Meine eigenen Erfahrungen in Russland im Lichte der späteren Entwicklungen

Meine eigenen Erfahrungen in Russland stammen aus den Jahren 1976-1980, aus den Jahren 1992-1995. Mit Russland hatte ich dann auch in den Jahren 2005-2008 zu tun. Kontakten mit russischen Botschaftern ergänzten meine Eindrücke bis 2013. Für die Zeit danach bin ich nicht besser informiert wie ein interessierter Zeitungsleser (und Nutzer neuer Medien). Daher habe ich viel aus dem Buch von Catherine Belton und vor allem aus dem Buch meines Kollegen Rüdiger von Fritsch „Russlands Weg“ gelernt.

Beide Bücher lese ich aus meiner eigenen Perspektive und vergleiche sie mit meinen eigenen früheren Erfahrungen. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist – mit den Worten von Bundeskanzler Scholz – eine „Zeitenwende“ eingetreten. Dabei ist auch eine Debatte aufgekommen, ob nicht die gesamte deutsche Außenpolitik (und vielleicht die westliche insgesamt) gegenüber Russland illusionär und damit falsch gewesen sei.

Ich habe insgesamt acht Jahre meiner diplomatischen Karriere in Moskau verbracht, dort leben Freunde, dort ist meine Tochter geboren, dort hat sie sich zum ersten Mal verliebt. Russische Literatur und russische Musik gehören zu meinem Leben. Viereinhalb Jahre davon, von 1976 bis 1980, lebte ich in der alten Sowjetunion unter Leonid Iljitsch Breshnew. Der Kalte Krieg war damals trotz der Ostverträge noch lange nicht überwunden. Die Arbeit in der Kulturabteilung war erfreulich, denn sie brachte mich mit den „kulturnye ljudi“ (kultivierten Menschen) zusammen; aber diese Arbeit war auch unerfreulich, weil sie einen ständigen Kampf mit der Sowjetbürokratie und dem KGB bedeutete, die unsere Kulturarbeit kontrollierten und behinderten.

Dreieinhalb Jahre, von 1992 bis 1995, leitete ich die Abteilung „Wirtschaft und Wissenschaft“ unserer Botschaft Moskau in der Phase des Umbruchs. Viereinhalb Monate nach dem Ende der Sowjetunion kam ich in ein anderes Land. Die Deutsche Einheit war gerade vollendet, noch für zwei weitere Jahre, bis 1994, standen ehemals sowjetische – nunmehr russische – Truppen auf dem Gebiet der früheren DDR. Über 700 ehemalige DDR-Firmen waren noch in Russland vertreten und erlebten wie ihre Märkte aus der Zeit der RGW-Arbeitsteilung verschwanden.

Russlands Zukunft war unsicher, das alte politische System war diskreditiert, das soziale System war schon unter der sowjetischen Regierung von Michail Gorbatschow zusammengebrochen, Löhne und Renten wurden oft nicht ausgezahlt, die Produktion brach ein, Armut breitete sich aus.

Zugleich gab es eine Aufbruchsstimmung: Russlands Weg war 1992 so offen wie nie zuvor. Reformkonzepte konkurrierten miteinander. Der Kommunismus hatte sich als nicht reformierbar erwiesen, jetzt suchten die Reformer Russland nach westlichem Vorbild zu Marktwirtschaft und Demokratie zu führen. Die westliche Welt in den G7, in der EU und in der NATO stellten sich der riesigen Herausforderung und entwickelten eine große Zahl von Programmen, um Russlands Reformen zu unterstützen. Präsident Boris Jelzin, Außenminister Andrej Kosyrew und Premier Jegor Gaidar standen damals für Reformen und für die Westorientierung Russlands.

Manche hielten es von Anfang an für falsch, die Hoffnung auf einen Wandel in Russland zu setzen. Russland sei eben schon immer expansionistisch, imperialistisch und aggressiv gewesen und auf Grund dieser historischen Erfahrung sei es eine Illusion, auf eine Friedensdividende zu hoffen und Russland bei seinem Wiederaufstieg zu unterstützen.

War es eine Illusion auf ein neues Russland zu setzen, das sich als normaler Nationalstaat in die Weltgemeinschaft einfügte ohne seine Nachbarn zu bedrohen?

Die historische Erfahrung Russlands war, dass die offenen Grenzen immer wieder Aggressoren einluden – von den Mongolen und Tataren bis hin zu den Heeren Polen-Litauens und Armeen aus Deutschland. Es wurde zu einem beständigen Ziel Russlands, ein Vorfeld zu beherrschen und so den Krieg vom eigenen Territorium fernzuhalten. Der Aufbau eines Imperiums von der Zeit des „Sammelns russischer Erde“ bis hin zur größten Ausdehnung der russischen Hegemonie nach dem zweiten Weltkrieg war die raison d’être des russischen Staates.

Ein Imperium war und ist nicht mit Selbstbestimmung und Freiheit seiner unmittelbaren Nachbarn vereinbar. Die Erfahrungen Polens und der baltischen Länder mit den östlichen Nachbarn waren traumatisch: der Mongolensturm erreichte Liegnitz im heutigen Polen, Polen wurde immer wieder geteilt – und immer war Russland daran beteiligt. Die baltischen Nationen wurden im Zarenreich mit Hilfe deutscher Barone beherrscht (die oft Minister des russischen Reiches stellten), nach dem Hitler-Stalin-Pakt sowjetisch besetzt, wurden sie durch Stalins Kommissare und die Tscheka unterdrückt. Viele Balten wurden deportiert, jeder Widerstand niedergeschlagen. Noch unter Gorbatschow kam es zu Übergriffen von KGB-Truppen in Riga. Auch die kaukasischen Staaten gehörten zum russischen Vorfeld: Mit der Unabhängigkeit Georgiens, Armeniens und Aserbeidschans nach der Oktoberrevolution war es schon 1920-1922 vorbei und Transkaukasien wurde in die Sowjetunion integriert.

Aus ukrainischer Sicht war es zuerst das polnisch-litauische Reich, später Polen und dann jahrhundertelang Russland, die verhinderten, dass die ukrainische Nation sich frei entwickeln konnte. Die sowjetische Politik kostete die Ukraine Millionen Opfer, der Überfall des nationalsozialistischen Deutschland vergewaltigte die Ukraine ebenso wie Polen.

Die deutsche Politik sah nach 1992 zunächst nur Russland als wahren Nachfolgestaat der Sowjetunion. Auf Grund des Überfalls von 1941 fühlten sich Deutsche gerade Russland gegenüber besonders verpflichtet – politisch und moralisch. Oft wurde vergessen, dass gerade die Ukraine und Weißrussland unter dem nationalsozialistischen Überfall besonders schlimm gelitten haben. Allerdings kommt hinzu, dass es vor allem in der Ukraine – aber auch im Baltikum – zunächst Hoffnungen gab, das mörderische Sowjetsystem mit Hilfe der Deutschen loszuwerden. So kam es zu einer antisowjetischen Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Weil sich das auch auf den nationalsozialistischen Judenmord erstreckte, konnte und wollte keine deutsche Regierung der Nachkriegszeit daran anknüpfen! Die Hoffnung auf Befreiung war eine Illusion. Die Nationalsozialisten wollten alle slawischen Völker unterjochen.

Heute wird deutschen Politikern von Helmut Kohl bis Angela Merkel vorgeworfen, nicht auf die Osteuropäer gehört zu haben und eine falsche Russlandpolitik betrieben zu haben. Deutsche Politiker und Medien hauen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine in diese Kerbe.

Um es kurz zu sagen: Ich halte diese deutsche Debatte für heuchlerisch und selbstgerecht. F.W. Schlegel nannte den Historiker einen „rückwärtsgewandten Propheten“. Das beschreibt recht gut die Gurus in Politik und Medien, die so tun, als hätten sie alles längst gewusst, und nur die anderen seien Putin auf den Leim gegangen bzw. hätten sich von den Russen korrumpieren lassen.

Tatsächlich war die Russlandpolitik in Deutschland weitgehend unumstritten. Ganz anders als von britischen und amerikanischen, ganz zu schweigen von osteuropäischen und baltischen Politikern, wurden Warnungen vor einem neuen russischen Imperialismus in Deutschland nicht sehr ernst genommen. Die beiden Kriege in Tschetschenien wurden als innere Angelegenheit Russlands betrachtet – zumal der Islamismus und Terrorismus der Tschetschenen sicher keine Sympathien in Europa weckte. Das brutale Vorgehen der russischen Armee erschütterte dann die westliche Öffentlichkeit. Die vielen „eingefrorenen Konflikte“ in Abchasien, Transnistrien, Berg-Karabach und Südossetien, wurden der OSZE überlassen. Niemand wollte diese Konflikte „auftauen“.

Die Militäraktion gegen Georgien 2008 erregte amerikanische und britische Politiker mehr als deutsche, die darauf hinwiesen, dass der georgische Präsident Saakaschwili mit der Beschießung russischer Stellungen jenseits der Demarkationslinie eine Gegenreaktion geradezu provoziert hatte.

Natürlich gabe es immer unterschiedliche politische Einschätzungen und Positionen. Henry Kissinger sprach einmal davon, dass Politiker unter Zeitdruck auf der Grundlage von Mutmaßungen entscheiden müssen. Solche Mutmaßungen können sich als falsch, ja sogar als illusionär herausstellen. Entsprechend muss die Politik dann verändert werden.

Gegenwärtig finde ich es allerdings bedenklich wie sehr sich Politik von Medien treiben lässt, die so tun, als seien die notwendigen Mutmaßungen der Politiker nur ein Zeichen von Inkompetenz.

Medien betrachten sich selbst gerne als „vierte Gewalt“. Es ist für Politiker sehr schwer eine Politik zu vertreten, die von den wichtigsten Medien abgelehnt wird. Doch die Verantwortung bleibt bei der Politik. Auch Think Tanks sind machmal beleidigt, dass sie nicht stärker an der Politik beteiligt werden. Dahinter stehen oft falsche Vorstellungen über ihre Rolle. Politikberatung bringt die Sachkenntnis ein, Entscheidungen brauchen politische Legitimation.

Nie wurde das „Meinungsbild“ der Bevölkerungen so beständig verfolgt wie in unserer Zeit. Doch das ist ein trügerisches Bild: die Umfragen korrelieren hochgradig mit dem Bild, dass die Medien gerade zuvor verbreitet haben – es ist also ein Rückkopplungsprozess zwischen Medienmeinung und „Volkes Meinung“ in den Umfragen, die das Ergebnis sehr unzuverlässig machen. Es wird im Grunde nur gemessen wie erfolgreich das Bild führender Medien Meinungen beeinflusst hat.

Ein Bürger hat meistens keine andere Möglichkeit, sich ein Bild von Politik zu machen als mit Hilfe der Medien. Damit spiegelt sich aber im Meinungsbild auch der Stand der Pressefreiheit: staatliche und oligarchische Einflussnahme wirken über kontrollierte Medien auf die Menschen ein. Aber auch freie Medien haben erhebliche Meinungsmacht, die politisch manipuliert werden kann. Der Umgang mit den neuen Medien braucht viel mehr Medienkompetenz der Nutzer, als bisher vorausgesetzt werden kann.

Die Abwehrkräfte selbst gegen plumpe Propaganda waren noch nie sehr ausgeprägt. Die neuen Medien öffnen zwar neue Freiräume, bieten aber auch Fake News und Extremismus ein Forum.

Die deutschen Medien waren lange Zeit ausgesprochen russlandfreundlich. Die Ablehnung des Irakkrieges der USA unter George W. Bush führte Bundeskanzler Gerhard Schröder und Wladimir Putin nahe zueinander. Das war auch in den Medien populär. Als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, wurden die Beziehungen nüchterner, blieben aber eng. Merkel hielt an den engen energiepolitischen Beziehungen fest, die unter Schröder verstärkt worden waren.

Die Korruption und Unzuverlässigkeit der wechselnden ukrainischen Regierungen in den neunziger Jahren ließ es angeraten sein, durch Ostseepipelines wie North Stream 1 und 2 unabhängige Zugänge zu russischem Gas zu bauen. Die Bedenken aus Polen und der Ukraine wurden beiseite geschoben. Man ging davon aus, dass diese Bedenken (von Staaten, die selbst viel stärker am russischen Gashahn hingen) nur dadurch motiviert waren, dass man den Wegfall von Durchleitungsgebühren fürchtete. Und US-Bedenken wurden unter Verkaufsförderung für teures amerikanisches LNG verbucht.

Warnungen vor zu großer Abhängigkeit von Russland wurden damit beantwortet, dass Russland historisch immer ein zuverlässiger Lieferant gewesen war (obwohl sich eine Politisierung der Lieferungen durch GAZPROM schon in den neunziger Jahren ankündigte). Vor allem ging man davon aus, dass die Abhängigkeit GEGENSEITIG war, dass also Russland ebenso wenig auf die Einnahmen wie Deutschland auf das Gas verzichten konnte. Beide Bedingungen waren offenbar nie genauer geprüft worden. Hier habe auch ich geirrt, denn ich habe an die gegenseitige Abhängigkeit geglaubt – jedenfalls, als die Abhängigkeit noch bei etwa 35% lag. Um eine höhere Abhängigkeit zu vermeiden, bin ich allerdings schon 2006 für deutsche LNG-Terminals eingetreten.

Die Grünen waren die einzige Partei in Deutschland, die an North Stream zweifelte – allerdings eher aus Zweifeln an fossilen Brennstoffen als aus außenpolitischen Gründen.

Rüdiger von Fritsch hat ein treffendes Bild gebraucht: solange wir mit Russland im Dialog waren, gab es Beziehungen wie in einem Schachspiel. Beide Seiten spielten nach festen Regeln. Mit dem Ukrainekrieg hat Putin das Schachbrett umgeworfen. Und das verändert die Lage total!

Schon 1995 war Russland hin und hergerissen zwischen Reformern und rückwärtsgewandten, nationalistischen und imperialistischen Kräften. Ich habe damals gesagt, dass der Weg in neue Großmachtträume Russland ruinieren wird. Auch heute muss Russland zwischen Wohlstand und Imperium wählen – beides kann es nicht haben.