Thilo Sarrazin:
Feindliche Übernahme
eine Rezension

VERÖFFENTLICHT 31. AUGUST 2018

Thilo Sarrazins neuestes Buch „Feindliche Übernahme“ kam Ende August auf den Markt. Schon bevor es herauskam, wurde es verdammt. Ein Kommentator der WELT sprach davon, dass das Buch vor Erscheinen ungelesen „hingerichtet“ werde. Das machte das Buch erst interessant für mich. Ich habe es gelesen.

Es gibt Autoren, die spannender und auch in schönerer Sprache schreiben. Sarrazin schreibt hölzern und langweilig. Doch er will keine schöne Literatur produzieren, sondern eine politische Botschaft übermitteln. Der Untertitel sagt plakativ: „Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“. Das bezieht der Autor auf alle islamischen Länder und Gesellschaften und die Religion des Islam insgesamt. Dazu hätte er eine Enzyklopedie schreiben können. Sein Buch deckt dann doch nur einen kleinen Ausschnitt aus dem groß angekündigten Thema ab.

Sarrazin zitiert ausführlich den Koran in deutscher Übersetzung. Auf die historische Entwicklung des Islam geht er nur sehr oberflächlich ein. Er vermeidet eine theologisch-kritische Auseinandersetzung mit dem heiligen Buch des Islam. Dazu gibt es allerdings auch kompetentere Autoren.

Sarrazin kommt es darauf an, wie die Gläubigen selbst die zitierten Verse lesen und verstehen und wie sie ihre Religion leben. Das ist ein legitimer Ansatz, denn die täglich gelebte Religion, wirkt stärker auf die Lebenswelt ein, als theologische Debatten unter Experten. Allerdings setzt sich der Autor überhaupt nicht mit der Entwicklung genau dieses Verständnisses des Islam unter seinen Anhängern auseinander. Seine sehr apodiktische Behauptung, dass ein konservatives Religionsverständnis nicht nur vorherrsche, sondern dauerhaft zu erwarten sei, stützt er auf Umfragen. Das reicht als Analyseinstrument nicht aus.

Im Vergleich zu den hochinteressanten Studien von Keppel in Frankreich über die parallele Entwicklung sozialer und religiöser Spannungen in den französischen Banlieus und die Rolle der Muslime in Frankreich bleibt die Auseinandersetzung mit der Gesellschaftsstruktur und der Entwicklung der muslimischen Einwanderer in Deutschland bei Sarrazin flach und wenig informativ.

Der Islam ist ähnlich dem Judentum und anders als das Christentum eine Gesetzesreligion. Deshalb ist das islamische Recht ein wesentlicher Bestandteil der Religion. Kritik am islamischen Recht kann sicher nicht einfach von der Kritik an der Religion getrennt werden. Im Koran und im islamischen Recht sieht Sarrazin verschiedene Elemente, die mit unserem Recht und unserer Verfassung nicht vereinbar sind. Er unterstellt pauschal, dass diese Elemente von den Gläubigen wörtlich verstanden und im realen Leben umgesetzt werden. 

Damit steht er allerdings nicht allein. Eine kleine Minderheit von liberalen Moslems, meist Intellektuellen, die in Europa leben, hält es ja genau deshalb für notwendig, eine mit der europäischen Zivilisation und europäischem Rechtsverständnis vereinbare Interpretation des Islam zu entwickeln. Das Schlagwort vom Euro-Islam steht dafür. 

Sarrazin findet dieses Bemühen sympathisch, hält es aber für bisher erfolglos, und für absehbare Zeit aussichtlos. Warum Sarrazin jede Hoffnung auf einen „aufgeklärten Islam“ für hoffnungslos hält, begründet er nicht überzeugend. Man mag über die aktuelle Reislamisierung der Türkei besorgt sein, aber man darf auch zur Kenntnis nehmen, dass bereits im osmanischen Reich und in extremer Form unter Atatürk in der Türkei ein ganz anderer Islam entwickelt wurde als beispielsweise auf der arabischen Halbinsel. Aussichtlos ist ein modernisierter Islam nicht.

Sarrazin führt den wirtschaftlichen und sozialen  Rückstand islamischer Länder gegenüber anderen Regionen in erster Linie auf den Faktor Religion zurück. Die vom Islam geforderte untergeordnete Rolle der Frauen sei ein entscheidender Faktor für die Rückständigkeit.

Max Weber hatte schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Verbindung zwischen dem Erfolg des Kapitalismus und der calvinistischen Religion angenommen. Doch wirtschaftliche und zivilisatorische Entwicklungspfade sind hochkomplex und mit monokausalen Erklärungen kaum zu fassen. Natürlich spielt eine Religion wie der Islam, der von vielen Gläubigen ernst genommen und praktiziert wird, eine Rolle. Doch wie stark dieser Einfluss gegenüber anderen Faktoren zu gewichten ist, darüber streiten sich die Geister.

Ich wäre sehr vorsichtig, einen zu engen Zusammenhang zwischen Religion und Entwicklung herzustellen. Noch vor 40 Jahren wurde der Konfuzianismus für die Erstarrung und Rückständigkeit Chinas verantwortlich gemacht.  Heute gilt er als Faktor einer erfolgreichen Arbeitsethik.

Biblische Verse werden von Christen außerhalb einiger Sekten seit vielen Jahrhunderten allegorisch ausgelegt und nicht als wörtliche Handlungsanweisungen. Koranverse und vor allem Hadithe betreffen die Lebenswelt des Muslim direkter. Es liegt durchaus nahe, sie als als wörtliche Handlungsanweisungen zu verstehen. Alttestamestarische Verse werden von Christen überwiegend als überholt angesehen, für sie hat der „Neue Bund“ der Nächstenliebe den „Alten Bund“ abgelöst. Doch den religiösen Dialog will Sarrazin nicht führen, er fühlt sich dafür – wahrscheinlich zu Recht – nicht kompetent.

Sarrazin wendet sich nicht pauschal gegen Ausländer und Einwanderer. Er betont immer wieder, dass Muslime sich von anderen Einwanderern durch einige Verhaltensweisen deutlich unterscheiden:

Alles dieses sind Punkte, nach denen jeder Moslem, der in Deutschland lebt gefragt werden darf. Im Islamdialog sind das legitime Themen. Allerdings kann Sarrazin nicht belegen, in welchem Umfang diese Haltungen das tägliche Leben von Muslimen in Europa bestimmen. Ich nehme an, mehr als ich mir wünschen würde, aber weniger als Sarrazin glaubt.

Sarrazin fürchtet, dass Muslime, wenn sie einmal die Mehrheit erlangt haben, die Unterwerfung der Ungläubigen unter die Regeln des Islam verlangen. Er malt ein Szenario, wo der Islam zuerst unsere Gesellschaft durchdringt und sich Privilegien verschafft, und wo in naher Zukunft die islamische Bevölkerung zur Mehrheit wird, die die Minderheit unterwirft. Den Islam sieht er dabei als eine konstante Größe, die sich nicht verändert.

Nun war der Islam von Anfang an eine Religion, die sich mit Feuer und Schwert durch gewaltsame Eroberungen und Unterwerfung anderer Völker ausbreitete. Die europäische Geschichte war über Jahrhunderte durch die Abwehr des expansiven islam geprägt worden. Es ist aber nicht unproblematisch, aus „der Geschichte“ eine immerwährende Fortsetzungsgeschichte zu machen. Wir Deutschen stünden mit diesem Ansatz immer noch in „Erbfeindschaft“ zu Frankreich. Es wäre gut, wenn über die gemeinsame, sehr konfliktive Geschichte offen und sachlich geprochen wird. Das gehört auch in den Geschichtsunterricht. Gar nicht hilfreich ist es, wenn das Thema ideologisch verbrämt wird, sei es als Geschichte des „Niedergangs des Islam“, sei es als Geschichte der „Verbrechen der Kreuzfahrer“ (nicht vergessen: als Jerusalem von den Muslimen erobert wurde, war die Mehrheit in sehr vielen heute islamischen Ländern, wie z.B. Ägypten, erst einmal christlich geblieben).

Sarrazin fürchtet allerdings, dass der Islam Europa heute auf andere Weise „überwältigt“: durch massive Einwanderung und durch Kinderkriegen.

Um das zu belegen, führt er seitenlange Statistiken an. Dabei gerät ihm aus dem Blick, dass für die Dynamik der Wanderungsbewegungen die Religion nur ein Faktor unter vielen ist.

Vor der demografischen Katastrophe Afrikas sollten wir die Augen nicht verschließen, aber wir haben ähnliche Verhältnisse in großen Teilen Lateinamerikas, nur dass dort (mit Ausnahme Zentralamerikas) die Bevölkerungsdynamik etwas früher abgeflacht ist als in Afrika. Die katholische Religion und das machistische Frauenbild haben in Lateinamerika jede Geburtenkontrolle schwer gemacht, der Islam tut das gleiche in Afrika – aber auch das christliche Afrika steht nicht viel besser da. Das unkontrollierte Bevölkerungswachstum macht wirtschaftliches pro-Kopf-Wachstum zunichte und führt zu Migrationsdruck.

Doch Sarrazin macht gewagte Prognosen für die nächsten Jahrzehnte. Damit will er davor warnen, dass so eine „demografische Überwältigung“ kommen könnte – wie Wirtschaftler sagen „ceteris paribus“, wenn also alle Rahmenbedingungen gleich bleiben. Prognosen über so lange Zeiträume sind allerdings reine Prophetie, man könnte sagen Scharlatanerie. Die Annahme konstanter Rahmenbedingungen ist mit hoher Sicherheit falsch. Die Annahme linearer Extrapolationen heutiger Tendenzen ist gewagt.

Sarrazin hält das Katastrophenszenario einer religiösen Überfremdung nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich. Also ist es folgerichtig, wenn er politische Vorschläge macht, wie das abzuwenden wäre. Der Vorwurf, er mache keine Lösungsvorschläge trifft ihn nicht. Allerdings ist Realismus und Mäßigung nicht sein Stil.

Der Kern seiner Vorschläge ist, keine weitere muslimische Zuwanderung nach Europa zuzulassen. Darauf zu warten, dass sich der Islam liberalisiere, ist ihm zu risikoreich. Familiennachzug fördere Parallelgesellschaften und sei abzulehnen. Da trifft sich Sarrazin mit Donald Trump. 

Wie Trump in den USA würde auch jede europäische Regierung, die versucht, ein Einwanderungsverbot an die Zugehörigkeit zu einer Religion zu knüpfen, am geltenden nationalen, europäischen und internationalen Recht scheitern.

Die Flüchtlingskonvention – so Sarrazin – müsse so geändert werden, dass Flüchtlinge nahe an ihrem Ausgangspunkt untergebracht werden.

Die Unterbringung von Flüchtlingen in kulturnahen Nachbarländern ist grundsätzlich nicht unvernünftig. Doch das erfordert auch ein stärkeres finanzielles Engagement der Europäer für den Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen.

Dann meint Sarrazin: Illegale Immigration müsse wirksamer als bisher bekämpft werden, die Einwanderer müssten notfalls sogar mit militärischer Unterstützung an ihren Ausgangspunkt zurückgebracht werden.

Die Forderung nach militärischer Bedeckung von Rückführungen gehört sicher zu den „steilen Thesen“ von denen Heinz Buschkowsky bei der Vorstellung des Buches sprach. Zurückweisungen und auch Abschiebungen gehören zu einem effektiven Grenzschutz dazu, aber die Zurückweisung von Unbewaffneten ist eine polizeiliche, keine militärische Aufgabe, ganz abgesehen von der Gefahr einer Eskalation jedes kriegerischen Einsatzes.

Die bei uns lebenden Muslime müssten laut Sarrazin auf unsere Verfassung und Assimilierung an unsere Lebensweise verpflichtet werden. Das bedeutet Kopftuchverbot im öffentlichen Bereich, Schutz der Gleichberechtigung der Frau, keine parallele Justiz und eine neutrale ethische und Gemeinschaftskunde-Erziehung anstelle von konfessionellem Religionsunterricht.

Damit dürfte Sarrazin sich auf die Stimmung in der Merheit der deutschen Bevölkerung stützen können. Das Thema Einwanderung hat die deutsche Gesellschaft seit 2015 zutiefst gespalten. Die Regierungspolitik und die öffentlich-rechtlichen Medien haben immer wieder versucht die Situation zu ignorieren oder zu beschönigen. Das hat Misstrauen geweckt. Sarrazin kann mit seinen Thesen an dieses Misstrauen anknüpfen.

Wer Menschen, die wegen massiver illegaler Einwanderung besorgt sind, in die rechte Ecke stellt, sorgt dafür, dass sich diese Schmuddelecke schnell auffüllt. Mancher sagt dann resignierend: wenn ihr es unbedingt so wollt, dann bin ich eben rechts! – So entsteht ein polarisiertes politisches Klima, in dem sich Rechtsextremisten wohl und sicher fühlen. Das ist nicht gut für unser Land.

Das Buch Sarrazins hat mich nicht überzeugt. Aber es fällt auf den fruchtbaren Boden einer verunsicherten Leserschaft. Die hysterische Reaktion mancher, die das Buch ungelesen verdammen, hilft niemandem. Nur eine sachliche Debatte, die Anerkennung von Tatsachen, gut belegte Gegenargumente und einen Diskurs, der frei und kontrovers urteilt und nicht Bücher ungelesen verurteilt, kann die Debatte voranbringen.