Vom Nutzen und Nachteil der Theorie für die Internationalen Beziehungen

VERÖFFENTLICHT 9. APRIL 2018

Es ist zum verzweifeln – hat man gerade ein Buch gelesen, ist es fast schon wieder veraltet. In der Wissenschaft sind zehn Jahre mehr als eine Generation. 2006 haben Siegfried Schieder und Manuela Spindler die 2. Aufl. der „Theorien der internationalen Beziehungen“ herausgegeben. Als ich das Buch las, befasste ich mich noch mit der Praxis der internationalen Beziehungen. Eine zusammenfassende Einführung in die Theorien kam mir gerade recht, einmal weil sie Zeit spart, zum anderen weil ich es spannend fand, die tägliche Praxis mit den gängigen Theorien zu konfrontieren. Jetzt fiel mir das Buch zwölf Jahre später wieder in die Hände.

Zu den Beiträgen der einzelnen Autoren hatte ich damals jeweils einen Satz neben die Überschrift gesetzt, einen apodiktischen kurzen Urteilsspruch. Im Text hatte ich, wie in allen meinen Sachbüchern viel angestrichen und mit Frage- oder Ausrufezeichen versehen. Das ersetzt natürlich keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theorien. Manches würde ich heute anders formulieren. Wohl aber ist es ein Indiz für die seinerzeit empfundene Relevanz oder Irrelevanz der einzelnen Aufsätze. Deshalb habe ich die Anmerkungen hier auch nicht verändert.

Weder damals noch heute gibt es eine allgemein akzeptierte oder verbindliche Theorie der internationalen Beziehungen. In der Einleitung gibt es eine gute Zusammenfassung dessen, was eine Theorie leisten sollte:

Selektionsleistung: welche Information ist relevant und welche nicht.
Das ist auch für die Praxis wichtig, aber auch sehr fehleranfällig. Die Menge der Information verdeckt leicht Relevantes im Wust von Irrelevanz. Der Wissenschaftler hat Zeit zu selektieren, der Praktiker braucht dafür Erfahrung.

Definitionsleistung: Abgrenzung des Fachbereichs und Art der Erkenntnistheorie
in der Praxis ist dies meist vorgegeben. Der Praktiker befindet sich selbst im Strom der Ereignisse, er ist eine Art beteiligter Beobachter in einem Regelkreis, wo sich eigene und fremde Aktivitäten, eigene und fremde Erkenntnis rückkoppeln. In der Praxis fehlt aber oft die Erkenntnis, dass man irren kann, dass Annahmen kritisch betrachtet werden müssen. Wissenschaftliche Methoden sind mühsamer, so verfestigen sich in der Praxis oft fehlerhafte Definitionen.

Integrationsleistung: Zusammenfassung von Aussagen in spezifischer Terminologie
mithilfe der Sprache wird erst Verständigung über die Theorie möglich, die Sprache kann uns aber auch verhexen. Wichtig ist, Kohärenz der Aussagen herzustellen. In der Praxis sind sprachliche Chiffren weitgehend bereits vorgegeben. Diese sollten aber kritisch daraufhin hinterfragt werden, ob nicht durch eine fehlerhafte Integration auch falsche Weltbilder entstehen.

Systematisierungsleistung: die Aussagen ordnen und Relationen zuordnen
für außenpolitische Praxis kommt es darauf an, den Sachbereich nicht nur für sich selbst zu systematisieren, sondern sich darauf einzulassen, wie andere den gleichen Bereich für sich systematisieren. Die kategoriale Einteilung von Fakten, das Ablegen von politischen Fakten in Schubladen ist unvermeidliche Reduktion der Komplexität, führt aber auch zu falschen Festlegungen. Die Systematisierung muss also immer revidierbar bleiben.

Abstraktionsleistung: Aufstellung von Hypothesen, Gesetzmäßigkeiten, Strukturmodelle
auch in der Praxis werden Hypothesen aufgestellt, allerdings meistens nur implizit. Diese dürfen sich nie zu Dogmen verfestigen, sondern müssen ständig kritisch überprüft werden. Die Feststellung von Gesetzmäßigkeiten und die Anwendung von Strukturmodellen sind in der Praxis nicht zu leisten. Hier ist der Praktiker sehr oft unbewusst der Tradition und ungeprüften Arbeitshypothesen verpflichtet. Die Beratung durch die Wissenschaft kann gerade an dieser Stelle sehr helfen.

Explikationsleistung: die Theorie soll Realität erklären, was immer Realität sei
für den Praktiker ist Realität, das was ihn in seiner nationalen und internationalen Arbeit phänomenal umgibt. Das wird nicht wirklich hinterfragt. Die Theorie ordnet die Phänomene und beantwortet die Frage nach dem was, woher, warum. Hier fällt nach meiner Beobachtung aber Theorie und Praxis oft weit auseinander, weil die Explikation von Geschehen durch Theoretiker oft nicht dem Erfahrungshintergrund des Praktikers entspricht. Der Praktiker kommt nach großartigen Erklärungen oft genug zu dem Schluss: „ich kann nicht erklären, warum, aber da stimmt etwas nicht an der Theorie“.

Prognoseleistung: die Erklärungen der Theorie sollen Prognosen erlauben
zunächst erklären Theorien, was schon geschehen ist. Der Test dafür, ob eine Theorie leistungsfähig ist, ist aber ihre Prognosefähigkeit. Die Differenz zwischen Prognose und tatsächlichen Geschehen ist aber für den Praktiker nicht leicht zu unterscheiden. Politisches Geschehen hat als Teil des Stroms der Geschichte vielfältige Abhängigkeiten, Interdependenzen und nicht einfache Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Einfache Prognosen sind oft Expolationen linearer Funktionen, die selten die Komplexität der Realität spiegeln, komplexere Theorien – wie in der Ökonometrie können daran scheitern, dass man versucht, partielle Differentialgleichungen dritten Grades zu lösen, die mathematisch keine exakte Lösung haben - und dann vergisst, die Grenzen der Näherungslösungen zu beachten.

Über das Kapitel „Realismus“ von Andreas Jacobs schrieb ich damals:
eher ein „Narrativ“ als eine Theorie. Aber realitätsnah. Konzentration auf „Macht“ ist sehr einseitig.

Das realistische Denken steht in der Tradition von Thukydides, Machiavelli, Hobbes, Nietzsche und Max Weber, so unterschiedlich diese Denker auch waren. Alle diese Autoren haben auch meine Weltsicht beeinflusst. Nicht ihre wissenschaftliche Strenge, sondern ihre packenden Erzählungen haben ihre Paradigmen sehr stark gemacht. Der Realismus war immer ein Korrektiv zu einem Idealismus, der von einer Welt ausging, wie sie sein sollte, und nicht, wie sie war. 

Zugleich ist der Realismus selbst ein Idealismus: wenn er nämlich dem außenpolitischen Praktiker nahelegt, so zu handeln, als seien ideologische, ideelle und kulturelle Gegensätze nur Ausdruck von Machtkämpfen. Das ist eine unüberprüfte Behauptung, aus meiner Erfahrung eine falsche Behauptung. Der Begriff Macht drückt ja die Fähigkeit aus, anderen die eigenen Präferenzen aufzuerlegen. Diese sind aber ihrerseits ideologisch geprägt, auch Ideologien und Religionen werden vielen Menschen durch Machtausübung auferlegt. Ein Problem des Realismus ist es auch, dass jeder, der Außenpolitik als Machtbeziehungen versteht, sie auch selbst als Machtbeziehungen gestaltet, eine „self-fulfilling prophecy“.

Zum Kapitel „Neorealismus“ von Niklas Schörnig schrieb ich:
Sehr schematisch und zu monoman auf Macht/Sicherheit fokussiert. Kaum Prognosewert.

Die weitgehend von Kenneth Waltz geprägte neorealistische Theorie geht im Grunde ständig von „worst case scenarios“ aus. Sicherheitsinteressen dominieren, Kooperation ist die Ausnahme. Auch hier besteht die Gefahr, ähnlich wie beim Realismus, aufgrund dieser Theorie so zu handeln, dass dadurch eine Eigendynamik erzeugt wird, die die Theorie anschließend zwar bestätigt, die aber keineswegs von vornherein alternativlos war. Die Staaten werden wie eine Blackbox behandelt, meine Erfahrung zeigt, dass das ein Fehler ist. Die inneren Strukturen, und Widersprüche wirken immer auch auf das internationale Verhalten ein. Wer Staaten als internationale rationale Nutzenmaximierer ansieht, verkennt wie viel Unfähigkeit und Dummheit integraler Teil internationaler Politik ist. Die Theorie kann außerdem vielleicht erklären, wie Kriege entstehen, aber nicht wie man Frieden schließt.

Das Kapitel „Interdependenz“ von Manuela Spindler kommentierte ich:
interessante Theorie, aber zu wenig systemtheoretisch gestützt

die Theorie dass es keine souveränen Staaten mehr gebe sondern eher eine Art Welt Innenpolitik, dass Interdependenz und Dependenz alles beherrschen, ist zunächst sehr sympathisch. Man würde sich wünschen, dass es so einfach sei. Auch in der Praxis stellt man immer wieder fest, „dass alles von allem abhängt“. Die Frage ist wie? – Systemtheorie bietet gute Methoden, sich mit Interdependenz auseinanderzusetzen. Sie zeigt aber auch, dass Untersysteme eine Tendenz haben sich abzuschließen und die Komplexität des Gesamtsystems zu reduzieren. Man könnte es die Reduktion auf eine realistische Theorie nennen. Praktisches politisches Handeln arbeitet mit weitaus weniger komplexen Hypothesen, als eine Interdependenz der Welt verlangen würde. In der Praxis spielt Reduktion der Komplexität eine große Rolle, weil nur so viele Vorgänge überhaupt handhabbar werden.

Zum Kapitel „Regimetheorie“ von Bernhard Zangl meinte ich:
zu schematisch, eventuell für Mikroprobleme fruchtbar

Internationaler Regime als vereinbarte Regelsysteme zur Lösung gemeinsamer, oft globaler Probleme sind eine Tatsache. Diese Theorie unterscheidet sie von internationalen Organisationen, die wie eigenständige Akteure handeln. Keohanes Theorie, dass solche Regime Kooperation ermöglichen, weil sie verlässliche Regeln haben, erscheint mir aus der Praxis für einzelne Regime zutreffend. Aber es handelt sich dabei weniger um eine Beschreibung einer gegebenen Realität, als um die Beschreibung von geschaffenen und vereinbarten Rahmenbedingungen, die nur dann stabil sind, wenn der Konsens haltbar ist, auf den sie sich gründen. Handelnde Personen, leitende Interessen oder andere Umstände können sich ändern. In der Praxis kommt es oft genug vor, dass eine WIN-WIN-Situation nicht akzeptiert wird, weil eine Seite etwas mehr gewinnt als die andere. Es kann sogar eine Dynamik der LOSE-LOSE-Situation entstehen. Die Theorie ist mir zu eng, Sie ist ganz brauchbar für die Erklärung einiger spezifischer Regime, aber nicht darüber hinaus.

über den „Neofunktionalismus“, beschrieben von Thomas Conzelmann urteilte ich:
ein meines Erachtens ziemlich oberflächlicher Ansatz

David Mitrany glaubte, dass staatliche Ordnung die Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse ihr behindere. Eine sachbezogene und problemorientierte Kooperation mithilfe von Experten und Fachleuten könne den Frieden sichern. Die europäische Integration, so neuere Theoretiker des Neofunktionalismus, sei ein Beispiel solcher Kooperation, die die Handlungsfähigkeit der einzelnen Regierungen bereits weitgehend eingeschränkt habe. Die europäischen Organe entwickelten ein Eigenleben, eine europafreundliche Auslegung beim europäischen Gerichtshof erweitere die Integration über die europäischen Verträge hinaus. In der Praxis habe ich immer wieder erlebt dass dies ein voluntaristischer Ansatz ist, der inzwischen zu einer Gegenrevolution geführt hat anstatt die Integration zu vertiefen. Experten und Fachleute, die hier eine große Rolle spielen sollen, begreifen oft nicht, dass sie große Legitimationsprobleme haben. Diese Theorie erschien mir naiv und oberflächlich.

Im „neuen Liberalismus“ , den Siegfried Schieder vorstellte, sah ich:
interessante Ansätze gerade auch zur EU Integration

vor allem der Ansatz von Moravcsik, der die Definition der Interessen gesellschaftlicher Akteure in die Analyse einbezieht und das hin und her zwischen Einzel- und Gruppeninteressen berücksichtigt, entspricht nach meiner Erfahrung der täglichen Praxis. Anders als die Realisten annehmen, ist die Definition von „staatlichen Interessen“ alles andere als stabil. Allerdings habe ich immer wieder beobachtet, dass die Motivation durch Machtstreben in einigen gesellschaftlichen Gruppen sehr stark ist, während andere Gruppen eher auf eine Maximierung der Wohlfahrt ausgerichtet sind. Beides existiert häufig nebeneinander ohne allzu viel Kommunikation miteinander, und führt zu Widersprüchen in der Außenpolitik.

Interessant ist die Erkenntnis, dass kleine Gruppen mit hohem Mobilisierungspotenzial mehr Einfluss haben, als repräsentative soziale Gruppen ohne hohen Organisationsgrad. Das erlebt man im Umgang mit der Europäischen Union immer wieder. Die Theorie erklärt auch Integrationsfortschritte nicht durch einen diffusen Idealismus, sondern durch rational kalkulierte Einzelschritte. Wenn Interessen konvergierten, gab es auch Integrationsfortschritte. Wobei ich hinzufügen möchte, dass sich Rationalität oft erst unter dem Druck von Krisen durchsetzt. So wie der Funktionalismus die Eigendynamik der Institutionen überschätzt, so unterschätzt der neue Liberalismus diesen Faktor. Für diese Theorie gibt es genau genommen zwei Welten: eine innerhalb des europäischen Integrationsraumes, eine andere überall sonst. Diese andere bleibt aber eine Welt des Realismus und der Machtkonkurrenz, schon weil die internen Interessen von den Akteuren kaum verstanden geschweige denn analysiert werden.

Auch in den „liberalen Ansätzen zum ‚demokratischen Frieden‘, vorgestellt von Andreas Hasenclever, sah ich:
interessante Ansätze – Diskussion geht weiter

die Statistik über das kriegerische oder friedliche Verhalten von Demokratien untereinander und gegenüber Dritten hat mich bisher nicht überzeugt. Die „Kriegsstatistik“ berücksichtigt nicht, wenn Konflikte nur deshalb ausbleiben, weil eine große Machtdifferenz ein Streit für eine der beiden Seiten nicht gewinnbar und damit sinnlos macht. Die Theorie setzt ja in gewisser Weise bei der berühmten Schrift von Immanuel Kant „zum ewigen Frieden“ an und behauptet, dass aufgeklärte, freie Bürger sich nicht selbst schaden würden und „ein so schlimmes Spiel“ anfangen würden.

Im Prinzip zeigt auch die Praxis, dass eine gut entwickelte politische Kultur auch eine fruchtbare politische Zusammenarbeit deutlich erleichtert. Die Akteure entwickeln dann auch persönliche Beziehungen, die für jegliche Konfliktlösung tragfähig sind. Dabei wird allerdings unterschätzt, dass gerade auch Demokratien, wenn sie in Krisen geraten, leicht Populisten und Demagogen z.B. durch Referenden viel Raum geben, immer mit der Gefahr die Demokratie selbst zu zerstören. Erst in Krisen zeigt sich, ob auch die demokratische Kooperation haltbar ist.

Auch in Demokratien gibt es innere Konflikte und Interessengegensätze, die nach außen projiziert werden können. Ethnische und religiöse Gegensätze können außenpolitisches Handeln einschränken. Apokalyptische und missionarische Vorstellungen können in Demokratien zu einem militanten Interventionismus führen. Demokratien können sich zu Oligarchien entwickeln und die Gemeinsamkeit der Demokraten aufheben. Die Theorie des demokratischen Friedens erscheint mir insofern zu statisch und berücksichtigt nicht hinreichend die Gefahren, die von instabilen Demokratien ausgehen.

„Die englische Schule“, die Christopher Daase beschrieb, fand ich:
sehr englisch: keine methodische Strenge, Eklektizismus, aber auch Tradition aufnehmend

die englische Schule wird vor allem am Beispiel von Hedley Bull, einem Australier, exemplifiziert. Da werden klassische philosophische Traditionen wieder aufgenommen, der Positivismus kritisiert und Narrative in ihr Recht eingesetzt. Mein Eindruck ist allerdings, dass damit eher eine lesenswerte Geschichtsschreibung zu leisten ist, als eine Theorie moderner internationaler Beziehungen mit Prognosewert. Interessant ist daran vor allen Dingen die kritische Haltung gegenüber manchen selbstsicheren Theorien unserer Zeit. Wenn die die englische Schule die Anwendung von Spieltheorie, Statistik, und sozialwissenschaftlicher Methodologie ablehnt, kann ich dem nicht folgen und halte das eher für Ignoranz. Aber es ist etwas dran, wenn eine zu naive Anwendung solcher Methoden kritisiert wird.

Ich finde es auch sympathisch, wenn der Reichtum der Sprache wieder in ihr Recht eingesetzt wird gegenüber dürren, formalen Modellen. Es gehört zur täglichen praktischen Erfahrung, dass in der internationalen Politik vieles unwägbar und das meiste nicht messbar ist. Der Mangel an methodischer Strenge stört mich, ein gewisser Eklektizismus verbreitert die philosophischen Grundlagen der Erkenntnis und ist deshalb nicht falsch, die auf die Geschichte gestützte Selbstreflexion und Selbstkritik gehören zu den anziehenden Elementen der englischen Schule.

Ingo Take beschrieb die Theorie „Weltgesellschaft und Globalisierung“. Ich fand sie:
empirisch gehaltvoll, aber Wunschdenken

Die internationale Politik umfasst heute die ganze Welt. Die UNO symbolisiert durch die Mitgliedschaft von fast allen Territorien auf dem Globus, dass niemand mehr vom globalen Diskurs ausgeschlossen werden kann. Die Rede von der Weltgemeinschaft hat einen realen Kern. Allerdings wird sie ebenso wie die Globalisierung von einer internationalen Elite getragen, die untereinander eng zusammenhängt und nur mangelhaft mit der lokalen Bevölkerungsmehrheit verbunden ist. Diese Mehrheiten sind aber nach wie vor von konfliktträchtigen ethnischen, nationalen, und religiösen Gegensätzen geprägt. Das spricht nicht gegen den Begriff der Weltgesellschaft, da auch nationale Gesellschaftsformationen in der Regel von führenden Minderheiten gebildet werden, deren Werte von der Mehrheit akzeptiert werden und an denen sich diese orientiert.

Viele der aktuellen Probleme haben eine globale Reichweite und brauchen globale Lösungen. Bewegungen wie Greenpeace oder Amnesty International haben einen transnationalen Charakter erreicht. Allerdings sind sie im Grunde nach wie vor westliche Institutionen. Die Theorie von der Weltgesellschaft enthält für meine Begriffe aber zu viel Wunschdenken. Die zunehmende Begegnung von Kulturen durch Migration führt offensichtlich zu mehr Abgrenzung und Feindseligkeit und nicht etwa zu einer Integration in eine Weltgesellschaft, sobald die lokalen Mehrheiten und nicht nur die globalen Minderheiten auf Reisen gehen.

Zum Kapitel „Imperialismustheorie“ von Michael Heinrich war mein Kommentar:
Marxismus fällt aus der Zeit

Lenins Broschüre „der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ habe ich ebenso wie die Imperialismustheorie von Rosa Luxemburg als Student gelesen. In London bin ich Eric Hobsbawn persönlich begegnet. Wir sprachen aber nicht über seine Imperialismustheorie. Hans-Ulrich Wehlers „Bismarck und der Imperialismus“ hat mein Bild von der deutschen Kaiserzeit maßgeblich geprägt, weit mehr als die aus meiner Sicht sehr einseitigen Werke von Fritz Fischer. Die Examensarbeit meiner Frau über „Hoffnung und Wirklichkeit der deutschen Kolonialpolitik“ gehört auch zur Beschäftigung mit dem Imperialismus.

Nicht nur zu der hohen Zeit des Imperialismus, sondern auch heute trifft es zu, dass politische Interessen nicht unbedingt Mehrheitsinteressen sein müssen, schlagkräftige Interessengruppen können von einer aggressiven Außenpolitik profitieren, auch wenn diese dem Gemeinwohl nicht dient. Allerdings scheint mir die ökonomische Imperialismustheorie nur noch von historischem Wert. Kapitalinvestitionen werden heute nicht mehr von Nationalstaaten gedeckt, globale Unternehmen sind heute oft größer und unabhängiger als mancher Nationalstaat.

In der Praxis habe ich immer wieder erlebt, dass Marxisten in Entwicklungsländern glaubten, dass ausländische Investitionen ein Herrschaftsinstrument des Nordens, insbesondere der „Yankees“ sind. Wenn sie dann erwachsen wurden, mussten sie erkennen, dass ihre Länder unter dem Desinteresse ausländischer Kapitalgeber litten, und nicht etwa unter dem Interesse. Die verschiedenen Typen der Abhängigkeit, die Johan Galtung die modernen Imperialismus zuschreibt, betreffend die Gesellschaften überall auf der Welt und begründen keinen Neokolonialismus. Es stimmt mit meiner praktischen Erfahrung nicht überein, dass Staaten einfach nur im Interesse kapitalistischer Konzerne handeln. Sie unterstützen die Wirtschaft dort, wo sie nationalen Interessen dient, Arbeitsplätze schafft und wo sie für Steuereinnahmen sorgt, imperiale Ideen stehen nicht dahinter. Der Jargon des Marxismus ist ebenso wie seine Imperialismustheorie aus der Zeit gefallen.

Das Kapitel „Weltsystemtheorie“, vorgestellt von Andreas Nölke, war für mich:
ein spekulatives Gedankengebäude, empirisch nicht überzeugend

wenn Wallerstein sagt, dass das Verhalten eines Staates nur im Zusammenhang mit seiner Stellung im zwischenstaatlichen System zu analysieren ist, dann trifft das sicher zu. Ich habe systemtheoretische Ansätze immer für fruchtbar gehalten. Ein schwieriges Problem ist dabei jedoch, Phänomene, die normalerweise in Prosa erzielt werden, in Kategorien zu pressen, die sie für die Systemtheorie brauchbar machen. Die Analysen Wallensteins sind so lange brauchbar, wie konkrete Phänomene beschrieben werden. 

Ein Problem habe ich dann mit Universalbegriffen wie Ökosystem, Kapitalismus, Zentrum, Peripherie (wie in der Dependenztheorie), die dann von Bewegungen und Systemgegnern infrage gestellt werden. Diese Gegenüberstellung beruht aus meiner Sicht auf einem Kategorienfehler, beides gehört nicht in die gleiche Kategorie. Wenn dann eine Krise des Szientismus konstatiert wird, weil angeblich auch in den Naturwissenschaften das Ideal der absoluten Wahrheit zunehmend infrage gestellt werde, dann wäre das auch eine Selbstverneinung der Systemtheorie.

Die Darstellung der Realität durch Systeme von Netzwerken, durch empirisch ermittelte Zyklen zeitlicher Abfolgen, durch ihr beliebig festgelegte Systemgrenzen, alles das entfernt sich relativ stark von empirischen Erkenntnissen. Damit wird der Geschichte ein Korsett übergestülpt, dass für die Analyse zu eng ist. Der systemtheoretische Ansatz ist gut, das angenommene System von Wallerstein und seinen Nachfolgern ist mir zu spekulativ.

Die „Neo-Gramscianischen Perspektiven“, die von Andreas Piller und Adam David Morton vorgestellt wurden, fand ich einfach: nicht überzeugend.

Sie beruhen auf einer Theorie des Klassenkampfes, die Änderungen, vor allem aber auch utopisch begründete Wünsche nach Änderungen, begründen will, dabei aber die Augen davor verschließt, dass alle diese Theorien die reale Welt nicht ausreichend beschreiben. Sehr häufig werden wenn-dann-Beziehungen benannt, ohne auf eine stringente Beweisführung auch nur Wert zu legen, so bei der Beschreibung von Prozessen die zu internationaler Hegemonie führen.

Die von Gill beschriebene internationale Managerklasse verdient eine eingehende Analyse. Die Überschätzung von Gruppen, wie der trilaterale Kommission, und der Strategien von Führungskräften kommt mir häufig zu nahe an Verschwörungstheorien heran. Unklare Begriffe machen diese Theorien wenig fruchtbar

Zum Kapitel von Hans-Jürgen Bieling „internationale politische Ökonomie“:
Susan Strange – interessante Ansätze

Das Werk von Susan Strange habe ich in meinen Londoner Jahren kennen und schätzen gelernt. Ob ihre Überordnung der internationalen politischen Ökonomie über die internationale Politik empirisch wirklich trägt, daran habe ich meine Zweifel. Sie versteht aber den Begriff der politischen Ökonomie so weit, dass er die Politik weithin einbezieht. Ich habe von ihr „Casino Capitalism“ und „Mad Money“(1998) gelesen, als die Finanzkrise von 2008 gerade ausbrach. Aus diesen beiden Büchern von Susan Strange konnte man mehr über die Krise lernen als aus vielen aktuellen Kommentaren. Insbesondere hat sie schon frühzeitig darauf hingewiesen dass sich die globalisierten Finanzstruktur verselbstständigt und von der Realökonomie entkoppelt hat. Sie hat auf die Instabilität des Finanzsystems ausführlich hingewiesen und sollte allen vorgehalten werden, die behaupten die Krise sei nicht vorhersehbar gewesen. Ihre Analysen von Staat und Gesellschaft sind eher eine Schwachstelle ihrer Theorie.

Dagegen sage ich zum Kapitel „Sozialkonstruktivismus“ von Cornelia Ulbert:
weniger überzeugend

Die erkenntnistheoretischen Annahmen des Konstruktivismus, nämlich dass wir uns unsere Realität im Grunde zurecht bauen, teile ich. Damit entsteht allerdings das Dilemma, dass sich die Theorie sehr leicht selbst dementiert, nämlich als künstliches Konstrukt, das sich an der Realität messen lassen muss. Wenn die Realität selbst aber wiederum ein Konstrukt ist, führt das zu einem unendlichen Regress. Interessant ist die Annahme das die Identitätsbildung der zugrunde liegenden Strukturen auch das Handeln leiten kann. Der Abstraktionsgrad der beschriebenen Strukturen macht das erkenntnistheoretische Dilemma nicht besser. Ich zweifle daran, ob aus dieser Theorie irgendwelche Prognosen abzuleiten sind.

Das Kapitel „kritische Theorie“ stellte Christoph Humrich vor. Mein Kommentar:
Linklater hat einige Schwächen mit seinem Universalismus. Habermas ist interessanter, vernachlässigt aber, dass die von ihm selbst vorausgesetzten Grundkonsense oft fehlen.

Die kritische Theorie hat sich insbesondere bei Habermas zu einer weitaus umfassenderen Philosophie entwickelt, in deren Mittelpunkt die Diskurs- und Kommunikationstheorie stehen. Habermas hat nicht behauptet, dass seine ideale Kommunikationsgemeinschaft sich eins zu eins in einer realen Kommunikationsgemeinschaft abbilden lässt. Im Grunde ist es für Habermas eine regulative Idee ganz im Sinne der Bedeutung, die Kant diesem Begriff gegeben hat. Habermas setzt auf eine zunehmende Verrechtlichung der internationalen Gemeinschaft, mit einem Recht, welches das Ergebnis von Diskursen ist. Das mag als Ziel interessant sein, verkennt aber doch, dass der internationale Diskurs tatsächlich Interessen und Macht nicht ausschließen kann.

Die Weiterentwicklung der Gedanken von Habermas durch Linklater ist durchaus konsequent. Wenn er aber Staatsbürgerschaft und Souveränität im wesentlichen als Exklusionssysteme versteht, gelangt er zu einem utopischen Universalismus, der empirisch nicht nachprüfbar ist,  in der Praxis auch nicht existiert. Wenn er meint, dass die Einengung der Entscheider auf eine begrenzte Gemeinschaft, zum Beispiel der Staatsbürger, diskursethisch nicht zu rechtfertigen ist, wenn die Folgen der Entscheidung auch Menschen außerhalb einer Gemeinschaft betreffen, dann führt er die Diskursethik ad absurdum.

An dieser Stelle scheint mir das systemtheoretische Paradigma, das beschreibt, wie Subsysteme sich verselbstständigen und nach außen abschließen, die Realität besser zu beschreiben. Zu Recht warnt Linklater , dass die Ausdifferenzierung von Gruppenrechten zu einer aggressiven Abgrenzung führen kann. Ein universalistische Diskurs verkennt aber, dass unterschiedliche Kulturen existieren, die sich auch unterschiedlich legitimieren und jederzeit in Konflikt geraten können. Der Umgang mit anderen Kulturen ist sicher eine Schwachstelle der kritischen Theorie in der internationalen Politik.

Im Kapitel „Postmoderne Ansätze“ von Thomas Diez fand ich:
viel Sprachspielerei, wenig überzeugend

In gewisser Weise ist die Sprachphilosophie die Großmutter der Postmoderne. Die Analyse der Sprachspiele versuchte, die Aporien der Erkenntnistheorie zu überwinden. Doch sie endet selbst in den Aporien unterschiedlicher Narrative. Solange Postmoderne die Kritik an unhaltbaren optimistischen Voraussetzungen von Erkenntnis und Sprachanalyse bedeutet, kann man an ihr nicht vorbei. Aus meiner Sicht zieht aber die Postmoderne falsche Konsequenzen: aus der Tatsache, dass sich traditionelle Erkenntnis-und Sprechweisen selbst widersprechen, wird nicht der Schluss intellektueller Bescheidenheit gezogen, sondern der intellektueller Beliebigkeit. Mit Sprachspielereien wird nur der Eindruck gehaltvoller Inhalte erweckt, mangelnde wissenschaftliche Strenge führt aber nur zu gehaltvoller Rhetorik.

Im von Barbara Finke vorgestellten Kapitel „feministische Ansätze“ fand ich:
keine überzeugenden Ansätze

Es gibt häufig eine generelle Ablehnung jeglicher Form von Feminismus als Kategorie von Analysen. Das teile ich nicht. Die Tatsache, dass es einen Unterschied in der conditio Humana zwischen Mann und Frau gibt, rechtfertigt, dass auch analysiert wird ob sich dieser Unterschied in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, und eben auch in der internationalen Politik widerspiegelt. Allerdings fehlt häufig ein empirischer Bezug, Feminismus wird zur Ideologie, wenn wissenschaftliche Strenge fehlt. Ich halte die psychologistischen Ansätze, die Frauen mehr Empathie zusprechen oder von anderen Denkweisen ausgehen, weitgehend für Scharlatanerie.

Meine Notiz zum Schlusskapitel „kritische Geopolitik“ verfasst von Mathias Albert, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer:  

aus der Kritik der Geopolitik lassen sich interessante Ansätze entwickeln.
Zu wenig Raum-Zeit-Verbindung, also Geographie UND Geschichte

Die umfassende Verwendung geopolitische Kategorien durch die Nationalsozialisten hat in Deutschland die Geopolitik zeitweise diskreditiert. Das gilt aber nicht für die meisten anderen Staaten. Territorialität ist nach wie vor ein Staaten bildendes Prinzip. Aus meiner Sicht wird dieses Element in Deutschland unterschätzt. Die klassische Geopolitik, die von der Besetzung des Raumes durch Völker ausgeht, scheint mir allerdings überholt. Aber räumliche Gegebenheiten sind einerseits objektive Voraussetzungen für die Lebensgrundlagen der Menschen, prägen zugleich aber auch deren Bewusstsein von ihrer Stellung als Gemeinschaft.

Gerade im militärischen Bereich wird ständig mit Kartenmaterial umgegangen. Das führt gelegentlich dazu, dass Bewegungen auf der Karte übertragen werden in politische Machtprojektionen. Das Bild von den alten Männern, die Pfeile auf Karten malen und glauben damit internationale Politik zu machen, ist ja nicht ganz falsch.

Es ist ein Fehler, den geographischen Raum als etwas zeitloses zu sehen. Geopolitik ist in ständiger Bewegung, die Dimension der Zeit für jede Analyse unabdingbar, weil es sich immer auch um historische Prozesse handelt. Geopolitische Projektionen sind Teil des Selbstbildes vieler politischer Akteure. Diese Projektionen werden von anderen wahrgenommen und wiederum in die eigenen Weltbilder integriert. So können sich Perzeption und Theorie gegenseitig hochschaukeln und sich als „self-fulfilling prophecies“ zu größeren Konflikten auswachsen.

Ich habe immer wieder festgestellt, dass es bei uns eine gewisse Blindheit dafür gibt, dass andere eine von der Geopolitik geprägte Perzeption der Welt haben, die auch dann, wenn wir sie für völlig falsch halten, das politische Handeln beeinflusst. In der Praxis ist es aber wichtig alle Faktoren, die politisches Handeln beeinflussen, zu berücksichtigen. Deshalb erscheint mir auch die Kritik an Huntingtons „Zusammenprall der Kulturen“ (die korrekte Übersetzung von „Clash of Civilizations“, das Wort „Kampf“ ist hier falsch) überzogen. Wenn auch nur eine Seite an der Grenzlinie verschiedener Religionen oder Lebensweisen die andere Seite als bedrohlich empfindet, muss dies auch analysiert werden anstatt es zu ignorieren.

Vom Nutzen und Nachteil der Theorien in den internationalen Beziehungen

Außerhalb der wissenschaftlichen Tätigkeit lässt die tägliche Routine in kaum einem Beruf die Beschäftigung mit den theoretischen (und philosophischen) Grundlagen dessen, was man tut, hinreichend zu. Auch in meiner Praxis in der Diplomatie habe ich eine heuristische, pragmatische oder auch einfach undurchdachte Sicht der Dinge dem Handeln zugrunde gelegt, nicht etwa irgendeine spezifische Theorie. Zu Recht beschweren sich Think Tanks immer wieder darüber, dass ihre beratende Funktion für die Politik zu wenig genutzt wird. Da aber gerade in der Außenpolitik sehr viele Entscheidungen unter Zeitdruck stattfinden, während für langfristige strategische Entscheidungen die Ruhe und die Muße fehlt, stört jeder Berater, der länger als 30 Minuten für seine Ausführungen benötigt.

Ich habe das immer als sehr unbefriedigend empfunden und mir notfalls Zeit für die Beschäftigung mit wissenschaftlichen, auch theoretischen Analysen frei zu schaufeln. Die Verbindung von Theorie und Praxis (von Marxisten immer besonders betont, und in marxistischen Ländern immer besonders gering entwickelt) lag mir immer am Herzen. Insgesamt kann ich sagen, dass die Rückkopplung zu theoretischen Überlegungen in jedem Fall wichtig und nützlich war, obwohl ich keinen einzigen Fall nennen könnte, indem eine Entscheidung sich auf irgend eine Theorie berufen könnte. Es ist eher die geistige Anregung, die kritische Auseinandersetzung, der Widerspruch zu dem, was man für sicher gehalten hat, was den Wert der theoretischen Reflexion ausmacht. Ich kann mich mit keiner spezifischen Theorie identifizieren, halte aber die meisten für fruchtbar, und selbst die weniger fruchtbaren helfen oft, über den Tellerrand hinaus zu denken.

Ein grundsätzliches Problem zwischen Theoretikern und Praktikern hat Karl Marx schon in seinen „Thesen über Feuerbach“ beschrieben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ – So habe ich als Praktiker auch Freunden aus der Wissenschaft immer wieder gesagt, dass sie natürlich dazu neigen, alles mögliche zu prognostizieren. Meine Aufgabe aber sei es, zu handeln. Das bedeutet, angesichts von pessimistischen Prognosen nicht zu resignieren, sondern dafür zu sorgen, dass diese Prognosen möglichst nicht eintreffen. Wissenschaft sagt: ceteris paribus wird unter den gegebenen Voraussetzungen ein bestimmtes Ergebnis eintreffen. Der Praktiker fragt, welche ceteris muss ich so verändern, damit das paribus-Ergebis meinen Zielen entspricht.