Nach dem Fall von Kabul 2021

VERÖFFENTLICHT 16. AUGUST 2021

Als die Taliban noch gegen die NATO, in erster Linie gegen US-Truppen und in Helmand gegen britische Verbände kämpften, konnte sich die afghanische Regierung in Kabul darauf verlassen, dass sie ihren Geschäften unter dem Schutz der ausländischen Soldaten ungestört nachgehen konnte. Sobald die Hand der USA und in deren Gefolge der anderen westlichen Länder weggezogen wurde, waren die Taliban binnen weniger Wochen in der Lage – ohne größere Kampfhandlungen – die Macht zu übernehmen. Die sechsmal so große afghanische „Armee“ ergab sich weithin kampflos, „Präsident“ Ghani floh außer Landes. Deutlicher konnte die Absage an den „Westen“ nicht ausfallen. Dreimal Anführungszeichen: denn es fällt schwer diese Kapitulations-Armee, diesen Flucht-Präsidenten und diesen Westen ernst zu nehmen.

Dieser „Westen“ hat sogar schon vergessen, dass die Machtübernahme der Taliban das Ergebnis der Verhandlungen ist, die Präsident Donald Trump in Doha mit den Taliban abgeschlossen hatte. Es ist also sehr böswillig, wenn jetzt Vergleiche mit dem Abzug aus Saigon gemacht werden und die Niederlage Joe Biden zugeschrieben wird. Das bedeutet nicht, dass Trump unrecht hatte, das Experiment von 20 Jahren „nation building“ in Afghanistan zu beenden. Es war höchste Zeit dafür.

Als die Taliban sich 2001 weigerten, Osama Bin Laden und seine Al-Qaida-Terroristen auszuweisen (von aus-liefern war ja nicht einmal die Rede – und einige Taliban waren sogar für die Ausweisung) war die militärische Intervention der USA folgerichtig. Eine Terrorbasis irgendwo auf der Welt, von der aus Anschläge gegen westliche Gesellschaften vorbereitet werden, konnte damals nicht geduldet werden und ähnliche Verhältnisse dürfen auch heute nicht geduldet werden. Ob nun in Form eines Bündnisfalles nach Art.5 des NATO-Vertrages oder in anderer Form: die westliche Staatengemeinschaft konnte nach den Anschlägen von 9/11 die USA nur klar und deutlich – mit „uneingeschränkter Solidarität“, wie Bundeskanzler Schröder sagte – unterstützen. Das war richtig!

Betrachtet man dann aber den Einsatz in Afghanistan über den Zeitraum von 20 Jahren, dann ist nicht nur das Ergebnis ein Desaster, sondern es hat auch im Verlauf der Intervention immer wieder Fehler gegeben. Die Hauptlast des Eingreifens trugen die USA – andere Streitkräfte waren unter diesen Umständen nicht zu einer eigenen Strategie in der Lage – sie konnten sich den wechselnden Doktrinen der USA mehr oder weniger anpassen oder sich aus der Intervention herausziehen. Eine gemeinsam entwickelte Strategie und gemeinsame Verantwortung gab es aber nicht. Hingegen war ein ständiger „mission creep“ zu beobachten – eine kumulative Anreicherung mit weiteren Zielen.

Von Anfang an bestand ein Widerspruch zwischen dem Ziel, Al-Qaida zu besiegen und aus Afghanistan zu vertreiben und dem Ziel, den Staat und die Gesellschaft Afghanistans zu stabilisieren und zu „demokratisieren“. Westliche Regierungen, Entwicklungsagenturen, Nichtregierungsorganisationen und UN-Einrichtungen waren fest davon überzeugt, dass mit viel Geld für Entwicklungsprojekte Menschenrechte, Bürgerrechte und Frauenrechte in Afghanistan nach und nach dauerhaft verankert werden könnten. Anfangs gab es bei den NGOs einen großen Widerwillen dagegen, mit den kämpfenden Soldaten auch nur gesehen zu werden, bis dann Hilferufe kamen, weil ungeschützte Projekte schnell zur Zielscheibe von Angriffen der Taliban wurden.

Es wurde zunächst viel erreicht: Mädchen konnten Schulen besuchen, viele Frauen konnten studieren und qualifizierte Berufe ergreifen. Die Infrastruktur – Straßen, Brunnen, Elektrizität – wurde verbessert. Formal wurden die Grundlagen für eine gewählte, repräsentative Regierung geschaffen. Immer gab es großes Geschrei, die Mittel seien viel zu gering – aber tatsächlich war der Aufwand außerdordentlich hoch, die Effizienz allerdings eher fraglich.

Aber das wichtigste Ziel: die Herzen und Gehirne der breiten Bevölkerung zu gewinnen, gelang nicht wirklich. Es gab in Afghanistan immer kleine Gruppen, die das Land modernisieren wollten und zeitweise Erfolg hatten. Die meisten Afghanen – vor allem auf dem Lande – aber waren nicht willens, für die westlich geprägte Modernisierung zu kämpfen, eben so wenig wie sie Jahrzehnte zuvor bereit gewesen waren, für die kommunistischen Modernisierer zu kämpfen. Man ließ sich gerne vom Westen bezahlen, aber westliches Denken wurde nicht dafür gekauft. Wie mir einmal ein Kenner des Landes sagte: „Afghanen kann man nicht kaufen – nur mieten!“

Auch unter dem „westlich orientierten“ Präsidenten Hamid Karzai mussten westliche Botschaften mehr als einmal intervenieren, damit nicht gegen westliche Ausländer Todesurteile wegen Verletzung von Sharia-Gesetzen ausgesprochen wurden. Westliche Geldströme waren eine ständige Quelle von Korruption. Warlords lebten lieber vom Drogenhandel als zur Verteidigung des Landes beizutragen, manche trugen von Anfang an auf zwei Schultern und spielten ein Doppelspiel.

Der archaische Islam motivierte fanatische Kämpfer – westliche Ideen motivierten nur wenige Afghanen. Viele erwarteten, dass westliche Soldaten für sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Immer wieder kam es auch bei gerade vom Westen frisch ausgebildeten Soldaten und Polizisten zu Fällen von Korruption und in Einzelfällen auch von Verrat.

Unter diesen Umständen wäre ein sehr schneller Abzug schon ab 2003 richtig gewesen – verbunden mit der Bereitschaft, bei einer erneuten Machtübernahme der Taliban ebenso zügig wieder einzugreifen, wenn dies nötig erschien. Allerdings nur unter der Bedingung, dass „die anderen Afghanen“ so kampfbereit sind wie 2001 die Nordallianz.

Das „empowerment“ von Frauen in Afghanistan wurde von westlichen Organisationen als rhetorische und intellektuelle „Macht“ verstanden – und das durchaus mit gewissen Erfolgen. Aber ohne Mittel zur Selbstverteidigung werden viele Frauen wieder in die Sklaverei traditioneller Familienstrukturen gezwungen.

Europäische und UN-Organisationen tun manchmal so, als könnte man Afghanistan mit seinen 38 Millionen Einwohnern weitgehend nach Europa und Deutschland evakuieren und nur die Steinzeit-Islamisten dort belassen. Tatsächlich melden sich als Flüchtlinge aber viele junge und ältere Männer, die ihre Vorstellungen von der untergeordneten Rolle der Frau gleich mit nach Europa bringen. Wie schon unter den Flüchtlingen vom Balkan und aus Syrien werden auch aus Afghanistan viele Unterdrücker dabei sein. Es ist nicht einfach zwischen Tätern und Opfern zu unterschieden. Ein Asylrecht für Täter ist allerdings absurd!

Um so mehr muss sich der Westen und gerade auch Deutschland für diejenigen verantwortlich fühlen, die sich klar und deutlich für die Bundeswehr exponiert haben. Heute reklamieren viele, dass sie wegen ihres Engagements von den Taliban bedroht würden. Aber nicht jeder Mann, der für Geld irgendeine Dienstleistung erbracht hat, ist bedroht. Aber bei bekanntermaßen loyalen, vertraglich von der Bundeswehr angestellten Afghanen halte ich ein Asylangebot für zwingend geboten – anders als bei vielen, die sich nicht am Kampf gegen die Taliban beteiligt haben und jetzt auf ein Ticket in den Westen hoffen. Auch hochqualifizierte Frauen sollten bevorzugt Visa erhalten, denn die Taliban sind offenbar entschlossen, weiterhin einen frauenfeindlichen Steinzeitislam zu predigen.

Der Aufbau einer „neuen Gesellschaft“ in Afghanistan war eine komplette Überforderung der westlichen Länder. Meine (damals unmaßgebliche) Auffassung war von Anfang an, dass nur eine kurze, massive und durchaus gewaltsame militärische Intervention – die dann auch „Krieg“ heißen darf – sinnvoll war. Eine langfristige Besetzung führte hingegen dazu, dass die Afghanen das Kämpfen gerne dem Westen überließen und zugleich begannen, sich von den „Befreiern“, die zu „Besatzern“ wurden, zu distanzieren – ja, sie zu hassen.

Kulturelle Differenzen trugen auch dazu bei, dass der anfänglich konstruktive Dialog nur mehr zu Frustrationen führte. Ich habe erlebt, wie bei Entführungsfällen in Afghanistan schon sechs Jahre nach der Intervention ein tiefes Misstrauen in die afghanischen Partner herrschte – ein durchaus begründetes Misstrauen.

Der erste Fehler aus meiner Sicht war: statt einer kurzen Intervention zur Vertreibung der Taliban und anschließender Überlassung der Verantwortung an den afghanischen Widerstand gegen die Taliban, hat sich der Westen auf eine lange Besetzung eingelassen. Donald Rumsfeld, der eine kurze Intervention gefordert hatte, hat Recht behalten gegen Blair und Bush.

Der zweite große Fehler war, dass die USA durch den Krieg gegen Saddam Hussein massiv Ressourcen von Afghanistan abzogen anstatt die Intervention erst einmal zu einem Erfolg zu führen oder eben nach der Flucht Osama bin Ladens abzubrechen.

Der dritte Fehler war die vor allem in Zusammenhang mit dem Irakkrieg wachsende Polemik der USA gegen wichtige europäische Verbündete. Auch die in Großbritannien verbreitete hypokritische Kritik an dem Beitrag anderer Verbündeter zur Ablenkung vom eigenen Scheitern in Helmand spaltete den Westen und beschädigten die Motivation der Partner.

Ein vor allem in Deutschland ausgeprägter Fehler war es, einen Krieg anzufangen und vor der eigenen Öffentlichkeit nicht dazu zu stehen. Die eigenen Soldaten wurden öffentlich geradezu versteckt, das Wort „Krieg“ war tabu, die Medien konnten sich wochenlang darüber ereifern, dass bei einer Bombardierung eines Tankfahrzeugs auch angebliche Zivilisten ums Leben kamen – sogar Klagen gegen unsere Soldaten wurden in Deutschland zugelassen.

Die meisten Länder hatten Vorbehalte in ihr Mandat eingebaut – so auch Deutschland. Es gab zwar regelmäßige Mandatsverlängerungen durch den Deutschen Bundestag, aber es fehlte eine klare politische Unterstützung harter und entscheidender Schläge gegen die Taliban. Eher hatte man das Gefühl, dass zu jedem Einsatz ein Anwalt mitgehen müsste, um sicherzustellen, dass kein Gegner totgeschossen wurde, ohne dass gesichert war, dass deutsche Strafrichter auf Notwehr erkennen würden.

Auch die USA führten trotz einer klareren Linie nur einen begrenzten Krieg gegen einen Gegner, der unbegrenzte Zeit und Geduld hatte. Die Unterstützer der Taliban in Pakistan und Saudi-Arabien wurden aus strategischen Gründen geschont.

Der Westen verkannte, dass es nicht nur in Afghanistan – aber auch dort – um eine ideologische Auseinandersetzung mit einer verbreiteten militanten Auffassung des Islam geht. Wer sich diesem ideologischen Kampf nicht stellt, hat schon verloren.

Die westlichen Medien blieben den gesamten Konflikt über eigenartig widersprüchlich: einerseits sollte den Afghanen westliche Freiheiten gesichert werden und ihnen umfassend „geholfen“ werden, am besten von den „guten“ Nichtregierungsorganisationen. Das Militär war auch akzeptabel, wenn es Brunnen baute, aber sobald es um militärische Gewalt ging, wurde die Notwendigkeit der Gewaltanwendung kritisiert, geleugnet oder verschämt verschwiegen. Die Debatte über die Ausrüstung der Bundeswehr mit Kampfdrohnen war geradezu bizarr, lieber wurde eine verminderte Kampfkraft der Truppen in Afghanistan in Kauf genommen.

Jede US-Drohne, die Taliban traf, galt offenbar „Hochzeitsgesellschaften“. Immer wieder wurde Taliban-Propaganda von westlichen Medien ungeprüft verbreitet. Besonders anfällig waren westliche Medienvertreter gegenüber der systematischen Behauptung von Halbwahrheiten: gab es tatsächlich bei Angriffen zivile Opfer, was sich in einem Krieg kaum vermeiden lässt, so gaben die Taliban von Quetta aus sofort weit überzogene Opferzahlen bekannt, die dann dank westlicher Medien um die Welt gingen, während westliche Streitkräfte zunächst die Fakten zeitaufwendig prüften. Das späte Ergebnis der Prüfung wurde von den Medien nicht mehr beachtetet. Die falschen Zahlen über „richtige“ Ereignisse wurden hingegen immer wieder wiederholt, bis jeder sie glaubte.

Donald Trump hatte deutlich gemacht, dass die USA nicht mehr bereit sind, Kriege für andere zu führen, die nicht dazu bereit sind, sich selbst zu verteidigen – und sogar in billigen Antiamerikanismus verfallen. Er hat dabei in Kauf genommen, dass die Türken die kurdische YPG zurückdrängen, die beim Sieg über den IS eine heroische Rolle gespielt hatte, er hat in Kauf genommen, dass die Taliban die Macht übernehmen und die afghanische Armee von den USA ebenso wie von der eigenen Regierung im Stich gelassen wurde, so dass ihre Demoralisierung kein Wunder ist. Wenn er mit dem Slogan „Make America great again“ hausieren ging, dann meinte er ein großmäuliges aber isolationistisches Amerika.

Und dennoch: er hat damit auch „des Kaisers neue Kleider“ ausgerufen: wer im arabischen Raum Macht wollte, versuchte die USA (oder die Russen) auf seine Seite zu ziehen, in Afghanistan verließ man sich auf westliches Militär mehr als auf eigene Kräfte. Jetzt zeigt sich, Trump sei Dank – was das wert war. Das mag auch eine Warnung an diejenigen sein, die glaubten, in Syrien direkt intervenieren zu müssen, die in Libyen eingegriffen haben ohne zu einer Stabilisierung in der Lage zu sein. Ich hatte selbst zeitweise die deutsche Zurückhaltung in Libyen aus bündnispolitischen Gründen für falsch gehalten – gebe aber zu, dass Bundeskanzlerin Merkel gut daran getan hatte, sich aus dem Abenteuer von Sarkozy und Cameron (die von Obama „gerettet“ werden mussten) herauszuhalten.

Ich halte die Doktrinen der „humanitären Intervention“ und erst recht der „liberal intervention“ für gescheitert: Interventionen sind in manchen Fällen durchaus gerechtfertigt und vielleicht notwendig. Aber sie müssen kurz und schmerzhaft sein – nicht lang und erschöpfend. Die Ziele und der „Feind“ müssen klar definiert sein und das Ziel muss politisch sein – wenn nötig durch einen militärischer Sieg, aber nicht eine Mission um ihrer selbst willen. Allenfalls kann in manchen Fällen ein „Proxy“ unterstützt werden – in Ausnahmefällen kommt auch ein kurzzeitiger Einsatz von KSK-Kräften in Frage. Jede längere Besetzung hingegen erodiert schnell zu Besatzungsmentalität, weckt Widerstand und ist zuhause nicht durchzuhalten – und ist daher zu vermeiden. Das Ende jeder Mission muss bei Beginn feststehen. Die einzige Ausnahme ist die unmittelbare Landes- und Bündnisverteidigung, die vorrangig gesichert werden muss.

In zwei Fällen war ich an Entscheidungen beteiligt, wo es zu einer Begrenzung des deutschen Einsatzes kam: in der Libanonkrise 2006 gab es Kräfte, die einen deutschen Beitrag zur UN-Mission an Land an der israelisch-libanesischen Grenze forderten. Ich habe gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium erfolgreich darauf gedrängt, in diesem Fall eine begrenzte Marine-Mission zu entsenden, um den Waffenschmuggel über See zu kontrollieren. Deutschland durfte nicht mit Bodentruppen in eine Situation geraten, wo deutsche Blauhelme israelischen Kräften gegenüberstehen könnten. Der andere Fall war die Mission zur Absicherung der Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo im Oktober 2006. Auch hier gab es Stimmen in der Bundesregierung, die eine Verlängerung der Mission zur „Friedenssicherung“ im Kongo befürworteten. Auch hier zogen AA und BMVg an einem Strang, damit die deutschen Soldaten zu Weihnachten wieder daheim waren. Beide Missionen waren erfolgreich, in beiden Fällen wurde eine Erosion der Legitimation vermieden.

Diese beiden Missionen waren keine Kampfeinsätze. Wenn aber „out-of-area“ gekämpft werden soll, dann nur mit der besten möglichen Ausrüstung und kurzen, aber entscheidenden Schlägen – nicht mit verschämten Missionen, die nicht Krieg heißen dürfen. Der Deutsche Bundestag hat unsere Soldaten durchaus mit seinen Mandaten immer wieder gestützt – es wäre aber zu wünschen, dass flexiblere und effizientere Verfahren – wie Vorratsbeschlüsse – die Planungen erleichtern.

Der Fall von Kabul sollte Anlass für eine ausführliche Aufarbeitung der gesamten Intervention in Afghanistan sein – nicht in besserwisserischer Pose, als habe man alles vorhergesehen (jeder sollte auch seine eigenen Kommentare im Zeitverlauf nochmals lesen und prüfen, ob diese wirklich klug waren). Nur eine sachliche und kritische Analyse hilft eine Wiederholung solcher Fehler zu vermeiden.

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