Die Crux historischer Vergleiche

Vom ersten Weltkrieg bis zur Abschreckung

VERÖFFENTLICHT 27. FEBRUAR 2022

Jede menschliche Erkenntnis beruht auf Erfahrungswissen – meinte David Hume. Ihm widersprach Kant, der in der Kritik der reinen Vernunft schrieb: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Moderne Hirnforscher weisen darauf hin, dass ein großer Teil unserer „Realität“ erst im Gehirn unter Mitwirkung der unterschiedlichsten Hirnfunktionen „entsteht“. Auch wenn ein Mensch das Gefühl hat, rational zu handeln, sind die mit Emotionen verbundenen Hirnareale aktiv.

Diplomatische Erfahrung beruht darauf, eigentlich ungleiche Vorgänge so zu kategorisieren, dass sie vergleichbar werden. Die Komplexität der Vorgänge erlaubt das eigentlich nicht. So greift man zu Vereinfachungen. Vordergründig handelt Diplomatie vom Umgang der Staaten miteinander. Staaten sind aber Abstraktionen. Am Ende sind es immer Menschen, die miteinander umgehen. Die „Staats-Raison“ ist die raison derjenigen, die im jeweiligen Staat das Sagen haben.

Jeder Diplomat sammelt im Laufe seines professionellen Lebens eine große Zahl von Erfahrungen mit Politikern, Mächtigen und auch mit anderen Diplomaten. Doch das Leben ist kurz und die Geschichte ist lang. Der „Erfahrungsschatz“ wird durch das „Wissen“ von der Geschichte ergänzt. Das ist keine eigene Erfahrung mehr, sondern eine durch Tradition und wissenschaftliche Forschung vorgegebene, durch Sozialisierung und Weltanschauungen eingefärbte Vorstellungswelt.

Die Einschätzung, ob ein Tier einen Fressfeind oder eine Beute, ein sicheres Umfeld oder Gefahr vor sich hat, ist überlebenswichtig. Im diplomatischen Umgang mit Repräsentanten anderer Völker ist es nicht viel anders: es geht darum auszuloten, ob Kooperation oder Konfrontation – oder irgendetwas dazwischen – möglich ist.

Das Vergleichen ist das wichtigste Element von Erfahrung. Erst durch Vergleiche können wir aktuelle und historische Vorgänge in Beziehung zueinander setzen. Je komplexer diese Vorgänge aber sind, desto mehr neigen wir dazu „Äpfel mit Birnen“ zu vergleichen. In der Physik wird peinlich genau darauf geachtet, Experimente wiederholbar und vergleichbar zu machen. Das gelingt mit der Geschichte nicht. Die Evolution ist ein andauerndes, nie beendetes Experiment. Der Historismus betont die Unvergleichlichkeit der Vorgänge im Verlauf der menschlichen Geschichte. Das würde jegliche Erfahrung und damit auch jegliches Lernen aus der Geschichte ausschließen. Ich halte diese Position für falsch.

Aber es ist richtig, dass wir mit historischen Vergleichen sehr vorsichtig umgehen müssen und uns immer bewusst sein müssen, dass diese Vergleiche nur eine sehr begrenzte Reichweite haben und nie alle relevanten Umstände berücksichtigen. Wir müssen uns der Grenzen unseres Wissens bewusst sein, ohne uns dem Lernen aus dem wenigen, was wir wissen, zu verweigern.

Hier will ich aber auf eine andere Crux historischer Vergleiche eingehen: der pragmatischen Nützlichkeit solcher Vergleiche. Diplomatische und historische Erfahrung sollen ja dazu dienen, möglichst richtig und erfolgreich zu handeln. Die Gefahr falscher Vergleiche ist entsprechend, dass wir unzutreffende Erwartungen entwickeln und falsche Schlüsse für unser Handeln ziehen.

Journalisten ist es freigestellt, alles mit allem und jeden mit jedem zu vergleichen. In Politik und Diplomatie ist Vorsicht angezeigt.

Putin ist nicht Hitler! – er hat den Überfall auf die Ukraine angeordnet, er hat alle diplomatischen Bemühungen zynisch und schamlos lügend zurückgewiesen. Er droht Europa insgesamt, nicht zuletzt sogar Schweden und Finnland, und gefährdet den Weltfrieden. Unsere Reaktion muss alles das berücksichtigen. Die Rede des Bundeskanzlers am 27.Februar zu dieser "Zeitenwende" war beeindruckend. Die Lage ist sui generis, wir haben es mit einer Atommacht zu tun, wir haben es mit zwei Russland zu tun, wo einerseits viele Menschen uns nahestehen, wo es einen großen Friedenswillen gibt, der von einer autokratischen Kriegspartei unterdrückt wird, wo aber andererseits die imperialistische Propaganda Erfolg hat und viel zu viele Putin und seiner Entourage Glauben schenken.

Manches ist vergleichbar – das Böse lässt sich durchaus identifizieren – aber für unser Handeln brauchen wir keine schiefen Vergleiche mit früheren Despoten und Kriegsverbrechern. Was heute passiert, reicht aus – Putin ist Putin! – und das ist schlimm genug!

Der russische Präsident ist selbst Gefangener von Vorstellungen der russischen Geschichte, die sehr weit von irgendwelchen Tatsachen entfernt ist. Es ist schwer zu unterscheiden, wieviel davon einfach nur Zynismus und Propaganda ist und wieviel davon Putin selbst glaubt. Unabhängig davon ist es unverantwortlich, mit irgendeiner märchenhaften Geschichtserzählung ein aggressives Verhalten gegen Nachbarländer zu rechtfertigen.

Wo aber wird Geschichte vergleichbar? Wo kann man daraus lernen? – Es geht um die großen Linien menschlichen Verhaltens, wie sie mehr als in Geschichtsbüchern vielleicht in der Literatur herausgearbeitet werden. Die altgriechischen Tragödien, die Geschichten des Herodot und des Thukydides, die auf uns gekommenen Berichte Caesars sind bis heute Studienmaterial für menschliches Verhalten und vor allem Fehlverhalten.

Aus der jüngsten europäischen Geschichte gibt es vier Paradigmata, die immer wieder zum Vergleich herangezogen werden:

1. Die Eigendynamik der Mobilmachungen, die dazu führte, dass der Erste Weltkrieg politisch nicht mehr aufzuhalten war.
2. Das Appeasement der Westmächte, das im Münchner Abkommen von 1938 gipfelte und Hitler ermutigte, seine Aggressionspolitik auszuweiten.
3. Der Opfermut und der Durchhaltewille während der „Battle of Britain“ unter Premierminister Winston Churchill
4. Die Abschreckungspolitik bis zur Beendigung des Kalten Krieges bis 1989

Aus jedem der Paradigmata gibt es Lehren, aber es wäre ein Fehler, damit leichtsinnig umzugehen.

Die Drohungen Putins mit dem russischen Nuklearpotenzial sind durchaus mit der Mobilmachung im Ersten Weltkrieg vergleichbar – aber zum Unterschied dazu ist das politisch schnell zurückzunehmen, solange nicht geschossen wird. Wenn es aber dazu kommt, kommt die Zweitschlags-Kapazität der USA ins Spiel – dann ist die Kontrolle kaum noch möglich, zumal Putin gerade dafür sorgt, dass die Kommunikation zwischen den großen Mächten nicht mehr ohne weiteres funktioniert. Aus dem Ersten Weltkrieg müssen wir lernen, es nie so weit zu treiben, dass ein nuklearer Krieg als unvermeidlich gilt. Sonst kann uns vor einer weltweiten Katastrophe (bis hin zu einem nuklearen Winter, der auch China die Überlebenschancen nimmt) nur ein rechtzeitiger Putsch verantwortlicher russischer Offiziere retten.

Die Appeasement-Politik vor allem des britischen Premierministers Chamberlain ist in Verruf geraten. Allerdings war das Britische Weltreich – das 1938 noch existierte – damals noch nicht kriegsbereit. Sollte Chamberlain riskieren zu verlieren? – Allerdings war auch Hitler noch nicht kriegsbereit und hohe deutsche Offiziere waren bereit, ihn zu stürzen, wenn er damals schon in die Tschechoslowakei einmarschiert wäre (6 Monate später war es zu spät). Eine was-wäre-wenn-Geschichte ist spekulativ und führt nicht weiter – aber es sollte eine Warnung sein, nicht zu schnell zu urteilen. Es kann unter Umständen zwingende Gründe zum Appeasement geben (so wie gegenüber einem Geiselnehmer, der Geiseln mit dem Tod bedroht). Die Lehre ist aber: Appeasement führt nicht zu „Peace in our time“, sondern allenfalls zu einem Zeitgewinn. Das ist abzuwägen gegen die mögliche Ermutigung des Aggressors.

Das britische Durchhaltevermögen – als das Land allein stand – beruhte darauf, dass die Bevölkerung hinter ihrer Regierung stand und sah, dass sie keine Wahl hatte, weil der Gegner den Krieg wollte. Oft wird von der Propaganda ein Krieg als „aufgezwungen“ dargestellt – aber die Bevölkerung hatte ein klares Gespür dafür, wann Gründe wahr und wann vorgeschoben waren. Kurzfristig wirkt Propaganda – auch in Deutschland, wo die Nazis Meister der Propaganda waren. Aber gegen die Tatsachen kommt man nicht auf Dauer an – da war Orwell vielleicht zu pessimistisch. Was wir daraus lernen sollten ist, dass Resilienz – also Durchhaltevermögen – auch gegenüber eigenen Einschränkungen und Leiden ein entscheidendes Moment ist und immer einkalkuliert werden muss. Doch am Ende konnte Churchill nur Erfolg haben, wenn er die USA an seiner Seite hatte. Durch Hitlers Angriff auf die Sowjetunion hatte er dann unerwarteterweise noch einen weiteren Verbündeten gewonnen.

Im Kalten Krieg herrschte die Abschreckungslogik. Zu Recht wurde immer wieder kritisiert, dass jederzeit eine Katastrophe „aus Versehen“, durch Fehleinschätzungen oder durch Unverantwortlichkeit über die Welt kommen konnte. Die Berlin-Krise vor 1962, die Kuba-Krise 1962, die sowjetische Fehleinschätzung der NATO-Manöver 1983 waren alle hochgefährlich und es gehörte neben einer klugen Politik immer auch Glück dazu, den Krieg zu vermeiden. Das Geflecht der Rüstungskontrollabkommen war sehr wichtig – aber auch diese konnten nur wirken, wenn die Kontrahenten rational handelten. Deshalb war es immer ein Alptraum, dass Terroristen oder Psychopathen den Finger am nuklearen Abzug haben könnten. Es liegt in der Abschreckungslogik, dass dem Gegner mit Waffen gedroht werden muss, deren Einsatz von beiden Seiten unendliche Opfer unter der Bevölkerung fordern. Demokraten und Humanisten können dem eigentlich nie zustimmen. Um Abschreckung glaubwürdig zu machen, muss der Gegner uns einen gewissen Grad an Irrationalität zutrauen.

Aus alledem können wir etwas für unser Handeln lernen: keine Eigendynamik der Konflikte zuzulassen, sondern die politische Kontrolle zu behalten und klar zu kommunizieren – nichts ist am Ende „unvermeidlich“; die eigenen Kräfte richtig einzuschätzen und auch einen Rückzug zur Beruhigung der Lage nicht auszuschließen, allerdings nie einen Aggressor dadurch ermutigen, dass er den Rückzug als angstgetrieben missdeutet; die eigene Resilienz vor allem an der „Heimatfront“ zu stärken und Entschlossenheit zu zeigen – zugleich aber ohne Scheuklappen Verbündete überall zu gewinnen, wo das möglich ist. So ist es auch wichtig, in der Vereinten Nationen die gutwilligen Kräfte zu sammeln und die böswilligen zu isolieren und ggf. auch zu sanktionieren; um Abschreckung kontrollierbar zu machen, muss sie politisch kontrolliert und gegenseitig kommuniziert werden, um Abschreckung glaubwürdig zu machen, muss dem Gegner klar sein, dass er uns nach einem Erstschlag nicht mehr berechnen kann und dass mit massiver Vergeltung zu rechnen ist, auch wenn das irrational klingt. Das ist ein kompliziertes und gefährliches Spiel.