wurde im Bundestag mit stehenden Ovationen bedacht. Er sollte sich aber darüber im Klaren sein, dass das nicht ihm persönlich, sondern der Ukraine galt, die er vertritt.

Andrij Melnik hatte die Einladung des Bundespräsidenten zu einem Konzert mit Künstlern aus der Ukraine, Russland und anderen Ländern abgelehnt. Er zeigt sich generell ungehalten darüber, das ihm in Deutschland viele Einladungen zu symbolischen Akten der Solidarität erreichen, während die Lieferung von deutschen Waffen und Munition ihm viel zu spät, zu zögerlich und unzureichend von statten geht.

Ich finde seine Reaktion sehr verständlich. Wer sind wir Deutschen, dass wir anderen, die sich gerade gegen einen Angriffskrieg verteidigen, „Frieden“ verordnen, ohne zu sagen, welchen Frieden. Wer sind wir, dass wir den Ukrainern vorführen, dass man mit Russen friedlich musizieren kann, wenn andere Russen gerade ukrainische Zivilisten massakrieren. Es ist, als hätte man Anfang 1941 im noch neutralen New York zu einem gemeinsames Benefizkonzert mit deutschen, britischen – oder gar jüdischen – Künstlern eingeladen. Das hätte man nicht nur als taktlos, sondern als Affront angesehen.

Dennoch war Melniks Reaktion überzogen und nicht hilfreich für sein Land. Er hätte höflich ablehnen können und auch darauf hinweisen können, dass jetzt nicht die Zeit für symbolische Akte ist – dass er Waffen braucht und kein Requiem für die Ukraine. Aber die Gegenattacke gegen den Bundespräsidenten steht ihm nicht zu und schadet der Ukraine.

Es ist jetzt nicht die Zeit, sich über symbolische und historische Fragen zu erregen. Es ist auch nicht hilfreich, sich in wichtigen Sachfragen gegenseitig unlautere Motive zu unterstellen. Die gegensätzlichen Auffassungen zu manchen Fragen bleiben ja auch z.B. gegenüber der PiS-Regierung in Polen bestehen. Aber das muss jetzt zurückstehen. Wichtiger ist, was Orban in Ungarn nach seinem Wahlsieg tun wird. Ein Bruch der europäischen Solidarität wäre hier fatal. Wer das tut, spielt Putin in die Hände. 

Natürlich gibt es verschiedene Auffassungen darüber, was im einzelnen zu tun ist. Es ist auch ein Unterschied, ob die NATO Kriegspartei ist oder nicht – auch wenn das die Ukraine schmerzt, und manche Mitgliedsländer das weniger ernst nehmen. Es ist auch nicht unanständig, einen Atomkrieg vermeiden zu wollen. Ebensowenig darf eine Regierung die Legitimation aller ihrer Handlungen in der Bevölkerung missachten.

Es kommt jetzt darauf an, in der EU und in der NATO zusammenzustehen. Das ist schwierig genug! Mit der „Zeitenwende“ ist Bundeskanzler Scholz einen großen Schritt in die richtige Richtung gegangen.

NACHTRAG (19.April 2022)

Botschafter Melnik hat es für nötig befunden, seine Polemik nicht nur fortzusetzen, sondern zu verstärken. Damit zeigt er, dass er offensichtlich den Kriterien für einen GUTEN und für einen KLUGEN Botschafter nicht erfüllt. In der jetzigen Lage wird er viel Verständnis finden, weil sich sein Land in der Ausnahmesituation eines Krieges befindet. Doch gerade im Krieg kommt es darauf an, dass führende Leute ihren kühlen Kopf bewahren und alle Anstrengungen auf das eine Ziel ausrichten: der erfolgreichen Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression.

Stattdessen macht der Botschafter einen „Nebenschauplatz“ auf, indem er seine einseitige Interpretation der Vergangenheit deutscher Außenpolitik in den Mittelpunkt stellt. Er kann sich damit der Beachtung durch Teile der Medien sicher sein, die ohnehin schon seit Beginn der Ostpolitik in den sechziger Jahren ein Hühnchen mit der SPD zu rupfen haben. FDP und Grüne führen die notwendige innerdeutsche Debatte auf ihre Weise, manchmal klingt das schon so, als ob sie auf dem Absprung in eine Jamaika-Koalition wären. 

Für die Unterstützung der Ukraine nicht nur in Deutschland, sondern – wegen der zentralen Rolle Deutschlands – in ganz Europa sind solche Ablenkungen nicht nur überflüssig, sondern schädlich. Es wäre ein leichtes, auf die Fehler der Ukraine hinzuweisen, die insbesondere in der Zeit vor der Maidan-Revolution das Land geschwächt haben. Ich halte das für völlig fruchtlos! Heute beruht die große Stärke der ukrainischen Gesellschaft darauf, dass der Widerstand gegen den russischen Überfall ganz breit angelegt ist und alle ethnischen, sprachlichen oder politischen Gruppen umfasst, die ihre Gegensätze für die gemeinsame Anstrengung zurückgestellt haben.

Die deutsche Politik sollte mit der manchmal begründeten, weitgehend aber unsachlichen Kritik von Andrej Melnik gelassener umgehen. Unsere Hilfe sollte nicht von der Qualität des ukrainischen Botschafters abhängig sein. Es liegt in UNSEREM EIGENEN INTERESSE, dass der Ukraine geholfen wird, Widerstand gegen die russische Aggression zu leisten. Wie genau diese Hilfe gestaltet werden kann, hängt nicht nur von den ukrainischen Wünschen ab, sondern auch von unseren eigenen materiellen und politischen Möglichkeiten. Und nicht zu vernachlässigen: von einer guten westlichen Arbeitsteilung und Einigkeit innerhalb des Westens. Diese nicht zu gefährden, sollte auch für den Botschafter und für die Regierung in Kiew Vorrang haben.

3 Kommentare

Wolfgang Wiemer (7. April 2022 um 8:16 Uhr)
Vielen Dank,lieber Georg das ist sehr aufschlussreich. Unterm Strich – so meine Meinung – müssten wir den ukrainischen Botschafter eigentlich nach hause schicken, tun es aber wegen des Krieges nicht. Aber der Herr scheint seinem Land doch eher zu schaden als ihm zu nützen; auch wenn man den aus der Ohnmacht gespeisten Zorn gut verstehen kann. Man teilt diese Empfindung ja zumeist. Gruß wolfgang

Meine Antwort (7. April 2022 um 10:26 Uhr)
Mein Verständnis für den Zorn des Botschafters geht sehr weit. Auch wenn er mal eine Grenze überschreitet, ist er doch für sein Land sehr engagiert – und das ist richtig so. Ich würde einen „Rausschmiss“ also für überzogen halten. Mein Beitrag ist eher als Ermutigung zu verstehen, nicht nur ein engagierter Botschafter zu sein, sondern auch mehr dafür zu tun, dass mehr Freunde gewonnen werden und beide Regierungen sich besser verstehen.

Jochen Wittmann ( 6. April 2022 um 21:54 Uhr)
Hear, hear! Well put!