Schutz der Staatsgrenzen
und die Moral

VERÖFFENTLICHT 17. DEZEMBER 2015, überarbeitet 1.Oktober 2023

Im Zusammenhang mit dem unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen und Migranten nach Europa und insbesondere Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2015 hatte die Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt, dass die deutschen Grenzen dagegen nicht zu schützen waren. Einige warfen der Kanzlerin Aufgabe der deutschen Souveränität vor, zu der eben auch der Schutz der Grenzen gehöre.

Ich will hier einmal die Frage des Grenzschutzes unter moralischen Gesichtspunkten prüfen:
a) darf es überhaupt Grenzen geben, die Menschen voneinander trennen?
b) darf ein Staat allein bestimmen, wer seine Grenzen überschreiten darf, und wer nicht?
c) ist es moralisch vertretbar, jemanden am Überschreiten der Grenze zu hindern?
d) ist gegen einen illegalen Grenzübertritt die Anwendung von Gewalt zulässig und angemessen?
e) gibt es eine Rechtfertigung dafür, Grenzen ohne Genehmigung zu überschreiten?
f) wie darf ein Staat mit Menschen umgehen, die bereits illegal eingereist sind?

Zu den Grenzen überhaupt: zwischen organisierten menschlichen Gruppen, in der Regel nach wie vor Staaten, bestehen Unterschiede in der Organisationsform, in der Auffassung von Recht, Macht, Religion, Moral und anderen Fragen. Wenn in einem Staat über die Verfassung und die Politik von allen Bürgern autonom entschieden wird, dann bedeutet Schutz der Grenzen auch Schutz der eigenen Rechtssetzung und Rechtsordnung. Das Ideal eines Universalstaates kann durchaus attraktiv sein, allerdings weist die bisherige historische Erfahrung eher in die Richtung, dass universale Mächte zu Imperien werden, die im Inneren oft unfrei sind. Das wäre sicher nicht erstrebenswert.

Grenzen trennen Menschen voneinander in Staatsangehörige und Nicht-Staatsangehörige, in Inländer und Ausländer. Ob man einem Staat angehört oder nicht ist zunächst oft durch Geburt entschieden, immer mehr aber auch durch Zuwanderung in einen anderen Staat. Solche Zuwanderung bedarf aus moralischer Sicht einer doppelten Zustimmung: der Zuwanderer muss zustimmen (und nicht als Sklave verfrachtet werden), aber auch die aufnehmende Gruppe muss zustimmen. Der Geltungsbereich dieses Zustimmungsrecht wird durch die Grenzen des Staates bestimmt.

Es hat immer wieder Rechtfertigungen dafür gegeben, dass Grenzen auch ohne Zustimmung der jenseits der Grenzen lebenden Menschen überschritten werden dürfen. Die bewegliche „Frontier“ der amerikanischen Expansion in die Indianerstaaten des Westens war so ein Fall. Als Begründung wurde vorgebracht, die Indianer hätten gar keine staatliche Ordnung und damit auch keine Grenze, die anerkennbar war. 

Auf diese Weise kann die friedliche und bei gewaltsamer Gegenwehr auch die kriegerische Eroberung fremder Gebiete gerechtfertigt werden. Im Grunde sind alle Kriege in der Geschichte der Menschheit so lange vermeidbar, wie sich niemand gegen die Übernahme seines Landes, seines Territoriums wehrt. Da aber die in einem Territorium lebende Bevölkerung in der Regel nicht geneigt ist, ohne Widerstand ihr Gebiet von anderen besetzen zu lassen, sind Kriege seit Anbeginn der Geschichte überwiegend Kriege um Territorium gewesen.

Wenn eine Gemeinschaft als Staat organisiert ist und dieser Staat souverän ist, dann bestimmt dieser Staat auch darüber, wer seine Grenzen überschreiten darf – und wer nicht. Das hindert den Staat nicht daran, in internationalen Verträgen Regeln dafür festzulegen, dass bestimmte Gruppen von Menschen bevorzugt einreisen dürfen und andere nicht. 

Zu diesen Regeln gehören auch die Genfer Konventionen über Flüchtlinge oder Abkommen über Reisefreiheit. Der Staat ist daran gebunden, wenn er darüber Verträge geschlossen hat. Nur dann können andere Staaten mitreden bei den Grenzregelungen. Auch die universellen Menschenrechte sind durch Vertragsrecht tatsächlich festgelegt, auch wenn durchaus naturrechtliche Begründungen für ihre Geltung vorgebracht werden. Es ist also Sache jedes Staates selbst festzulegen, wer seine Grenzen überschreiten darf. Und wenn es eine solche Grenze geben darf, dann bestimmt der Staat auch, wann, wo und unter welchen Bedingungen diese Grenze überschritten werden darf und wo nicht.

Wenn ein Staat ein Grenzregime festlegen darf, dann kann er das nur wirksam werden lassen, wenn es auch tatsächlich durchgesetzt wird. Sollte also jemand versuchen, eine Grenze ohne Zustimmung des Staates oder auf Grund einer besonderen Rechtsgrundlage zu überschreiten oder an einem Ort, wo dies nicht zulässig ist, dann darf der Staat dies – polizeilich – verhindern, und er kann das auch strafrechtlich bewehren. Der Staat darf durch seine Grenzpolizei Grenzdurchbrüche verhindern.

EXKURS: Ich habe absichtlich von „Grenzdurchbrüchen“ gesprochen. Viele Menschen, die sich an die DDR erinnern, wissen, dass dort „Grenzdurchbrüche“ aus dem eigenen Land nach außen mit massiven Grenzbefestigungen und Waffengewalt (Schießbefehl!) verhindert wurden. Damit war die eigene Bevölkerung auch dann an Reisen gehindert, wenn sie jenseits der Grenze willkommen war. Heute ist das Problem aber, den illegalen Grenzübertritt nach Deutschland hinein zu verhindern.

Sowohl die Bundeskanzlerin als auch viele Menschen in den 1990 beigetretenen Bundesländern sind sehr sensibel, wenn es um das Grenzregime geht. Mauer und Stacheldraht hatten sie einst wie in einem Gefängnis eingesperrt. Die DDR-Westgrenze war eben kein „antifaschistischer Schutzwall“, weil ja niemand freiwillig in die DDR auswandern wollte, sondern im Gegenteil ein Teil der DDR-Bevölkerung das Land verlassen wollte. Das Einsperren der Bevölkerung war zutiefst unmoralisch. 

Der Schutz gegen Eindringlinge von außen hingegen ist überhaupt nicht unmoralisch, sondern gehört zu den Schutzfunktionen des Staates. Es gehört zu den Aufgaben des souveränen Staates, seine Grenzen zu schützen.

An einigen Grenzen, an denen illegale Migration zum Problem geworden ist, wird geschossen. Das gilt für die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Doch welche Mittel zum Schutz einer Grenze angemessen und verhältnismäßig sind, das ist durchaus umstritten. Auch hier gibt es bei einstigen DDR-Bürgern Vorbehalte gegen Gewalt an der Grenze. 

Wenn illegale Grenzüberschreiter bewaffnet sind, dann ist Waffengewalt auch auf Seiten der Polizei moralisch vertretbar. Wenn diese Grenzüberschreiter kleine grüne Männchen sind, die offenbar als Spezialeinheiten einer fremden Armee angehören, oder wenn sie bewaffnete Banden aus der organisierten Kriminalität sind, dann ist auch die Anwendung militärischer Gewalt zur Selbstverteidigung gerechtfertigt. 

Gegen unbewaffnete illegale Grenzüberschreiter hingegen wäre jede Anwendung von scharfen Waffen unangemessen und unverhältnismäßig. Was angemessen ist um Grenzdurchbrüche zu verhindern, wird immer umstritten bleiben. Ich halte die Anwendung von physischer Gewalt bis hin zu Gummigeschossen und Wasserwerfern auch gegenüber unbewaffneten Rechtsbrechern für verhältnismäßig und moralisch unbedenklich, wenn das für den Erfolg der Zurückweisung notwendig ist - scharfe Schusswaffen sind gegenüber Unbewaffneten nie angemessen.

Gibt es nun Fälle, in denen ein illegaler Grenzübertritt gerechtfertigt ist?
Ich würde das in jedem Fall dann bejahen, wenn für die Grenzüberschreiter jenseits der Grenze Gefahr für Leib und Leben besteht. Das ist das Recht als Gebot der Not. Und wenn unmittelbar jenseits der Grenze Krieg, Verfolgung und Gewaltexzesse herrschen, dann ist es eine Frage der Selbstachtung, all denen jede Hilfe zukommen zu lassen, die solchen Verhältnissen entfliehen wollen.

Hingegen rechtfertigt die Freizügigkeit im Rahmen des Schengen-Abkommens keineswegs, dass jede Grenze zwischen Schengenstaaten von jedem einfach überschritten werden darf. Denn die Freizügigkeit gilt nur für EU-Bürger. Wer aus einem sicheren EU-Land ohne Genehmigung und/oder auf illegalen Wegen in ein anderes reist, handelt nicht legal. 

Das Schengen-Abkommen macht eine Sicherung der Außengrenzen der EU dringend notwendig, während an den Binnengrenzen durch Schleierfahndung oder punktuelle Kontrollen im Lande die Sicherheit vor unerwünschten Einreisenden geschützt wird. Das muss dann aber auch wirksam sein.

So ist ein Staat berechtigt, bereits illegal eingereiste Personen festzunehmen und/oder zurückzuschicken. Dies ist nur dann unverhältnismäßig, wenn die Betroffenen in ein Heimatland ausgewiesen werden könnten, wo sie um ihr Leben fürchten müssen. Eine Zurückschiebung in ein anderes europäischen EU-Mitgliedsstaates ist hingegen völlig unproblematisch. 

Das Asylrecht ist kein Selbstzweck. Manche NGOs erheben ein Lamento, dass das Asylrecht ausgehöhlt werde, wenn es keinen Grund gibt, mit dem Zweck des Asylantrags aus Nachbarländern - wo ja niemand gefährdet ist - nach Deutschland zu kommen. Das ist absurd - dahinter steht die Auffassung, dass man die "Verdammten dieser Erde" (Buch von Frantz Fanon) aktiv aus ihrem Elend herausholen und nach Deutschland bringen müsse. Das ist nicht der Sinn des Grundrechts auf Asyl und auch nicht der Sinn der internationalen Konventionen.

FAZIT: Staaten haben Grenzen, sie brauchen sie auch – wenn nicht nationale, dann wie im Schengenraum übernationale Außengrenzen. Die Überschreitung ohne Genehmigung ist illegal, es sei denn Flüchtlinge fliehen unmittelbar um ihr Leben direkt jenseits der Grenze. Illegale Grenzübertritte dürfen von jedem Staat verhindert werden. Die Mittel dafür müssen verhältnismäßig sein.

Verhältnismäßig sind physische Hindernisse ebenso wie begrenzte Gewaltanwendung. Ein Schusswaffengebrauch dürfte nur gegen bewaffnete Gruppen verhältnismäßig sein.