2014 Russland

Zwischen Sanktion und Dialog

VERÖFFENTLICHT 19. OKTOBER 2014

HINWEIS: SIEHE AUCH BEITRAG RUSSISCHE AUSSENPOLITISCHE IDEEN 1995 IN DER NESAWISIMAJA GASET

Anmerkung September 2023: Nach der russischen Aggression auf der Krim war ich der Hoffnung, dass mit den berechtigten Sanktionen einerseits und einem fortgesetzten Dialog andererseits der Frieden in Europa wiederhergestellt werden könnte. Russland hat sich 2022 gegen den Frieden, für den Krieg entschlossen. Manche meinen jetzt, die deutsche Bundesregierung habe schon 2014 alles falsch gemacht. Das halte ich für Unsinn. Allerdings war schon damals absehbar, dass unsere Energieabhängigkeit vermindert werden musste. Ich hielt LNG-Terminals und Fracking für den richtigen Weg. Das war allerdings in Deutschland nicht konsensfähig.

Die Annexion der Krim

Nach der Annexion der Krim und während der trotz Waffenstillstand anhaltenden Vorfällen in der Ostukraine ist es schwierig, den Blick auf die langfristigen Beziehungen zu Russland zu lenken. Nur können wir die Tatsache, dass Russland ein europäischer Staat in unserer Nachbarschaft ist, nicht wegdenken. Das deutsch-russische Verhältnis ist in seiner über 1000 Jahre alten Geschichte durch Höhen und Tiefen gegangen, beide Länder – Deutschland zuletzt im Zweiten Weltkrieg, Russland zuletzt im Kalten Krieg – sind füreinander zur existenziellen Gefahr geworden, beide haben aber auch immer wieder sich gegenseitig bewundert und voneinander gelernt. Gegenwärtig stehen wir vor einer neuen schweren Belastungsprobe der deutsch-russischen Beziehungen. Um so wichtiger ist es, sich nicht von Emotionen hinreißen zu lassen, sondern rational abzuwägen, was an gemeinsamen Interessen übrig bleibt und die Gesprächskanäle zu erhalten.

Friedenspolitik ist notwendig

Wenn es Interessenkonflikte zwischen Staaten gibt, dann sind dies immer perzipierte Interessen – auf beiden Seiten gibt es Menschen, die ihre jeweiligen Interessen so interpretieren, dass sie aus der Sicht einer oder beider Seiten als inkompatibel zueinander erscheinen. Wenn diese Sicht zur herrschenden Meinung wird, dann droht ein akuter Konflikt. Dabei sind es keineswegs so simple Dinge wie der Streit ums Geld oder um materielle Dinge, die konfliktträchtig sind. Auch Befindlichkeiten, Gefühle, das Meinungsklima in der Gruppe oder der veröffentlichten Meinung, selbst die Propaganda können Konflikte schüren.

Der Nationalismus gehört zu den nach wie vor besonders aggressiven und gefährlichen Ideologien. „Nationalismus tötet“ hat der frühere französische Präsident Mitterand einmal gesagt. Wenn der Nationalismus zur herrschenden Ideologie in einem Lande wird, dann werden die Ineressen des eigenen Landes – und auch die anderer Länder zu einem Kampf ums Dasein verkürzt, der Viktimismus wird gefördert, „wir sind die Opfer, alle sind gegen uns, wir müssen uns wehren“. Mit den wirklichen Interessen der Menschen, die friedlich leben und arbeiten wollen und sich für die Zukunft ihrer Kinder in einer lebenswerten Umwelt sorgen, haben solche Schlachtrufe nichts zu tun. Nationalismus ist eine verblendete Weltsicht, aber: er ist Teil unserer Realität, mit der wir umgehen müssen.

Auch objektive Interessengegensätze erreichen die Politik erst in interpretierter Form. Sie sind ideologisch eingefärbt, von Gefühlen durchtränkt und ins Meinungsklima eingebettet. Sie triefen von Geschichtslegenden und Geschichtsklitterungen. Das macht es so schwierig, in distanziert sachlicher Weise darüber zu sprechen und sich zu verständigen. Eine aktive Friedenspolitik muss genau darauf abzielen: sachliche Distanz zurückzugewinnen, Feindbilder abzubauen und Vertrauen zu schaffen. Ziel muss es sein, dass Interessen in einer Form definiert werden, die der gemeinsamen Lösung von Problemen eine Chance gibt.

Der kalte Krieg liegt jetzt mehr als 25 Jahre zurück und neue Generationen in Deutschland wie in Russland haben keine Erfahrung, wie man damit umgeht, wenn Konfrontation zwischen großen europäischen Staaten an die Stelle von Kooperation tritt. Wohl erinnern wir uns gerade im Jahre 2014, wie 100 Jahre zuvor das europäische Staatensystem zusammenbrach, weil das Krisenmanagement in vielen Ländern versagte und im entscheidenden Moment diplomatische Behutsamkeit gerade auch in Deutschland durch forsche Sprüche, leichtsinnige Versprechen von Nibelungentreue oder Unterwerfung unter die Logik militärischer Mobilmachung abgelöst wurde. Wir erinnern uns auch daran, dass vor 75 Jahren der Punkt erreicht war, wo die westlichen Demokratien das Scheitern von Appeasement feststellen mussten und nur noch eine Kriegserklärung die Hoffnung bot Hitler stoppen zu können.

Die beiden Erfahrungen von 1914 und 1939 geben uns zwiespältige Lehren: einerseits darf Diplomatie nicht aufgeben, bevor auch die letzte Möglichkeit einer Einigung oder zumindest die Umlenkung des Streits in Bahnen von Verhandlungen ausgeschöpft sind. Alles andere ist eine leichtsinnige Politik. Andererseits ist Härte angezeigt, wenn klar ist, dass es einen Staat und Personen gibt, die den Konflikt wollen und zu keinerlei Kompromiss bereit sind. Das nukleare Zeitalter hat dabei die Form, in der Härte gezeigt werden kann, grundlegend verändert. Ein Krieg zwischen Nuklearmächten gefährdet das Überleben der Menschheit – diese Einsicht darf nie in Vergessenheit geraten.

Solange Druck nur mit Mitteln ausgeübt werden kann, die nicht in eine militärische Eskalation führen, wird es immer wieder notwendig sein, den Zorn zu bändigen und Geduld zu haben. Aber niemand sollte die Zähigkeit von Demokratien unterschätzen wie es Autokraten oft tun. Wir haben im kalten Krieg manche Geduldsprobe bestehen müssen – als die UdSSR 1953 den Aufstand in der DDR, 1956 in Ungarn niederschlug, als sie 1968 in die CSSR einmarschierte und als Solidarnocz in Polen unterdrückt wurde. Manche in Mittel- und Osteuropa, die der Sowjetmacht widerstehen wollten, nahmen dem Westen seine angebliche „Untätigkeit“ übel. Aber wie Willy Brandt richtig sagte: „Der Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles Nichts“. Am Ende aber waren es die autoritären Systeme, die unter ihrer eigenen Unfähigkeit zusammenbrachen.

Geopolitische Aspekte – Russland hat den Kalten Krieg nicht verloren

Die sich selbst immer als besonders realistisch sehenden Geopolitiker tun so als seien die handelnden Personen unwichtig oder nur ausführende Organe eines Weltgeistes. Natürlich gehört die Geografie, die Fläche, Bevölkerung und die Ausstattung mit Ressourcen zu den Rahmenbedingungen, die festlegen, welche Spielräume die Politik und besonders auch die Außenpolitik hat.
Diese Spielräume sind aber durch nicht-geografische Faktoren eher noch stärker bestimmt als durch die Landkarte. Die Stellung eines Landes in der Weltwirtschaft und in der Finanzwelt gehört ebenso in die Machtgleichung wie die interne Stabilität. Nationalismus macht dumm, aber nicht satt. Ein Staat mit einem zerrütteten Budget hat wenig Optionen, aufbrechende innere Konflikte können jedes Land ruinieren. Und wenn die Eliten oder ein Staatsmann sich ein eigenes Weltbild zurechtgelegt haben, in dem sie sich als Opfer von Verschwörungen sehen, dann kann das eher zum Willen zum Konflikt führen als geografisch-ökonomische Randbedingungen.

Wie ein Land seine eigene geopolitische Stellung sieht, wie es seine Position in der globalisierten Wirtschaft versteht, hängt auch von den handelnden Personen und ihren Prioritäten ab. Die Geopolitik kann Konfliktpotenziale und die Ausgangslage für das Austragen von Konflikten beschreiben, aber sie beschreibt nicht die Motivation, den Willen zum Konflikt, die Präferenzen der verschiedenen handelnden Gruppen in jedem Lande.

In Russland hat die klassische Geopolitik starke Anhängerschaft. Wenn dort mit Pfeilen Machtprojektionen auf Landkarten gemalt werden, dann findet man Begriffe wie Einkreisung, Zurückdrängung, natürliche Grenzen, wenn dann noch Bevölkerungsstatistik betrieben wird, dann kann man alle Gebiete mit nationalen Minderheiten oder Mehrheiten bunt einfärben. Von da ist es nicht weit bis zum Anspruch, den als unbefriedigend verstandenen status quo zu verändern. Das Denken der russischen Nationalisten und imperialer Träumer geht in diese Richtung.

Es gibt aber auch die Möglichkeit, die Dinge auch aus russischer Sicht ganz anders zu sehen. Ein über 70 Jahrer als schwere Last auf Russland liegendes Regime wurde überwunden, das zuerst wirtschaftlichen Fortschritt mit einem Terrorstaat verband und später auch wirtschaftlich in Stagnation versank. Die auf Prosperität der Bürger zielende Europäische Union, ein seit 60 Jahren erfolgreiches Friedensprojekt, war zu einer engen Partnerschaft mit Russland bereit. Mit offenen Märkten und technischer Zusammenarbeit, könnte für Russland eine neue Dynamik seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung freigesetzt werden, wenn nicht immer mehr Macht den Markt und Raubbau an Ressourcen den Aufbau tragfähiger Strukturen verdrängt hätte. Die „Siloviki“ sind die große Schwäche Russlands.

Ob die EU als Chance oder Bedrohung wahrgenommen wird, hängt von den Präferenzen der Akteure ab. Nationalisten fürchten die Modernisierungs-Dynamik. Sie haben Angst vor mehr Druck in Richtung Demokratie, aus ihrer Sicht sind Macht und Einheit Russlands gefährdet, wenn ihre Stellung gefährdet wird. Wer aber Verantwortung dafür spürt, dass es den Russen besser gehen soll, dass sie wohlhabend und geistig kreativ sein können, der muss die Gedankenfreiheit sichern anstatt sie zunehmend einzuschränken.

Die NATO war für das Weltbild vieler Russen 40 Jahre der Hauptgegner. Das hat Spuren hinterlassen. Für eine kurze Zeit nach 1992 konnten kooperative Strukturen aufgebaut werden, aber die NATO war nie bereit, Russland so viel Einfluss auf alle Entscheidungen einzuräumen wie die Russen erwarteten, während die Russen nicht die Geduld für eine stetige Vertrauensbildung aufbringen wollten, die ihnen sicher mit der Zeit weit mehr Einfluss verschafft hätte als Illusionen über das Aufbrechen der NATO von innen. Anstatt die gegenseitigen Erwartungen offen zu diskutieren, verblieben die NATO-Russland-Räte wenig wirksam. Mit der Ernennung des notorischen Nationalisten Rogosin zum russischen NATO-Botschafter war klar, dass die Chancen für eine engere Kooperation nicht mehr groß waren.

Für die NATO und insbesondere die USA war es ein Ziel, die nach 1989 entstandene Lage in Mittel- und Osteuropa zu konsolidieren. Auch hier war eine geopolitische Sichtweise sehr verbreitet. Russland zurückzudrängen galt als „Sieg im kalten Krieg“. Das war ein schwerer Fehler. Der einzige Erfolg solcher Rhethorik war eine Verletzung des russischen Nationalgefühls, die bis heute anhält. Wer eine solche Rhetorik verbreitet, darf sich nicht wundern, wenn in Russland viele die „Niederlage im kalten Krieg“ überwinden wollen und wünschen, dass man Russland wieder fürchtet. Obwohl sich die strategische Lage völlig verändert hatte, bestand die NATO darauf, die noch im kalten Krieg vereinbarten vertrauensbildenden Maßnahmen, z.B. die Flankenregelungen, nicht an die neue Lage anzupassen. Wer sollte sich dann wundern, wenn Russland sich von der OSZE und den gegenseitig vereinbarten vertrauensbildenden Maßnahmen abwandte.

Es war aber auch ein schwerer Fehler Russlands die Möglichkeit einer strategischen Partnerschaft vor allem mit Deutschland und der EU nicht genutzt zu haben und jetzt aufs Spiel zu setzen. Innenpolitisch hat man in Russland schon Mitte der neunziger Jahre zunehmend nationalistischen Kräften nachgegeben, die seit zwei Jahrzehnten jede Lösung der eingefrorenen Konflikte in Transnistrien und im Nordkaukasus unmöglich machen.

Eine ganz andere Rhetorik wäre richtiger gewesen: Russland hat durch Befreiung von der kommunistischen Diktatur selbst einen großen Sieg für seine Bevölkerung erzielt. Als nicht gefürchtetes, sondern geachtetes Land hatte Russland die große Gelegenheit seine Wirtschaft zu entwickeln, und eine moderne Gesellschaft aufzubauen, die zu einem starken, demokratischen Russland gehört. Deutschland hat unter diesen Bedingungen ein Interesse an einem starken russischen Partner. Im eigenen deutschen Interesse ist hier eine sehr enge Zusammenarbeit denkbar, die beiden Ländern mehr Wohlstand verspricht. Mehrere Bundesregierungen haben zielstrebig auf immer engere Zusammenarbeit mit Russland gesetzt, was von anderen westlichen Partnern nicht immer verstanden wurde.

Die Debatte um einen NATO-Beitritt der Ukraine (und auch Georgiens) hat niemandem genützt. Als es in der Ukraine selbst keinerlei Mehrheit für eine Mitgliedschaft in der NATO gab, wurde dennoch in Bukarest beschlossen, den Beitritt der Ukraine anzustreben. Zwar wurde – auch wegen des deutschen Veto – nicht gleich ein MAP zur Vorbereitung des Beitritts begonnen, aber das Signal an Moskau war klar: Eure Gefühle der Einkreisung sind uns gleichgültig, wenn die Ukraine der NATO beitreten will, dann nehmen wir sie auch auf. Aus meiner Sicht war dies eine große Dummheit. Es besteht natürlich kein Zweifel daran, dass die Ukraine das Recht hat, der NATO beizutreten, so wie Kuba als souveränes Land das Recht gehabt hätte, dem früheren Warschauer Pakt beizutreten.

Ein NATO-Beitritt hätte zur Folge, dass Artikel 5 des NATO-Vertrages anzuwenden wäre und das hätte im Falle einer russischen Aggression gegen die Ukraine Krieg der NATO mit Russland bedeutet. Dazu sind aber weder die USA noch die anderen NATO-Partner wirklich bereit. Ein Land zum NATO-Mitglied zu machen, das die Bündnispartner am Ende nicht verteidigen wollen und können, wäre eine Schwächung des NATO insgesamt, denn sie kann nur glaubwürdig bleiben, wenn die Bündnisverpflichtungen gegenüber allen Mitgliedsstaaten gleichermaßen gelten (übrigens auch gegenüber der Türkei). Das bedeutet auch, dass es solche Verpflichtungen gegenüber der Ukraine nicht gibt. Wenn es zu einer russischen Aggression gegen ein baltisches NATO-Mitglied käme, dann wären alle, auch Deutschland, zum Beistand verpflichtet – und es ist wichtig, dass sich Russland darüber keinerlei Illusionen hingibt: das bedeutet Krieg mit der gesamten NATO.

Wenn sich allerdings in Russland Kräfte durchsetzen, die Aggression nach außen und eine autoritäre Entwicklung nach innen vorziehen, dann ändert sich auch das westliche Interesse. Dann liegt ein starkes Russlands nicht in unserem Interesse, denn ,ein starker aggressiver Nachbar ist kein Partner sondern ein Gegner. Soweit es in unserer Hand liegt müssen wir alles tun, dass eine solche Entwicklung gar nicht erst eintritt, aber dazu gehören beide Seiten. Wenn sich in Russland ein aggressiver Nationalismus dauerhaft durchsetzt, dann wählt Russland selbst die strategische Gegnerschaft anstelle der strategischen Partnerschaft und verliert damit diejenigen Partner, die es bisher stärken wollten. Kooperation ist weiterhin möglich, aber sie wird durch die neue Lage begrenzt.

Es liegt in unserem Interesse, dass der Weg in einen neuen Ost-West-Konflikt nicht eingeschlagen wird. Aber wir haben das nicht allein in der Hand. Wir müssen den Westen trotz aller berechtigten Kritik zu rhetorischer Abrüstung und Verständigung auch mit Russland drängen und Russland davon überzeugen, dass es ein Verhängnis gerade auch für Russland wäre, einen neuen kalten Krieg zu riskieren.

Die geopolitischen Fehler können korrigiert werden. Dazu müssen aber beide Seiten mitspielen. Und das geht nur mit Kompromissbereitschaft und gegenseitigem Verstehen. Wir stehen an einem Scheideweg und wenn wir es schaffen, den richtigen Weg einzuschlagen – und Russland dabei mitspielt, dann wird Russland nichts verlieren, alle gemeinsam aber würden gewinnen.

Russland und die Ukraine

Für russische Nationalisten ist die Ukraine die Wiege Russlands. Die russischen Narrative sind mächtige Elemente des Selbstverständnisses. Teile der Ukraine haben lange zum polnisch-litauischen Reich, einige auch zu Österreich-Ungarn gehört, es gibt eine eigenständige Sprache und Kultur, beides ist in der russischen Geschichtslegende nicht vorgesehen.

Nach dem Ende der Sowjetunion hatte man einfach die Grenzen der Sowjetrepubliken zu den Grenzen innerhalb der neuen Gemeinschaft unabhängiger Staaten gemacht. Von Gemeinschaft war in der GUS sehr schnell keine Rede mehr, obwohl einige Elemente, darunter die bevorzugte Belieferung mit Energie aus Russland, gerne in Anspruch genommen wurden. Russland war bereit einen Preis für die Hegemonie im GUS-Raum zu bezahlen, aber nicht ein Fass ohne Boden zu füllen.

Im Jahre 1995 hat die Moskauer Zeitung „Nesawisimaja Gaseta“ ein außenpolitisches Konzept für das neue Russland veröffentlicht, das offensichtlich von wichtigen Kräften aus dem russischen Außenministerium, aus Think Tanks und der Duma beeinflusst war. Ich habe damals einen Kommentar zu diesem Text verfasst, den ich in diesen Blog eingestellt habe (siehe Russische außenpolitische Ideen 1995 in der Nesawisimaja Gaseta). Das Fazit war: Russland muss erst unauffällig wiedererstarken, dann kann es sein Imperium wieder erneuern, allerdings vor allem durch das, was die Briten lange „indirect rule“ nannten, also durch wirtschaftliche Durchdringung und sicherheitspolitische Abhängigkeit. Politische Vormacht, nicht Eingliederung der alten Sowjetrepubliken solle das Ziel sein. Das, was heute Eurasische Union genannt wird, sieht diesem Konzept sehr ähnlich.

Die Unabhängigkeit der Ukraine und Weißrusslands wurde damals von russischen Nationalisten und vermutlich der Mehrheit der russischen Bevölkerung als unnatürlich empfunden. Mehrere ukrainische Regierungen haben ihrerseits wenig getan, um aus der Ukraine einen starken, eigenständigen Staat zu machen. Der ukrainische Nationalismus der Westukraine war der russischsprachigen Bevölkerung der Ostukraine und erst recht der Krim fremd und unangenehm. Notwendige Wirtschaftsreformen hinkten lange hinter den russischen Reformen hinterher, eine Energiepolitik, die mehr Unabhängigkeit ermöglicht hätte, wurde nie entworfen. Es wurde so getan, als seien subventionierte Lieferungen von Gas aus Russland ein Anrecht der Ukraine. Die Ukraine hat mehrmals versucht aus dem Transit von russischen Gas Richtung Westen ein politisches Instrument zu machen. Russland hatte kein Interesse an einer starken, unabhängigen Ukraine, aber die Schwächung der Ukraine durch verschleppte Reformen, Korruption und Oligarchen war hausgemacht.

Das „Geschenk“ der Krim an die Ukraine durch den dafür vermutlich gar nicht ermächtigten 1.Sekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow, hatte die Russen von Anfang an erbost. Die Krim gehört zum Grundbestand der russischen Geschichte. Es wäre ein Gebot der Vernunft gewesen, die Zugehörigkeit gleich nach Ende der Sowjetunion durch eine Volksabstimmung zu klären anstatt – wie auch im Budapester Abkommen über den Abzug der ukrainischen Nuklearwaffen – den territorialen Bestand zu einem unveränderbaren Fetisch zu erklären. In der Ostukraine ist die Lage komplexer: auch die russisch sprechende Bevölkerung hatte und hat sich im Staat Ukraine gut eingerichtet. Russische Nationalisten, die „Heim ins Reich“ wollten, waren eine Minderheit. Erst die unsägliche Entscheidung im ukrainischen Parlament, die russische Sprache zu diskriminieren, hat diesen etwas mehr Zulauf verschafft. Aber auch in diesen Regionen hätten Volksabstimmungen der Zugehörigkeit zur Ukraine (oder Russland) eine feste Legitimationsbasis verschafft.

Die Ukraine gehört ebenso wie Russland zu Europa. Natürlich hat es politische Sonderentwicklungen geben. Das dritte Rom knüpfte an die Orthodoxie von Konstantinopel an, das Tatarenjoch hat die Herausbildung einer städtischen Zivilgesellschaft im Mittelalter stark behindert. Aber zu Recht sind viele Russen empört, wenn man von Europa spricht und Russland dabei ausschließt (ganz anders als in Großbritannien, wo man ausdrücklich sagen muss, wenn man mit Europa auch Großbritannien meint). Deshalb war es – anders als heute manche Besserwisser behaupten – kein Fehler, die Ukraine immer näher an die EU heranzuführen.

Ich hätte mir auch schon früher ein klares Bekenntnis zu einer Beitrittsperspektive gewünscht, auch wenn der Zeitraum noch weit in der Zukunft liegen mag. Wenn es Fehler gegeben hat, dann eher der, dass Russland selbst nicht ausreichend an die EU herangeführt wurde. Ständige russische Sonderwünsche und die Vernebelung der Gehirne durch Großmachtstatusfragen und Prestigefragen hat es für die EU sehr frustrierend gemacht mit Russland zu verhandeln. Dennoch hätte das stärker forciert werden müssen. Aber auch das kann man nachholen, wenn sich Russland wieder an den europäischen Verhaltenscodex hält, der ausschließlich friedliche Lösungen der Konflikte – auch mit der Ukraine – fordert. Die Chance für Russland besteht darin, dass eine Ukraine, die sich stärker in Richtung EU entwickelt auch für Russland die Möglichkeiten noch mehr von der EU zu profitieren verbessert.

Russische Aggression auf der Krim und in der Ostukraine

Was sich auf der Krim abgespielt hat, war eine neue Form von Kriegführung. Eine solche Aktion, zielstrebig und präzise durchgeführt, geschieht nicht spontan, sondern muss von langer Hand vorbereitet gewesen sein – ob als Plan für den Fall einer Gelegenheit oder aber sogar mit einem vorbereiteten Zeitplan, das wissen wir nicht. „Kleine grüne Männchen“ ohne Hoheitsabzeichen in ein anderes souveränes Land zu entsenden und dort mit Waffengewalt gegen die politischen und militärischen Autoritäten vorzugehen, von Russland aus alles zu lenken und alles abzustreiten, das ist schon ein Gipfel der Unverschämtheit in den internationalen Beziehungen. Die USA sind mit dem Contra-Krieg in Nicaragua ähnlich verfahren und haben mit ihren Interventionen in Lateinamerika manchen schlechten Präzedenzfall gesetzt, aber sie haben nicht abgestritten, was offensichtlich war.

Eine offene, demokratische Abstimmung auf der Krim wäre möglicherweise für die Zugehörigkeit zu Russland ausgefallen. Aber was hier geschah, war Terror gegen die staatlichen ukrainischen Institutionen auf der autonomen Krim durch eine kleine von Russland bewaffnete Bande und Terror auch gegen die Teile der Bevölkerung, die sich dieser Aggression nicht anschließen wollte. Vor der Aggression war eine zu Russland gehörende Krim eine durchaus denkbare Vorstellung. Als Lohn der Gewalt ist diese Annexion unakzeptabel. Die anschließende Farce einer Volksabstimmung über Unabhängigkeit unter dem Druck schwerbewaffneter Kräfte und die anschließende Annexion durch Russland hat unter diesen Umständen keine legitime Grundlage. Wenn Rusland daran gelegen ist diesen Mangel zu heilen, dann müsste eine Volksabstimmung nochmals unter internationaler Kontrolle stattfinden.

In der Ostukraine sind die Separatisten mit russischen Waffen hoch gerüstet, russische Soldaten dienen verdeckt in ihren Reihen. Die russischen Politiker bestreiten das, aber ihre Glaubwürdigkeit ist schwer beschädigt und sie haben das Vertrauen verloren. Man hat sogar den Eindruck, Russland wolle lieber Angst wecken als Vertrauen. Einem erfahrenen Außenminister wie Sergej Lawrow kann das eigentlich nicht gleichgültig sein. Oder hat er das das Zerrbild des Diplomaten vor Augen, der im Interesse seines Landes zu lügen hat? Dieses Bild war immer falsch, weil der Vertrauensschaden schwerer wiegt und länger andauert, als das, was durch Lügen gewonnen werden kann. Es gibt allerdings gute Gründe dafür, das westliche Politiker etwas, das niemand glaubt, dennoch für „bare Münze“ nehmen: auf diese Weise wird es Russland erleichtert aus dem ganzen Szenario ohne Gesichtsverlust auszusteigen. Welches Ziel Russland am Ende verfolgt ist unklar und vermutlich auch in Russland selbst nicht endgültig festgelegt.

Nationalismus ist überall eine unerfreuliche Erscheinung. Der russische Nationalismus entschuldigt nicht den ukrainischen Nationalismus, der durch den Konflikt noch gestärkt wird. Beide Regierungen müssen den Nationalisten in ihren Ländern Einhalt gebieten, wenn sie eine pragmatische Einigung wollen. Ohne eine solche Einigung aber kann der Konflikt eine Dynamik bekommen, aus der niemand ohne schlimme Konsequenzen wieder herauskommt. Es ist sehr begrüßenswert, dass Präsident Poroschenko das Gespräch mit Moskau nicht abreißen lässt, auch wenn er wenig Anlass findet, Putin und der Führungsgruppe in Moskau zu vertrauen.

Schwarzer Humor – Russland lernt von westlicher Rhetorik

Als kleiner Exkurs will ich hier feststellen, dass die russischen Außenpolitiker in ihrer Frustration über die westliche Rhetorik offenbar beschlossen haben, genau diese Rhetorik in ihren Dienst zu stellen. Das nimmt Zuge von Zynismus und schwarzem Humor an. Die westliche Debatte über humanitäre Interventionen gehört dazu. Russland macht sie sich zueigen, wenn es um Schutz russischer Minderheiten in Nachbarländern geht. Im Westen wurde das Urteil darüber, wann eine humanitäre Notlage vorliegt und wer der Schuldige ist, einseitig vom Westen selbst gefällt. Der „liberal interventionism“ ist die Pandora-Büchse, die auch für Russland die Tür für einen Interventionismus in seinen Nachbarstaaten eröffnet.

Im Kosovo wurde nicht nur ohne Mitwirkung der Vereinten Nationen interveniert, sondern auch Russland zu verstehen gegeben, dass es für die Lösung des Konfliktes irrelevant sei. Das hat in Moskau Verletzungen hinterlassen, die niemand unterschätzen sollte. Am Ende hat vor allem Gerhard Schröder erfolgreich auf eine Einbeziehung Russlands hingearbeitet. Ohne die Vermittlung des russischen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin wäre der Krieg mit Serbien wohl mit einem blutigen Landkrieg noch einige Zeit weitergegangen.

Heute nimmt sich Russland die Freiheit zu zeigen, dass die Westmächte für seine humanitäre Intervention irrelevant sind. Der Westen hat die humanitären Korridore für den Schutz der Lieferung von Hilfsgütern erfunden. Russland veranstaltete eine große Farce mit seinem „humanitären Konvoi“ und hätte ohne Nachgeben Poroschenkos sicher auch das Recht auf die militärische Sicherung eines humanitären Korridors eingefordert – auch eine westliche Erfindung.

Die Intervention in Libyen war gerade auch für Russland ein gutes Beispiel dafür wie es von den westlichen Ländern „über den Tisch gezogen wurde“. Das Gefühl teilt Russland übrigens nicht nur mit China, sondern auch mit den damaligen nicht-ständigen Sicherheitsratsmitgliedern Brasilien und Südafrika. Nach vielen mühsamen Verhandlungen gab es damals eine Einigung auf Einrichtung einer no-fly-zone. Daraus wurde in einem rasanten mission-creep (eigentlich ja ein Widerspruch in sich) erst eine no-drive-zone und dann eine volle militärische Unterstützung der libyschen Rebellen durch die französische und britische Luftwaffe. Wer behauptet, das sei alles durch die einschlägige UN-Resolution abgedeckt gewesen, treibt sophistische Logik. Entscheidend ist, dass diejenigen Mitglieder des Sicherheitsrates, die sich enthalten haben – auch Deutschland – das Mandat so begrenzt verstanden haben wie es der Wortlaut sagt. Ich hätte mir gewünscht, dass Deutschland statt sich zu enthalten zugestimmt hätte, aber dafür auf strikte Einhaltung der Grenzen des Mandats geachtet hätte. Russland hat jedenfalls daraus den Schluss gezogen, dass sich beliebige einseitige Interpretationen schon durchsetzen werden, wenn nur militärische Macht dahinter steht.

Es ist schwarzer Humor, wenn sich gerade Außenminister Lawrow immer wieder der typischen westlichen Rhetorik bedient um russische Willkür zu verteidigen. Wir im Westen sind mit der Relativierung des Gebotes zur Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates zu weit gegangen. Das russische Verhalten führt vor, welcher Missbrauch damit ermöglicht wird. Das sollte ein Anlass sein die westliche Rhetorik zu überdenken und zu korrigieren.

Eine europäische Russlandpolitik entwickeln

Seit vielen Jahren wird in der europäischen Union gefordert eine gemeinsame Russlandpolitik zu entwickeln. Das deutsche Verhältnis zu Russland wurde von einigen Partnern von Polen bis Großbritannien mit Misstrauen beobachtet. Der Bau der Northstream Pipeline wurde zum Anlass für den Verdacht, die Deutschen könnten sich über den Kopf Polens hinweg mit Russland verständigen. Das nach dem Mord an dem ehemaligen KGB-Mann Litwinenko in London auf dem Gefrierpunkt angekommene russisch-britische Verhältnis kontrastierte den Briten zu sehr mit den Umarmungen bei deutsch-russischen Gipfeln. Deutsche Politiker versuchten oft vergeblich die Partner davon zu überzeugen, dass sie eine pragmatische und völlig illusionslose Politik betrieben, eine konfrontative Politik aber für den falschen Weg hielten.

Eine gemeinsame europäische Politik war so lange nicht erreichbar wie es einigen darum ging, das deutsch-russische Verhältnis in Frage zu stellen. Jetzt hat Russland durch sein eigenes Verhalten dieses Verhältnis beschädigt. Die Reaktion der europäischen Staaten darauf war einhellig und wider Erwarten eindeutig. Das ist jetzt eine gute Chance zur Entwicklung einer neuen gemeinsamen Haltung gegenüber Russland.

Deutschland musste schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, dass die von beiden Seiten vielfach beschworene strategische Partnerschaft offenbar nicht tragfähig genug war um im Konfliktfall gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Außenminister Steinmeier hat viel politisch investiert, Russland hat es nicht honoriert. Die europäischen Partner, die für eine distanziertere Haltung gegenüber Russland eingetreten sind, haben aber auch lernen müssen, dass Konfrontationspolitik dazu geführt hat, dass sie mit Russland gar keinen Gesprächsansatz haben, der jetzt so nötig wäre.

So sollte eine neue gemeinsame europäische Russlandstrategie an dem Ziel festhalten, Russland als Teil Europas näher an die EU heranzuführen, allerdings mit weniger Rhetorik und stärker von pragmatischen Interessen und gegenseitigen Vorteilen bestimmt. Das bedeutet auch, dass Abhängigkeiten von einem unberechenbaren Russland anders gesehen werden müssen als unter der Annahme man habe es mit einem verlässlichen Partner zu tun. Deshalb ist Diversifizierung und Verminderung der Abhängigkeit von Russland vor allem im Energiesektor ausdrücklich anzustreben. Erneuerbare Energien, LNG-Importe und Erschließung eigener Reserven z.B. durch Fracking liegen im europäischen Interessen (wobei mir durchaus bewusst ist, dass Fracking nur unter klaren umweltpolitischen Auflagen stattfinden kann).

Die europäische Politik gegenüber Russland sollte angebotsorientiert sein: mehr Kooperation bis hin zu Freihandel und freiem Personenverkehr ohne Visa sollten als Angebote aufrecht erhalten bleiben, aber unter der klaren Bedingung einer innenpolitisch freien und außenpolitisch friedlichen Entwicklung in Russland. Die EU hat Russland einiges anzubieten, was davon zu welchem Preis akzeptiert wird, müssen die Russen entscheiden. Auch mit einem im Inneren unfreien Russland können wir pragmatisch begrenzt zusammen arbeiten, solange die Regierung sich außenpolitisch friedlich verhält.

 Von Sanktionen zurück zum Dialog

Wenn Russland stolz darauf sein möchte respektiert und geschätzt zu werden, dann darf es nicht dem unsinnigen Rat derer folgen, die glauben Russland werde nur respektiert, wenn es gefürchtet wird. Heute ist die Anziehungskraft Russlands auf andere Länder denkbar gering. Wege zu mehr Erfolg und damit auch zu mehr Ansehen sind offen, auch wenn sie viel Geduld erfordern. Gerade in Deutschland haben wir das größte Interesse, dass Russland eine bessere Zukunft hat und die Geister der Vergangenheit es nicht wieder einholen.

Wir sind nicht dazu berufen Russland über seine Interessen zu belehren. Aber wenn das russische Verhalten in der Krise das bisherige Vertrauen zerstört hat, dann kann das nicht ohne Folgen bleiben. Die von der EU verhängten Sanktionen sind richtig, weil jede geringere Reaktion in Russland als Schwäche ausgelegt worden wäre und der Eindruck entstünde, die rabiate einseitige Durchsetzung russischer Ziele habe keinen Preis. Wichtig ist aber auch, dass Sanktionen reversibel sind, dass das Gespräch miteinander weitergeführt wird und neues Vertrauen wieder aufgebaut werden kann. Das wird nicht schnell gehen, aber es ist wichtig, dass dieser Weg offen bleibt.

Der Dialog ist auch deshalb so wichtig, weil die Debatte auch in Russland selbst weitergeht, wo wir jedes Interesse daran haben, dass sich die Kräfte der Vernunft gegen extremen Nationalismus durchsetzen. Die Beziehungen werden vorerst nicht freundschaftlich sein können, aber sie sollten wenigstens von Respekt auch gegenüber Russland und seinen Interessen geprägt sein. Wir brauchen nicht gesenkten Kopfes nach Moskau pilgern und die vielen Fehler aufzählen, die die USA und die EU auch gegenüber Russland gemacht haben. Und wir sollten auch von den Russen nicht erwarten, dass sie mit einem mea culpa zu uns kommen. Wir haben demokratische Mechanismen, unsere Fehler zu korrigieren, Russland kann beweisen, dass es genug Stärke besitzt, auch seine Fehler zu korrigieren. Wir sollten Russland besser zuhören, aber die russische Gesellschaft auch immer wieder mit unserer Sicht der Dinge konfrontieren und die andere Seite zwingen ihre Haltung rational zu begründen und sich nicht ideologisch verblendeten Extremisten in die Hand zu geben.

Beide Seiten müssen rhetorisch abrüsten und sachlich miteinander reden. Die Menschen in Russland, die ich in acht Jahren (1976-80 und 1992-1995) kennen und lieben gelernt habe, verdienen eine bessere Zukunft.