2017 SPD Neuaufstellung nach der verlorenen Wahl

VERÖFFENTLICHT 29. SEPTEMBER 2017

Martin Schulz hat die Mitglieder um Hilfe bei der Neuaufstellung der Partei gebeten. Die schwere Niederlage bei der Bundestagswahl lässt ein weiter-so nicht zu. Ich bin seit 47 Jahren SPD-Mitglied, so dass ich mich angesprochen fühle.

Die SPD wird jetzt von einem Trend eingeholt, der schon viele andere sozialdemokratische Parteien in Europa in eine tiefe Krise gestürzt hat. Die französischen Sozialisten sind von einer klaren Mehrheit zur kleinen Minderheit geworden. Die spanische PSOE ist tief gespalten und gegenwärtig kaum regierungsfähig. Die britische Labour Party hat Ihre interne Spaltung nur notdürftig überdeckt. Soziale Umbrüche, Migration und innere Sicherheit haben in allen diesen Fällen die Wählerbasis der Sozialdemokraten zugunsten des rechten und linken Randes erodiert.

Martin Schulz war noch im Frühjahr 2017 von 100% der Delegierten des Parteitages zum Vorsitzenden und zum Spitzenkandidaten gewählt worden. Dann versuchte er im Namen von 100% der Parteimitglieder zu den Wählern zu sprechen. Das ging nur, wenn er alle innerparteilich kontroversen Themen vermied. Mit dem allgemein gehaltenen Thema Gerechtigkeit, unter dem jeder etwas anderes versteht, hat er die ersten Wochen des Wahlkampfs bestritten. Das sprach Gefühle vieler Menschen an – jeder ist ja für Gerechtigkeit – und weckte Erwartungen.

Als es um die Ausfüllung des Begriffs Gerechtigkeit ging, war das Ergebnis enttäuschend. Die einzelnen Vorschläge trafen nicht die zentralen Punkte, bei denen potenzielle SPD-Wähler Ungerechtigkeit empfanden. Da hatte Sarah Wagenknecht mehr Empathie mit den von Ungerechtigkeit betroffenen Bürgern – und sie konnte es schnörkellos und klar ausdrücken. An erster Stelle hätte Martin Schulz eine radikale Korrektur am Hartz-IV System ankündigen müssen, nämlich die Rückkehr zur Abhängigkeit des Arbeitslosengeldes von der Anzahl der Jahre, die jemand in die Versicherung eingezahlt hat. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenversicherung mit Sozialhilfe war der größte Fehler der ja im übrigen nicht erfolglosen Reformen der Agenda 2010. Damit wurden langjährige Einzahler praktisch enteignet. Die Vorschläge von Schulz dazu waren zu ängstlich und technisch zu kompliziert.

Was noch alles zu seinen Ideen der Gerechtigkeit gehört, mag dahingehen. Das meiste bedeutete immer auch Umverteilungen innerhalb der SPD-Wählerschaft: zwischen Singles und Verheirateten, zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen Mietern und privaten Vermietern, zwischen Sparern und Schuldnern, zwischen Aufsteigern und Arbeitslosen. Wo Martin Schulz einen gewann, verlor er den anderen. Mehr Steuern für Reiche klang gut, war aber so definiert, dass erfolgreiche Selbständige Martin Schulz fürchten mussten, Superreiche aber leicht davon kommen konnten. Die von Abstiegsängsten geplagte Mittelklasse hatte sich in dem SPD-Kandidaten nicht wiedergefunden.

Das viel zu komplexe Steuersystem, das kein Mensch mehr ohne Steuerberater versteht,  führt zu viel Ungerechtigkeit.  Soziale Leistungen für viele verschiedene Anlässe sind nicht mehr gerecht, wenn schon das Ausfüllen von Anträgen viele überfordert. Martin Schulz hätte vielleicht noch etwas mehr die täglichen Sorgen in Würselen abfragen sollen. Sein Rentenkonzept, sein Konzept zur Gesundheitsreform waren unausgegoren, auch hier nach dem Prinzip, wenn es heute einigen schlecht geht, sorgen wir dafür, dass es noch mehr Leuten schlecht geht, damit es gerechter wird.

Auf die Umbrüche in der Arbeitswelt gab es keine überzeugende Antwort. Das Stichwort Digitalisierung wurde eher als Straegie zur Umgehung der Kernfragen eingesetzt: wenn die Medien zu viel nach Flüchtlingskrise fragten, wurde gesagt, da war zu wenig Debatte über Digitalisierung. Einfache und klare Worte, wie es mit den Arbeitsplätzen aussehen wird, was von staatlicher Seite möglich und nötig ist, um Menschen in Brot zu halten, wenn sich die Arbeit verändert opder entfällt, wären wichtig gewesen. Dann wäre aber auch ein Wort dazu nötig gewesen, wie man sich denn unter solchen Umständen die Rolle von Migranten vorstellt, die ohne berufliche Qualifikation auf mindestens eine Generation hin keine Chance auf die neuen digitalen Arbeitsplätze haben und auf den Plätzen der „unqualifizierten Kräfte“ mit denen konkurrieren, die aus ihrem jetzigen Arbeitsumfeld herausintegriert werden.

Die Themen, die nach Umfragen von den Bürgern als besonders dringlich empfunden wurden, vermied Martin Schulz in den ersten drei Monaten des Wahlkampfes wie der Teufel das Weihwasser: Innere Sicherheit und Migration. Die Wahlkampfberater hatten ihm gesagt, dass er auf diesen Gebieten nicht punkten könne, weil dort die Kompetenz eindeutig den Unionsparteien zuerkannt wurde. Ich habe das für falsch gehalten. Schulz hätte sofort einen „Otto Schily“ für diese beiden Themen in sein Team aufnehmen müssen und sich klar und deutlich positionieren.

Das war innerparteilich verständlich, denn jede Stellungnahme hätte offengelegt, wie gespalten die Partei zu diesen Fragen ist, und vor allem, wie weit sie dabei von der Mehrheit der Wähler entfernt ist. Dennoch: es war ein Mangel an Führungskraft, die so oft beschworene klare Kante gerade zu diesen Themen zu vermeiden.

Sigmar Gabriel hatte mit seinem untrüglichen politischen Gespür schon frühzeitig versucht, mit denen ins Gespräch zu kommen, die sich daran erinnerten, dass sie nie eine Willkommenskultur erfahren haben, wenn sie zum Sozialamt gingen, die sich wohl erinnerten, dass der Soziallabbau bei Arbeitslosen, dass geringeren Renten im Osten, dass Wohnungsprobleme, damit zu tun hatten, dass in den öffentlichen Haushalten gespart werden musste, dass ihre Bedürfnisse einfach unbezahlbar waren.  Und dann lasen die gleichen Leute,  welche unglaublichen Summen plötzlich da waren, um Flüchtlinge aufzunehmen. Die Haushalte, die schon für die Bankenrettung ausreichten, waren offenbar jetzt Füllhörner für die Willkommenskultur.

Diejenigen, die vom Sozialamt besucht und scharf geprüft wurden, ob sie auch nicht 50 Euro zu viel bekamen, erfuhren, dass Asylbewerber so gut geprüft wurden, dass ein Terrorist wie Amri 14 Identitäten und damit das Recht auf 14 Sozialhilfen hatte. Während für minderjährige arabische Ehefrauen Geld da war, wurde Hartz IV zusammengestrichen, wenn bei dem Bezieher eine Wohngemeinschaft bestand, also Lebensgefährt*en nicht brav in verschiedenen Wohnungen blieben.

Sigmar Gabriel erinnerte daran, dass über die sicher notwendigen Bemühungen zur Integration der bereits Zugewanderten die Armen in Deutschland nicht vergessen werden durften. Als er aber nach Dresden reiste,  um für einen sachlichen Dialog auch mit denen zu werben, die der Pegida nachliefen, stand sein Vize Ralf Stegner schon wieder vor irgend einer Kamera und beherrschte die Schlagzeilen mit den Ideen des linken Flügels der SPD, die zwar die öffentlich-rechtlichen Medien, aber nicht die Wähler überzeugten. Die öffentlich-rechtlichen Medien in ihrem pädagogischen Eifer hatten den gleichen Effekt wie eifernde Lehrer: das Publikum ging zur Gegenseite über.

Wer die Migrationsprobleme und die bisher vielfach eben nicht gelungene Integration ansprach, wurde in eine rechte Ecke gestellt. Vielleicht hätte Martin Schulz mal einen gemeinsamen Wahlkampfauftritt mit dem früheren Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky machen sollen. Dort hätte er sich klar zu einem auf Recht und Humanität gestützten Weg bekennen können, der aber auch Recht und Humanität von den Zuwanderern verlangt, der klare Maßnahmen gegen diejenigen ankündigt, die Recht brechen und Humanität gegenüber Frauen, Schwulen und Ungläubigen ausschließen. Da habe ich nur verschwurbelte Worte, keine klare Kante vernommen.

Ja, es geht auch um die Frage des Islamismus, einer faschistischen Bewegung, die den Islam als Religion diskreditiert. Das Thema ist in Deutschland überhaupt nicht neu. Der deutsche Professor Bassam Tibi aus Göttingen, der seine Geburtsstadt Damaskus auch heute noch vermisst, wurde von den Medien allerdings schon damals gleich in die rechtsextreme Ecke gestellt, als er schon vor dem 11.September 2001 zu einer klaren Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus aufrief, und vor der Zuwanderung gewaltbereiter junger Islamisten warnte, die unser Asylrecht missbrauchen. Das hat Bassam Tibi tief verletzt – vor allem, wenn er zugleich nach 55 Jahren als Deutscher in Deutschland in der Paulkirche als „Syrer mit deutschen Pass“ vorgestellt wurde.

Aber Martin Schulz hatte Angst vor den Medien, die ihm vorgeworfen hätten, sich an Forderungen der AfD anzupassen, so wie sie heute die Wahlniederlage der CSU in Bayern einer solchen Anpassung zuschreiben, obwohl auf der Hand liegt, dass es gerade die Tatsache war, dass Ministerpräsident Seehofer mit großen Worten die Bundeskanzlerin kritisierte, sogar zum Verfassungsgericht laufen wollte, und dann nichts passierte. Da fühlt sich doch jeder zornige CSU-Wähler verarscht. Diesen Vertrauensverlust  wird Seehofer auch mit einer erneuten Fetischisierung der „Obergrenze“ nicht wiedergutmachen können.

Sein Irrtum ist, dass er die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft, materiell und sozial, für alle möglichen Fälle für bezifferbar hält. Im Falle einer Zuspitzung in der Ukraine wäre aber sowohl die internationale Verpflichtung zur Hilfe für wirkliche Flüchtlinge als auch die Gewährung von Asyl in Fällen politischer Verfolgung so zwingend, dass jede Obergrenze sofort gerissen würde. Das wäre ein Krisenfall, der jede Anstrengung der unmittelbaren Nachbarländer, insbesondere Deutschlands, Ungarns und Polens erfordert. 

Gerade das ist aber heute nicht der Fall. Die Flüchtlinge aus Syrien haben ersten Schutz in der Türkei und anderen Nachbarländern – in ihrem eigenen Kulturkreis – gefunden. Die Weiterwanderung auf Balkanrouten oder über die Meere ist schlicht illegale Zuwanderung, wenn sie nicht in einem geordneten Verfahren in Abstimmung zwischen dem UNHCR (dem UN-Flüchtlingskommissar) und den aufnehmenden Staaten geschieht. 

Und solche Aufnahmeverfahren brauchen festgelegte Kontingente – aus humanitären Gründen sollten dabei immer ganze Kernfamilien aufgenommen werden, nicht aber die dort üblichen erweiterte Familien. Dann erledigt sich auch das Problem des Familiennachzugs.

Für wirtschaftlich motivierte Zuwanderer brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, das klarstellt, dass wir gemäß unserem Bedarf aussuchen, wer kommen kann und wer nicht. Vorrang gehört dabei den anderen EU-Bürgern, von denen auch viele arbeitslos sind. 

Heute wird allerdings den Schleusern die Entscheidung überlassen, wer nach Deutschland kommt. Die Marinen der EU haben lange genug Taxi-Dienste für die Schleuser geleistet. Martin Schulz hat für alle diese Fragen keine überzeugende Lösung angeboten und damit das Feld der AfD überlassen. Es war vermeidbar, dass 500.000 SPD-Wähler zu dieser Partei übergelaufen sind.

Das gleiche gilt für die Innere Sicherheit, die eng mit der Migrationsfrage in Verbindung steht. Ich bin selbst von präpotenten Moslems in Berlin auf der Straße vor dem Bundeskanzleramt angepöbelt worden – das habe ich in den etwas über 100 Ländern, die ich besucht habe, noch nie erlebt. Ein türkisch-stämmiger Berliner Taxifahrer versicherte mir, dass Erdogan das osmanische Reich wiedererrichten würde und dass Berlin auch dazugehören werde. Er meinte das völlig ernst. 

Manche U-Bahn und S-Bahn-Linien in Berlin vermeide ich jetzt in den Nachtstunden, meine Frau traut sich gar nicht mehr hinein. Das sind keine Fälle, die in irgendeiner der viel beschworenen Statistiken auftauchen. Bedrohliches Auftreten ist keine Kategorie des Strafgesetzbuches, wohl aber des Zusammenlebens. Und da erlebe ich eine rapide Verschlechterung des Sicherheitsgefühls binnen zehn Jahren. Hierzu verschließen gerade auch die Berliner Politiker die Augen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Eine Neuaufstellung der SPD wird nichts nützen, wenn alle diese Fragen weiterhin unter den Tisch gekehrt werden, weil dafür in der Partei ideologische Gräben zwischen verschiedenen Parteiflügeln herrschen. Eine offene, heiße Diskussion ist fällig, und zwar ohne Unterstellungen und Verdächtigungen, die einen wollten nach rechts – oder die anderen nach links blinken.

Wenn 13% die AfD gewählt haben, davon aber 60% sagen, sie mögen diese Partei nicht, wollten aber ihren Protest ausdrücken, dann sollte der Protest endlich auch angehört werden. Übrigens haben die Rohdaten der Umfragen ergeben, dass immer etwa doppelt so viele behauptet haben, sie würden AfD wählen, als dann tatsächlich der Fall war. Die Demoskopen haben diese Falschaussagen nach ihren Erfahrungswerten korrigiert, nur lagen sie am Ende mit ihrer Schätzung zu niedrig. 

Was bedeutet eigentlich so eine Falschaussage ? Ich habe da eine Vermutung: die Zahl derjenigen, die ihren Protest ausdrücken wollen ist doppelt so hoch wie die Zahl der AfD-Wähler. Die anderen haben ihren Protest nur in der Umfrage ausgedrückt, aber dann doch nicht die Schmuddelpartei AfD gewählt, sonder das Kreuz woanders oder gar nicht gemacht. Das sollte auch zu denken geben.

Übrigens hat Martin Schulz auch vieles richtig gemacht: seine klare Linie zu Erdogan, sein klares Bekenntnis zu Europa und dem Schulterschluss mit dem französischen Präsidenten Macron, das waren Highlights, aus denen er mehr hätte machen können.

Ich fürchte dass es nicht zur Neuaufstellung der SPD, sondern zur Neuaufstellung der SPD-Flügel kommt. In der Opposition werden manche Klarstellungen erst noch erkämpft werden müssen. Ohne den Zwang zu regieren, fehtl auch der Zwang zum Realismus. Die SPD muss darauf achten, bei der Neuaufstellung nicht in Fantasialand zu landen. Andrea Nahles hat heute (am 29.09.2017) den richtigen Ton getroffen, als sie eine klarere Linie zu Migration und Innerer Sicherheit ankündigte. Ich hoffe, die Partei folgt ihr dabei.