Was bedeutet Religionsfreiheit?

Was bedeutet Religionsfreiheit? - Ein Essay

VERÖFFENTLICHT 30. OKTOBER 2019 


Die meisten modernen Verfassungen garantieren die Religionsfreiheit. Diese Freiheit ist im Laufe der europäischen Geschichte im Kampf gegen den Monopolanspruch einzelner Religionen und Konfessionen errungen worden, die abweichenden Lehren und abweichenden Riten nicht zu dulden bereit waren. Durch die Trennung von Kirche und Staat sollte der Zugriff religiöser Autoritäten auf staatliche Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele verhindert werden. Religiöser Einfluss ist im Staat genauso wie andere gesellschaftliche Einflüsse nicht ausgeschlossen, darf aber durch den Staat selbst nur neutral und unparteiisch ausgeübt werden.

Der Grad der Säkularisierung ist nicht überall gleich: in Frankreich wird seit der französischen Revolution von 1789 trotz mehrheitlich katholischer Bevölkerung die katholische Kirche von staatlichen Institutionen ferngehalten, eine Kirchensteuer wäre undenkbar, Religion ist Privatsache der einzelnen Menschen, staatliches Handeln darf nicht durch Religionsgemeinschaften beeinflusst werden. In den USA ist die Trennung von Kirche und Staat formal sehr strikt. Dennoch ist der gesellschaftliche und damit auch der politische Einfluss christlicher Konfessionen einschließlich von Sekten auf die Politik sehr stark und wird keineswegs als illegitim angesehen.

In Deutschland haben die konfessionellen Kriege seit dem 17.Jahrhundert zu einem Arrangement geführt, in dem die beiden großen christlichen Konfessionen die Beiträge ihrer Mitglieder als sogenannte Kirchensteuer vom Staat erheben lassen. Die beiden großen christlichen Kirchen nehmen soziale Aufgaben wahr und werden vom Staat dafür subventioniert. Durch Konkordate mit dem Vatikan haben mancherorts Staat und katholische Kirche ihr gegenseitiges Verhältnis geregelt: Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen muss der Ernennung des Kölner Erzbischofs zustimmen, die katholische und die evangelische Kirche gestaltet ihren Religionsunterricht auch in staatlichen Schulen nach eigenen Regeln.

Die beiden großen Konfessionen nehmen Einfluss in Rundfunkräten, Ethikbeiräten oder einfach durch öffentliche Erklärungen zur staatlichen Politik. Religiöse Gruppen außerhalb der beiden Großkirchen sind hingegen allenfalls „Körperschaften öffentlichen Rechts“ mit sehr viel geringeren Privilegien. Das gilt auch für nichtchristliche Religionen. Vor allem die Rolle des Islam im staatlichen Kontext ist umstritten. Da vor allem der sunnitischen Islam keine umfassende Autorität kennt, die für alle sprechen könnte – kein Papst, keine Landesbischöfe – stellt sich die Frage, inwiefern die islamischen Verbände als Repräsentanten der mehrere Millionen starken Religionsgemeinschaft legitimiert sind. Sicher sind sie nicht „demokratisch“ legitimiert, aber das ist der Papst auch nicht! – sie werden von den Gläubigen aber nicht als religiöse Autorität anerkannt, sondern allenfalls als Interessenvertretung im Sinne des Vereinsrechtes.

Schiitische Ayatollahs können autoritativ über Glaubensfragen entscheiden, nicht unähnlich wie Bischöfe in christlichen Kirchen, bei Sunniten kann theoretisch jeder Imam einer Moschee als religiöse Autorität auftreten, bedeutende Universitäten wie die in Kairo genießen Ansehen, aber nicht verbindliche Autorität. In christlichen Sekten treten oft Prediger mit einer charismatischen Autorität auf, die sie von göttlicher Inspiration ableiten.

Repräsentanz in Fragen der Religionsfreiheit bedeutet nicht demokratische Legitimation, sondern allein religiöse Legitimation. Nur religiöse Vertreter genießen Religionsfreiheit, reine Interessenvertretungen sind legitim, fallen aber eher unter das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und der Koalitionsfreiheit. Diese sollten nicht mit der Religionsfreiheit in einen Topf geworfen werden.

Mit dem Auftreten von christlichen „Dissidenten“ oder „Sekten“ kam die Frage auf, welche christlichen Konfessionen als legitime Kirchen auftreten konnten. Die katholische Kirche hatte einen großen Magen und verdaute viele abweichende Lehren, solange nur die Macht der Hierarchie mit dem Papst an der Spitze nicht infrage gestellt wurde. Wenn die Grenzen aber überschritten wurden, dann wurden die „Ketzer“ ausgestoßen – und in früheren Zeiten verbrannt, in jüngerer Geschichte mit oder ohne Zutun staatlicher Stellen isoliert.

Die evangelischen Kirchen erlebten seit der Reformation immer wieder Abspaltungen. Lutheraner und Reformierte hoben ihre gegenseitigen Verdammungen erst mit der „Leuenberger Konvention“ Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts auf. Am Rande existierten „Sekten“, die von den meisten evangelischen und katholischen Kirchen nur noch teilweise oder gar nicht als zur christlichen Gemeinschaft gehörig angesehen wurden.

Durch die Globalisierung stoßen heute sehr unterschiedliche Religionen, traditionelle und neue, große Gemeinschaften und Sekten, aufeinander, die früher geographisch voneinander getrennt waren. Die Unterscheidung von „Abendland“ und „Morgenland“, von Okzident und Orient war über Jahrhunderte auch die Unterscheidung zwischen christlich und muslimisch geprägten Regionen. Aus islamischer Sicht war das die Aufteilung der Welt in das Reich des Friedens und das Reich des Krieges. Heute ist der Islam in ganz Europa präsent. Das Christentum war im Orient über Jahrhunderte präsent geblieben – seit einigen Jahrzehnten ist es auf dem Rückzug. Viele Christen haben ihre Heimat im Orient verlassen, weil Kriege und Unterdrückung ihr Leben bedrohten.

Niemand bezweifelt, dass Christentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus Religionen sind. Bei neueren Phänomenen ist das aber nicht unumstritten: Viele bezweifeln, dass Scientology eine Religion ist. Manche sehen darin nichts anderes als ein betrügerisches Geschäftsmodell. In den USA ist Scientology eine anerkannte Religionsgemeinschaft, auch in Europa beruft die Gemeinschaft sich auf die Religionsfreiheit. Als Joseph Smith behauptete, das Buch Mormon in den USA gefunden zu haben, sahen viele in ihm einen geschickten Betrüger. Heute sind die Mormonen eine anerkannte, weltweit missionierende Religionsgemeinschaft, im US-Bundesstaat Utah sogar die vorherrschende Religion. Manche esoterische oder schamanistische Praktiken sind von religiöser Praxis kaum zu unterscheiden, allerdings gibt es keine identifizierbare geschlossene Gemeinschaft.

Relevant sind für das Problem der Religionsfreiheit in modernen demokratischen Ländern in Europa nur das Christentum mit seinen Konfessionen und Sekten, das Judentum, und der Islam in seinen verschiedenen Ausprägungen und die verbreitete Religionslosigkeit in der Form von Atheismus oder Agnostizismus.

In der Geschichte hat es Religionen und Sekten gegeben, deren Lehre und Praxis aus unserer Sicht nicht akzeptabel waren. Caesar berichtet von Menschenopfern der keltischen Religion in Gallien. In Indien gab es noch im 19.Jahrhundert den religiös begründeten Brauch der Witwenverbrennung. Die Azteken mussten aus religiösen Gründen regelmäßig Menschenopfer vollziehen, damit der tägliche Lauf der Sonne nicht gefährdet wurde. Die Praxis, menschliche Herzen aus lebendigen Leibern zu reißen, war eine religiöse Pflicht. Am anderen Ende des Spektrums gab es immer wieder Sektenführer, die ihre gesamte Gemeinschaft aus religiösen Gründen in einen Massenselbstmord trieben.

Sind das dann „kriminelle“ Sekten oder Religionen? Sind das überhaupt Religionen? Sind solche Lehren und solche Praxis „fehlgeleitet“? Manche Diskussion über den Zusammenstoß einer religiösen Lehre oder Praxis mit dem Strafgesetz wird schnell als unzulässige „Kriminalisierung von Religion“ denunziert. Die staatliche Unterdrückung solcher Praktiken, noch mehr die Bekämpfung solcher Religionen, wird als Verletzung der Religionsfreiheit abgelehnt.

Ich halte es für falsch, die Diskussion über Religionen auf diese Weise zu tabuisieren. Die Fragen nach „kriminellen“ religiösen Praktiken müssen gestellt werden. Aber die Antworten sind nicht einfach. Wer soll darüber bestimmen dürfen, was richtige, falsche oder gar keine Religion ist, welche Praxis zulässig ist und welche nicht? In einem herrschaftsfreien Diskurs in der von Habermas konzipiderten Art lässt sich das sicher nicht leisten. Das Strafgesetz ist Ausdruck von gesellschaftlichen Werten, die nicht immer ausdrücklich formuliert sind, sondern zu den Hintergrundüberzeugungen gehören. Erst wenn es einen Wertewandel gibt, werden sie explizit und Gegenstand von Kontroversen. So war auch die Unterscheidung zwischen Christen und Heiden jahrhundertelang selbstverständlich. Seit der Aufklärung ist das ins Wanken geraten und heute würde niemand außerhalb fundamentalistischer Sekten das noch als Grundüberzeugung vertreten.

Der Staat als die vom Volk gegebene – durchaus veränderliche – Ordnung muss sich den Fragen, was Religion ist und damit unter Religionsfreiheit fällt, normativ neutral nähern. Das erfordert eine Diskussion darüber, was überhaupt Religion ist und welche Gruppen als religiöse Gemeinschaften gelten sollen und welche nicht. Dazu muss auch darüber gesprochen werden, wie mit Lehren und Praktiken umgegangen werden soll, die der geltenden staatlichen Rechts- und Verfassungsordnung widersprechen. Diese Debatte kann nur ein juristischer Diskurs im säkularen Raum des Staates sein, religiöse Argumente können hier keine Rolle spielen.

Die meisten Religionsgemeinschaften gehen davon aus, dass ihre Lehre und Praxis ihrem (einen oder mehreren) höchsten Wesen die einzig wohlgefällige ist und dass allein ihre religiösen Autoritäten darüber bestimmen dürfen, welche Lehre gilt und welche nicht – gleich ob sie sich auf heilige Schriften oder Traditionen beziehen. Alle anderen religiösen Gemeinschaften sind demnach falsch, irregeleitet und oft sogar strafwürdig – im Jenseits und wohl auch im Diesseits. Die Religionen lassen sich nicht infragestellen. Sie bleiben fraglos im wörtlichen Sinne: schon die Frage nach ihrer Wahrheit grenzt an Ketzerei! Der Streit um religiöse Wahrheitsansprüche kann von keiner übergeordneten Instanz aufgelöst werden. Widersprüche zum säkularen Staat muss staatlich-juristisch aufgelöst werden.

Der Religionsbegriff moderner Verfassungen ist sehr weit gefasst: wer sich auf eine „heilige“ Lehre beruft und seine Praxis durch Gehorsam gegenüber einer religiösen Autorität begründet, übt Religion aus. Ob das „wirklich“ Religion ist, wird dem säkularen Urteil weitestgehend entzogen. Eine „wahre“ Religion kann es für einen modernen europäischen Staat ohnehin nicht geben – das ist in islamischen Republiken oder Monarchien oder in Ländern mit einer christlichen Staatsreligion anders: die Privilegierung einer Religion schränkt allerdings nicht automatisch die Religionsfreiheit anderer Bekenntnisse aus.

Solange nur die traditionelle gesellschaftliche Rolle der jeweiligen Staatsreligion hervorgehoben wird, wie die der Orthodoxie in Griechenland oder der anglikanischen Kirche in England, bleibt die gesellschaftliche Rolle der Staatskirche von ihrer religiösen Autorität getrennt. Wo aber im Staat einer Religionsgemeinschaft auch die Verwaltung der absoluten Wahrheiten und der Wertordnung für alle Bürger übertragen wird, kann es keine Religionsfreiheit geben.

Im aufgeklärten Europa darf der Staat die jeweiligen Ansprüche der Religionen auf die einzige und ausschließliche Wahrheit nicht beachten. Die gegenseitigen Verdammungen aller anderen Religionen als falsch und gottlos kann der Staat nur ignorieren – auf Grund seiner Neutralität kann er die Religionsfreiheit sichern. Es ist auch nicht Sache des Staates, den Religionsgemeinschaften Spielräume dafür zu verschaffen, Andersdenkende zu missionieren, oder ihre „Wahrheit“ und Überlegenheit demonstrativ zur Geltung zu bringen.

Der Staat muss nur dafür sorgen, dass Gläubige innerhalb ihrer Gemeinschaft ungestört der religiösen Praxis nachgehen können, soweit diese mit Recht und Verfassung vereinbar ist. Die Schnittstelle und damit die Friedensstiftung zwischen verschiedenen, konkurrierenden Religionen gehört zum Staat – nicht zu den Religionen.

„Jeder soll nach seiner Facon selig werden“ – hatte Friedrich der Große gesagt. Welche Handlungen rechtmäßig sind oder nicht, entscheidet das säkulare Recht. Die äußere Grenze der Religionsfreiheit bleibt die Staatsraison. Die innere Religionsfreiheit als Gedankenfreiheit bleibt davon unberührt.

Unser Begriff von Religion ist durch die Rolle des „Glaubens“ im Christentum geprägt. In vielen Religionen – so auch in der Antike – stand und steht nicht der Glaube im Mittelpunkt, sondern das Handeln. Griechische und römische Götter kannten Frevler, aber keine Ketzer. Die Religion dekretiert die Beobachtung von Zeremonien im Gottesdienst. Die strikte Erfüllung religiös begründeter Riten und Gesetze gibt dem Frommen den Rahmen des zulässigen und des verbotenen Tuns im Alltag vor.

Auch säkulare Gesetze gestatten oder verbieten bestimmtes Handeln im Alltag. Diese Regeln stimmen oft nicht immer mit den religiösen Gesetzen überein. Manche Religion schreibt im Alltag ein unterschiedliches Verhalten gegenüber „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ vor. Das säkulare Gesetz gilt ohne Ansehen der Person. Im Gegenteil, Diskriminierung aus religiösen Gründen ist verboten.

Gesetze werden im demokratischen Staat von der Legislative beschlossen und von der Exekutive angewendet und im Streitfall von der Justiz interpretiert. Religiöse Gesetze unterliegen der Autorität der jeweils höchsten Wesen und ihrer Vertreter auf Erden, der Priester und Schamanen, der Päpste und Kalifen, der Gemeindevorsteher, Pastoren, Gurus und Imame. Vieles in unserer Gesetzgebung hat religiöse Wurzeln, aber im modernen Staat gibt sich das „Volk“ die Gesetze „selbst“ – in der Regel durch gewählte Repräsentanten. Das weltliche Gesetz ist für alle verbindlich, das religiöse Gesetz nur für der Anhänger einer bestimmten Religion, seine Beachtung ist nicht Sache des Staates. Was aber gilt, wenn weltliches und religiöses Gesetz kollidieren?

Gehört es zur Religionsfreiheit, dass der Staat den Religionen Freiräume schafft, in denen die Beachtung religiöser Gesetze ausdrücklich ermöglicht wird? Oder reicht es, überall dort eine neutrale Toleranz auszuüben, wo es keinen Widerspruch zum weltlichen Recht gibt? Wo findet die Religionsfreiheit ihre Grenzen an den Rechten anderer, an der Menschenwürde, an Grundrechten oder Verfassungen, am Sittengesetz oder an örtlichen Traditionen?

Das ist eine Frage der Staatsform: in demokratischen Ländern gibt es Religion IM Staat, aber Religion ist nicht DER Staat – auch nicht ein Teil davon. Das „Kollisionsrecht“ im demokratischen Staat wird deshalb den Vorrang des staatlichen Rechts vor den religiösen Pflichten feststellen. Allerdings sind viele religiöse Gesetze für das Zusammenleben im Staat irrelevant oder zumindest unschädlich. Erforderlich bleibt aber eine legitime Abgrenzung zwischen dem, was bei Kollision der Wert- und Rechtsordnungen an religiöser Praxis und Lehre im Staat zulässig ist.

Die spanischen Kolonialherren haben in Mexiko die aztekische Religion unterdrückt. Die Menschen wurden – nicht unbedingt freiwillig – zu Christen gemacht. Wenn jemand also die alte aztekische Religion wieder in ihr Recht einsetzt – vielleicht mit dem Ziel der Wiedergutmachung von „kolonialem Unrecht“ : müssen wir dann die wiederbelebte alte Lehre tolerieren (auch wenn wir sie nicht akzeptieren), dass der Lauf der Sonne davon abhängt, dass Menschenopfer erfolgen? Müssen wir dann auch die Praxis akzeptieren, dass wieder Menschen auf die Spitzen der Tempel geführt werden, damit Priester ihnen dort die Herzen herausreißen – vielleicht in einer modernisierten „humanen“ Weise mit vorheriger Narkose?

Der demokratische Staat tut sich schwer, irgendeine religiöse Lehre auch nur zu kommentieren. Der aufgeklärte demokratische Diskurs ist nicht gegen die Religion gerichtet – er ist mit dem religiösen Sprachspiel schlicht nicht kommensurabel. Man drückt sich gerne um die Antworten, Aber auch der moderne Staat kommt an dem Thema nicht vorbei! Er muss das friedliche Zusammenleben ordnen, und damit auch der Religionsfreiheit Grenzen setzen, wenn Religionen damit unvereinbar sind.

Wer an die alte aztekische Religion glauben will, kann das unwidersprochen tun, genauso wie jemand an die Verwandlung von Brot und Wein in Blut und Leib Christi zu glauben berechtigt ist. In der aztekischen Religion war das Menschenopfer eine zwingende Folge dieses Glaubens – sie war eine religiöse Pflicht. Darf das wiederbelebt werden? Ich bin überzeugt, dass es einen Konsens gibt, dass wir das nicht zulassen dürfen und sogar unter Strafandrohung verbieten müssen. Aber „kriminalisieren“ wir damit nicht eine Religion?

Wo liegt der Unterschied zu einem religiösen Führer, der seine Anhänger zum Selbstmord auffordert? Nehmen wir einmal an, jemand gründet eine „neue Religion“, stitlisiert sich selbst als erleuchteter Anführer, verbreitet seine Lehren durch ein heiliges Buch oder heute vielleicht durch einen heiligen Blog, und fordert eine Praxis, die uns fremd, bizarr, vielleicht sogar sittenwidrig erscheint. Kann und darf dann irgendjemand prüfen, ob der Anführer „wirklich“ ein Heilsbringer ist, ob seine Lehren „richtig“ und die daraus abgeleiteten Praktiken „zulässig“ sind. Die erste Frage ist dann schon: wer soll das denn prüfen?

Erneut kommt nur der säkulare Staat mit den Mitteln des Rechtsstaates dafür infrage. Der Gesetzgeber muss ihn befähigen, die Gratwanderung zwischen Toleranz für Glaubenssätze und Intoleranz für untragbare praktische Konsequenzen daraus zu bewältigen. Wo die Grenze genau liegt, wird umstritten bleiben. Gilt die Toleranz für eine Glaubenslehre, die dem Gläubigen eine Haltung von Rassismus und Apartheid auferlegt, die Gewalt legitimiert – solange bisher kein Gläubiger das in die Tat umgesetzt hat? Gilt Toleranz auch, wenn nicht akzeptable Menschenopfer zwar nicht öffentlich akzeptiert werden, aber eine Glaubenslehre dazu anleitet, sie ggf. heimlich auszuführen – müsste also der Glaube mancher Sekten der Anhänger Kalis in Indien toleriert werden und mörderische Praktiken dann gegebenenfalls als Mord verfolgt werden – oder muss auch eine mörderische Lehre „kriminalisiert“ werden. Ich meine, ja!

Lehren, die dazu aufrufen, das zu verletzen, was im säkularen Staat zur Menschenwürde gehört,sollten nicht toleriert werden. Das ist auch im demokratischen Westen nicht überall Konsens. In angelsächsischen Ländern, vor allem in den USA wird die Meinungsfreiheit weiter gefasst, so dass sich beispielsweise Nationalsozialisten dort frei äußern können. In den sozialen Netzwerken ist die Kontrolle von Hetzreden und Aufrufen zur Verletzung anderer ohnehin kaum kontrollierbar. Ich halte es für einen eher problematischen Notbehelf, die Kontrolle der Netzwerke dem Urteilsvermögen der Betreiber zu überlassen, der Staat wiederum darf nie als willkürlicher Zensor auftreten. Jeglicher Eingriff muss mit klaren Gesetzen geregelt sein und justiziabel bleiben. Unter diesen Umständen kann auch Religionsfreiheit keinen Gewaltaufruf, keine Aufrufe zur Verletzung der Menschenwürde Andersgläubiger oder zur Unterdrückung anderer Religionen rechtfertigen. Zugleich muss rechtlich einwandfrei Kritik an Religionen frei und ungehindert möglich bleiben. Die Tatsache, dass Religionsgemeinschaften solche Kritik ablehnen oder sich davon beleidigt fühlen, ist kein Grund dafür, Kritik nicht zu tolerieren. Die Abgrenzung ist wiederum Sache des säkularen Rechtsstaates allein.

Selbstmordsekten sind „kriminell“ – ich glaube, darüber lässt sich Konsens herstellen. Aber was ist mit der Aufforderung religiöser Führer, dass jemand sich im Einzelfall aus Protest oder im Interesse religiöser Ziele selbst aufopfert? Viele bewundern die Bereitschaft zur Selbstaufopferung. Märtyrertum wird in einigen Religionen, gerade auch im Christentum, heroisiert. Wofür gelitten wird, das kann nur wahr sein.

Was aber, wenn für das eigene Martyrium der Tod anderer in Kauf genommen wird, beispielsweise von Selbstmordattentätern? Ich halte das für unzulässig – aber der Konsens darüber ist vielleicht nicht bei allen Religionsgemeinschaften eindeutig.

Noch weiter geht natürlich die Problematik, wenn eine Religion den bewaffneten Kampf gegen Anhänger anderer Religionen oder Konfessionen predigt und praktiziert. Religionskriege waren in der Geschichte oft sehr grausam. Der jeweilige Gegner wurde als Heide, also Gegner der Gottheit, angesehen und damit ins absolute Unrecht gesetzt. Die meisten Menschen in Europa dürften Religionskriege heute anders als im Mittelalter nicht mehr für legitim halten. Nicht alle Religionen teilen diese Auffasung.

In Europa neigen wir dazu, Kriege aus ökonomischen, sozialen oder politischen Gründen zu erklären. Schon mit der Kategorie ideologischer Kriege taten wir uns schwer. Die Wirtschafts- und Lebensraumideologie der Nationalsozialisten scheint uns plausibler zur Erklärung des Überfalls auf die Sowjetunion als die rassistische Ideologie der Vernichtung von „Untermenschen“. Das aber führt zur Unterschätzung genuin rassistischer Überzeugungen als Kriegsursachen.

Der dreißigjährige Krieg von 1618-1648, der auf deutschen Boden das Leben von einem Drittel der Bevölkerung kostete, brach als Religionskrieg aus und wurde zum Krieg der Großmächte um die Hegemonie in Deutschland und Europa. Darüber wird manchmal vergessen, dass religiöser Fanatismus ein großer Brandbeschleuniger für solche Kriege ist. Mögen Staaten die religiösen Gefühle zynisch genutzt haben, weite Kreise der Bevölkerung wurden dennoch gen au dadurch mobilisiert. Auch die spanische Reconquista war ein Machtkampf um Territorien und feudale Machtansprüche. Manche Heerführer, wie der legendäre El Cid Campeador dienten mal der einen, mal der anderen Seite. Dennoch war es immer auch ein Religionskrieg, der am Ende erst durch die Inquisition zum Ende geführt wurde, wo jeder, der auch nur in den Verdacht islamischer, jüdischer oder ketzerisch-christlicher Praktiken geriet, mit dem Leben büßte.

Religion ist eben nicht per se friedlich, fanatischer Glaube födert Gewalt und Kriege mehr als das friedliche Zusammenleben. Der Islam war von Anfang an – spätesten nach der Flucht des Propheten nach Medina, eine kämpferische Religion. Die gewaltsamen Bekämpfung von Ungläubigen wird im Koran und vielen Hadithen als gottgefällig angesehen. Die früheren Suren des Koran, die der Zeit in Mekka zugeordnet werden, klingen weitaus toleranter als die späteren. Wer sich auf den friedlichen Charakter des Islam beruft, findet dort eine religiöse Grundlage. In der islamischen Geschichte wechselten Phasen von Krieg und Unduldsamkeit mit Phasen des Friedens und der Toleranz. Die territoriale Ausbreitung des Islam fand in Arabien, Nordafrika und Spanien mit Feuer und Schwert statt, in Indonesien breitete sich die Religion zunächst durch Händler aus.

Was bedeuten einzelne religiöse Praktiken für die Religionsfreiheit? Im Alten Orient war die Tempelprostitution eine verbreitete Praxis. Nehmen wir einmal an, dass sich eine Gemeinschaft von heiligen Zuhältern bildet, die darauf bestehen, ihre Religion verlange den Bau von Tempeln, in denen sich Frauen prostituieren müssen. Fällt das unter Religionsfreiheit? Ein Jurist würde antworten, dass es sich um eine hypothetische Frage handelt, denn es komme ja keiner auf diese Idee. Der Gesetzgeber würde vermutlich erst handeln, wenn das Problem real auftaucht. Dann kann es aber zu spät sein, weil erste Gerichtsurteile bereits die Legalität der Tempelprostitution in der Nähe des Landgerichtes festgestellt haben und zu viele Männer das eigentlich akzeptabel finden. Darf also der Staat zumindest Grundsätze dafür aufstellen, was auch in Zukunft jedenfalls nie unter Religionsfreiheit fallen darf? Ich glaube ja, denn es gibt Fälle, die schon heute aktuell sind.

Im christlichen Mittellalter gab es Zeiten, in denen Geißler in Massen durch die Lande zogen und sich öffentlich selbst geißelten. Heute schlagen sich bei den Feiern zum Ashura-Fest im Iran Geißler in religiöser Verzückung ihre Rücken zu blutigen Fetzen. Angenommen 1000 Shiiten melden zum Ashura-Fest eine öffentliche Prozession von Geißlern durch die Innenstadt von Hamburg an: fällt das bei uns unter die Religionsfreiheit? In Deutschland wäre der Konsens wohl: Nein, das geht gar nicht. Gerichte würden das vermutlich als „sittenwidrig“ ansehen. Doch wessen Sitte gilt da? Vielleicht käme am Ende das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, dass es reine Willkür ist, katholische Prozessionen auf Blumenteppichen nicht mit Geißlerprozessionen auf Blutteppichen gleichzustellen. Die Gläubigen können höchste Ehren im Jenseits erwarten.Sie martern ihren Körper freiwillig mit ihrem Einverständnis, nicht anders als es bei manchen sadomasochistischen Praktiken der Fall ist.

Reicht es für ein Verbot aus, dass uns der öffentliche Auftritt der religiösen Menschen verstört? Dürfen wir Kinder vor dem Anblick blutender und zerschundener Körper schützen? Ich kann mir schon vorstellen, dass nicht nur Kinder durch solche Anblicke traumatisiert werden könnten. Aber darf dafür das Grundrecht auf Religionsfreiheit verletzt werden? Ich glaube, ja – aber das erfordert eine sehr sorgfältige Begründung und vielleicht doch präventives Handeln des Gesetzgebers, indem die Religionsfreiheit „im Rahmen der Gesetze“ ausgestaltet und damit auch eingeschränkt wird.

Wo liegen die Grenzen der Religionsfreiheit? Es gab Prozesse, in denen „Zeugen Jehovas“ verurteilt wurden, entgegen ihrer religiösen Überzeugung Bluttransfusionen an ihren Kindern zuzulassen. Dabei ging es um das Handeln für unmündige Kinder und um das Verhältnis zwischen Elternrecht und dem Lebensrecht der Kinder. Die Verweigerung einer lebensrettenden Transfusion durch einen Erwachsenen für sich selbst wäre vermutlich unter dem Motto der Selbstbestimmung und der „Religionsfreiheit“ zulässig gewesen.

Der große Liberale John Stuart Mill hielt einen Eingriff des Staates nur für zulässig, wenn jemand anderen Schaden zufügt, nicht aber wenn er ausschließlich sich selbst schadet. Allerdings kann man darüber streiten, was alles als Schaden für andere anzusehen ist, z.B. wenn medizinische Kosten für Alkoholismus, Drogensucht oder zu fette Ernährung der Allgemeinheit aufgebürdet werden, oder wenn jemand durch Selbstmord anderen Trauer und Schmerz zufügt.

Die von mir genannten Beispiele sind teilweise extrem: Menschenopfer gelten heute als inakzeptabel, vermutlich könnte auch die beste religiöse Begründung dafür unsere westliche Justiz nicht überzeugen (obwohl: mit überraschenden Urteilen muss man wohl immer rechnen). Ich will damit aber darauf aufmerksam machen, dass Religionsfreiheit gestaltet werden muss und nicht dem Lauf der Dinge überlassen werden kann

Die Gefährdung des Lebens anderer, vor allem unmündiger Kinder, durch religiöse Praxis würde wohl in den meisten Fällen zum Vorrang des Rechts auf Leben führen. Blutige Selbstgeißelungen in der Öffentlichkeit halten wir bisher jedenfalls für inakzeptabel.

Beim Recht auf körperliche Unversehrtheit wird es schon schwieriger. Für jede medizinische Operation gilt, dass durch das Einverständnis des Patienten aus der Körperverletzung ein heilender Eingriff wird. Eltern dürfen dabei auch für ihre Kinder handeln. Wenn der Patient oder seine Eltern das Seelenheil suchen: bedeutet das auch das Einverständnis mit allen von der jeweiligen Religion vorgegebenen Praktiken? Ein Kölner Gericht löste vor zehn Jahren einen Sturm der Entrüstung jüdischer und muslimischer Gläubiger aus, als es die Beschneidung von Kindern untersagen wollte.

Ich vermute, dass wir uns auf einen Konsens einigen können, dass Eingriffe, die für das religiöse Heil sorgen sollen, den Eingriffen gleichgestellt werden sollten, die dem körperlichen Heil dienen, allerdings nur, solange die Eingriffe nicht so schwerwiegend sind wie Menschenopfer oder Geißelungen. Dann bleibt aber die Frage der Grenzziehung. Darf die Beschneidung von Knaben toleriert werden, die Klitorisbeschneidung von Mädchen aber nicht? Manche wenden gegen die Klitorisbeschneidung ein, dass es dafür keine religiöse Begründung gäbe, sondern allenfalls stammesgebundene Traditionen. Aber das überzeugt nicht. Denn diejenigen, die das behaupten, haben keine Autorität zu bestimmen, was religiös geboten ist oder nicht. Aus Sicht der Eltern, die solchen Eingriff für geboten halten, ist das eine religiöse Pflicht. Der bleibende körperliche Schaden und das damit verbundene Trauma bei den Mädchen rechtfertigt aus meiner Sicht das Verbot. Aber der Gesetzgeber sollte das explizit regeln und nicht der Willkür einer wandelbaren Justiz überlassen, die ja auch das Schlagen von Ehefrauen schon einmal als kulturelle Eigenheit schutzwürdig fand.

Wenn körperliche Schäden durch religiöse Praktiken im Namen der Religionsfreiheit hingenommen werden, gilt das dann auch für seelische Schäden? Alle Religionsgemeinschaften werden bestreiten, dass ihre Praxis seelische Schäden und Traumata hervorrufen kann. Ist die religiöse Erziehung durch die Religionsfreiheit auch dann geschützt, wenn Frauen (notfalls durch Schläge) eingebleut wird, dass sie gegenüber Männern von minderem Wert sind, wenn Jungen von klein auf die Verachtung der Mädchen erlernen? Ist es Teil der Religionsfreiheit, wenn das religiöse Kollektiv Psychoterror durch soziale Ächtung ausübt, um ihre Mitglieder zu konformem Verhalten anzuhalten? Wie ist zu bewerten, wenn abtrünnige Sektenmitglieder sozial ausgegrenzt werden. Ist es Konsens, dass religiöse Lehren und Praxis schwere seelische Schäden verursachen können?

Aus Sicht der jeweiligen Religionsgemeinschaft gibt es solche Schäden nicht, sondern nur die Anerkennung der gottgewollten Ordnung. Wenn aber diese Ordnung mit Verfassungsartikeln des säkularen Staates nicht vereinbar ist, was dann? Ich glaube, dass der ganze Komplex psychischer Schäden und Traumata durch religiösen Extremismus bisher zu wenig beachtet wird. Ich habe selbst Erfahrungen mit den psychischen Belastungen durch Sekten gemacht und kann nur sagen, dass diese auf Dauer vermutlich nicht weniger Unheil anrichten als körperliche Verletzungen.

Die Religionsfreiheit ergibt sich aus der Verfassung, setzt also die Anerkennung der Verfassung voraus. Daher kann es eigentlich keine Religionsfreiheit gegen die Verfassung geben. Doch der Vorrang der staatlichen Verfassung gegenüber dem religiösen Gesetz ist keineswegs unbestritten. Es kommt vielleicht auch darauf an, wie die staatliche Verfassung aussieht. Gerade gegenüber einer demokratischen Verfassung, die Religionsfreiheit garantiert, darf Religion nicht Vorrang haben.

Wir kommen dennoch nicht um die Frage herum, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob religiös begründete Handlungen von der Religionsfreiheit abgedeckt sind oder nicht. Wann Religion oder Gewissen und wann der säkulare Staat mit seiner Verfassung Vorrang hat, ist keineswegs trivial.

Ich will jetzt einmal versuchen, so viel Konsens wie möglich darüber zu finden, was Religion NICHT darf. Dabei unterscheide ich die religiösen „heiligen“ Texte von den aktuellen Lehren und Glaubenssätzen, die heute von den Anhängern einer Religion als wahr und für ihr Leben als relevant akzeptiert werden. Auch unterscheide ich die traditionellen Bestandteile religiöser Praxis: Riten, Gesetze und Handlungsanweisungen von der aktuellen Praxis der Gläubigen. Schließlich möchte ich Traditionen, die zwar religiös verbrämt werden, aber nicht wirklich in den jeweiligen Religionen verankert sind von den grundlegenden Verhaltensregeln der Religion unterscheiden, deren Nichtbefolgung eine Abwendung von der Religion bedeuten würden.

Wenn in der aztekischen Religion in erster Linie Gefangene aus Kriegszügen für die Menschenopfer verwendet wurden, dann war das eine Tradition, die nicht durch religiöse Notwendigkeit begründet war. Der Opfer eigener Stammesangehöriger oder ihrer Kinder wäre sicher nicht weniger gottgefällig gewesen – im karthagischen Baalskult war ja auch die Opferung eigener Kinder üblich.

Die Tradition, Kriegsgefangene den Göttern zu opfern, lehnen wir ab. Als Tradition fällt das nicht unter Religionsfreiheit. Aber aus unserer heutigen Sicht darf eine Religion überhaupt keine Menschenopfer verlangen – nicht einmal das Opfer ihrer eigenen Anhänger oder eigener Kinder. Eine Wiederherstellung der aztekischen religiösen Praxis wäre aus dieser Sicht zu verbieten und vom Staat aktiv zu verhindern. So weit geht Religionsfreiheit nicht. Ist das Konsens? Die biblische Geschichte von der Bereitschaft Abrahams sein Kind Isaak auf dem Altar zu töten, wenn Gott es verlangt, gehört zur „heiligen Schrift“, aber wir akzeptieren diese Geschichte heute nicht mehr als Vorbild für den Gehorsam gegenüber Gott. Judentum, Christentum und Islam lehnen heute prinzipiell religiöse Menschenopfer ab.

Problematisch wird es beim Begriff der Selbstaufopferung, des Märtyrers. Christliche Märtyrer in den römischen Arenen wählten Leid und Tod als Opfer, wenn ihnen der Gehorsam gegenüber Gott wichtiger war als der Gehorsam gegenüber der heidnischen staatlichen oder nichtstaatlichen Gewalt. Jüdische Märtyrer in Masada wählten den Tod, weil sie sich nicht der Herrschaft der gottlosen Römer unterwerfen wollten – Religion und Nation waren hier identisch. Der im Islam gebrauchte Begriff des Märtyrers ist anders: es geht hier um kämpfende Aufopferung, nicht um leidende Aufopferung. Der Kämpfer bleibt Märtyrer, wenn er mit seinem eigenen Opfer auch so viele Feinde wie möglich mit in den Tod reisst – etwas, das dem christlichen Märtyrer fremd ist. Etwas vom kämpferischen Märtyrer steckte in den Kreuzfahrern des Mittelalters. Im modernen Christentum und im Judentum ist es nicht mehr üblich, zum Märtyrertum aufzufordern. Im Islam ist das weiterhin ausdrücklich der Fall.

Wenn wir religiöse Menschenopfer ablehnen – was Konsens sein dürfte, dann müssen wir aktives Märtyrertum heute ablehnen, insbesondere den islamischen Märtyrerbegriff. Die Anerkennung von Märtyrern, die sich selbst als Vorbilder der Glaubensstärke aufopfern, ist damit nicht ausgeschlossen, wohl aber die Verherrlichung von Märtyrern, die andere mit in den Tod reißen. Denn das kommt der Akzeptanz von Menschenopfern zur höheren Ehre eines Gottes gleich. Das ginge weiter als alles, was wir unter Religionsfreiheit verstehen. Können wir darüber einen Konsens finden? Dann müsste auch jeglicher Aufruf oder Werbung für den Märtyrertod klar verboten sein.

Wäre aber damit auch die „heilige Schrift“ selbst im Visier des „säkularen Zensors“? Wenn die Verherrlichung von Märtyrern zur religiösen Lebenspraxis gehört, müsste der Staat darauf achten, dass dies nur verfassungskonform vorgetragen wird, dass also beispielsweise jegliche Heroisierung der Aufopferung anderer als des Märtyrers selbst ausdrücklich verboten wird.

Der Staat tut sich schwer, „heilige Texte“ zu verbieten – es wäre auch zwecklos, denn der Glauben an religiöse Texte ist absolut und durch säkulare Gesetze nicht zu steuern. Wenn in einem heiligen Text etwas steht, was unserem Recht widerspricht, dann hilft nur eine rechtskonforme Interpretation oder – wo das nicht gestattet ist – eine Erläuterung durch die religiösen Autoritäten, dass z.B. die Aufopferung anderer nicht darunter fällt. Das wird nur funktionieren, wenn Gewaltaufrufe gegen andere ausdrücklich bestraft werden. Hier wird der Staat zwar an Grenzen stoßen, darf aber nicht untätig bleiben.

Nun zur Verletzung der körperlichen Unversehrtheit: das Beispiel einer blutigen Geißler-Prozession zum Ashura-Fest ist drastisch und dürfte die Grenzen dessen überschreiten, was wir unter Religionsfreiheit verstehen. Dennoch halte ich dies nicht für einen rechtlich eindeutig abgesicherten Konsens. Ich kann mir sehr wohl deutsche oder britische Richter (keine französischen) vorstellen, die Religionsfreiheit so frei auslegen, dass eine solche Prozession gestattet werden könnte. Wenn es diese Möglichkeit gibt, wäre der Gesetzgeber gefragt: er müsste die Grenzen der Religionsfreiheit klarer definieren als bisher und auch Phänomene dabei einbeziehen, die erst durch die jüngste Zuwanderung zu einer realen Möglichkeit geworden sind. Der Gesetzgeber würde damit ausgestalten, wo die Religionsfreiheit an die Grenzen des gesellschaftlichen Konsens stößt. Ob das für Gerichte als einschränkendes Moment der Religionsfreiheit ausreicht, halte ich nicht für sicher.

Wird Religionsfreiheit nur religiösen Kollektiven oder auch Individuen zugebilligt? Das ist eine wichtige Frage, denn die individuelle Religionsfreiheit kann sich auch gegen ihre eigenen religiösen Kollektive richten, die z.B. den Austritt aus ihrer Religion bestrafen wollen: von sozialer Ächtung bis hin zur Todesstrafe. Der säkulare Staat muss auch die religiöse Freiheit des Ketzers gegen seine eigene Religion schützen. Schwierig wird es, wenn religiöse Erziehung z.B. radikaler Sekten einem Kind schadet. Für einen Richter ist es im Übrigen kaum überprüfbar, ob religiöser Zwang von den Eltern als geboten angesehen wird oder ob kollektiver Druck dafür verantwortlich ist.

Hier komme ich auf ein schwieriges Problem jeglichen auf Religion bezogenes Recht zu sprechen: im deutschen Recht und vor allem auch in der Rechtsprechung wird häufig auf die „religiösen Gefühle“ abgestellt, die nicht verletzt werden dürften. Die Religionsfreiheit setzt dafür den Rahmen, dass dieser Grundsatz für alle Religionen gelten muss, während Artikel 1 GG so ausgelegt werden kann, dass die die Achtung der Menschenwürde auch die Achtung religiöser Gefühle einschließt. Ich halte diese Interpretation allerdings für überzogen, denn Art.1 müsste dann jegliche Gefühle schützen. Auch antireligiöse oder sexuell begründete. Das ist keine justiziable Kategorie.

Gefühle sind subjektiver Natur. Manche Menschen fühlen sich schnell verletzt, manche sind robuster, aber vor allem religiöse Fanatiker sind besonders leicht beleidigt. Im Grunde ist ja jeder Anhänger einer anderen Religion oder Konfession in Person und durch sein Handeln einer Beleidigung Gottes selbst schuldig, also ein Verbrecher. Diese Auffassung der schutzwürdigen religiösen Gefühle dürfte keinen Konsens finden – sonst hätten wir gleich eine Fülle heiliger Inquisitionen, eine für jede empfindliche Religion, für die der Staat dann die Ansprüche der beleidigten Religiösen durchsetzen sollte.

Dennoch werden religiöse Gefühle durch das Recht geschützt. Solche Rechte sollten sich aber auf objektivierbare Umstände stützen. Die Rechtsprechung macht das zum Teil schon, indem sie auf eine objektive Störung der öffentlichen Ordnung abstellt. Der Schutz von Gefühlen kann außerdem nur dann objektiviert werden, wenn vorausgesetzt werden kann, dass die große Mehrheit der dem Gesetz unterworfenen Bürger solche Gefühle nachvollziehen kann und nicht nur eine bestimmte religiöse Gruppe . Das ist heute nicht mehr der Fall – wenn es überhaupt jemals der Fall war.

Die Religionsfreiheit war ursprünglich gegen Monopolansprüche jeweils EINER Konfession oder Religion durchgesetzt worden, nicht als Schutz aller Religionen vor Kritik und beleidigten-Gefühlen. Auch wenn Atheismus für viele religiöse Menschen die größte aller Beleidigungen sein mag: Religionsfreiheit gilt auch für Atheisten!

Es ist üblich geworden, die Abneigung gegen bestimmte Religionen unter dem Begriff von Phobien zu fassen – eine aus meiner Sicht unzulässige Psychologisierung von Kritik an Religionen. Es ist nicht neu, dass alle Religionen per se ihren Konkurrenten nicht zugeneigt sind – nicht aus Furcht (was die wörtliche Bedeutung einer Phobie ist), sondern aus Überzeugung von der eigenen wahren Religion. Der Begriff der Phobie ist im psychologischen Sprachgebrauch außerdem pathologischen Ängsten vorbehalten, die unbegründet oder gar völlig irrational sind. Begründete Ängste vor den Folgen religiösen Wahns kann man schlechterdings nicht unter diesen Begriff subsumieren.

Nun habe ich in den letzten Jahren nur von „Islamophobie“ gehört, aber nie von Christophobie, Buddha-Phobie oder ähnlichem. Obwohl ich einen aus eigener Erfahrung wohlbegründeten Horror vor dem Psychoterror einiger extremer Sekten habe, habe ich auch nie von „Scientology-Phobie“ oder „Zeugen-Jehovas-Phobie“ gehört. Wenn mit „Islamophoben“ Menschen bezeichnet werden, die irrationale und unbegründete Ängste vor dem Islam haben, dann ist der Begriff angemessen.

Wenn der Begriff als Synonym für eine Abneigung bis hin zu Hass gegenüber der islamischen Religion verwendet wird, sollte man von Islamfeindlichkeit oder von Ressentiments gegen den Islam sprechen. Eine mit rationalen Gründen geführte kritische Auseinandersetzung mit dem Islam wie mit dem Christentum oder jeder anderen Religion gehört hingegen zur Tradition der europäischen Aufklärung. Der Vorwurf der Islamophobie wird auch zur Abwehr legitimer Kritik erhoben. Das ist aus meiner Sicht ein unzulässiger Sprachgebrauch.

Der Hintergrund für das zunächst sprachliche, vermutlich aber auch sachliche Missverstehen der angeblichen Islamophobie ist etwas anderes: im Judentum gehört die kritische Debatte über die Auslegung des religiösen Gesetzes zum Kern der rabbinischen Praxis, im Christentum war das lange anders, aber spätestens seit der Aufklärung ist die historisch-kritische Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften alltäglich geworden, Dogmatik und kritische Theologie spielen beide eine Rolle. Im Islam ist die vorherrschende Lehre heute die der wörtlichen und unbedingten Geltung des Korans, der keine Interpretation zulässt – auch wenn es tatsächlich schon in den Hadithen und auch in der heutigen Debatte durchaus unterschiedliche Auslegungen mancher Suren gibt.

Viele muslimische Lehrer sehen in der kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Religion eine Beleidigung Gottes und des Propheten, Unglauben betrachten sie als einen Defekt und den Abfall vom Glauben zum Unglauben sogar als todeswürdiges Verbrechen. Das irritiert die Anhänger anderer Religionen und das irritiert auch Atheisten, die für Muslime ebenfalls einer Todsünde schuldig sind. Da der Islam nicht erst für das Jenseits, sondern schon im Diesseits rechtliche Sanktionen vorschreibt und da dies in islamischen Staaten auch oft durchgesetzt wird, ist es keineswegs irrational oder unbegründet, wenn das Ängste weckt – im Gegenteil.

Angst zu erzeugen – im Christentum „Gottesfurcht“ genannt – ist durchaus ein Instrument zur Disziplinierung der Anhänger einer Religion. Die sprichwörtliche „Höllenangst“ ist ja dem überzeugten Christen nicht ganz fremd. Ob Ablässe oder Buße tun – die Angst von angedrohter Strafe führt immer wieder zu versuchen, sich davon loszukaufen. Die Angst vor der heiligen Inquisition hat sicher manchen Spanier noch katholischer werden lassen als es irgendwelche religiösen Einsichten vermochten. Moderne Staaten setzen zwar verstärkt auf Einsicht in die Gesetze, aber die Strafandrohungen zeigen, dass auch säkulare Gesetze die Furcht vor Sanktionen motivierend einsetzen. Solche Sanktionen zu Recht zu fürchten, ist keine Phobie. In islamischen Ländern werden Ungläubige, die sich nicht auflehnen, „nur“ rechtlich diskrimiert, wer aktiv gegen den Islam auftritt, muss mit hohen Strafen rechnen. Wer das fürchtet, hat ebenfalls keine irrationale Phobie, sondern eine wohlbegründete Angst.

Der Koran ist voller Strafandrohungen nicht nur für das Jenseits, sondern auch im Dieseits. Die Sharia enthält Gesetze über Tatbestände, für die bei uns das säkulare Strafrecht zuständig ist. Eine Paralleljustiz kann ein moderner demokratischer Staat nicht dulden. Wie soll aber dann mit dem Glauben an die Richtigkeit der religiösen Gesetze umgegangen werden? Den Anhängern einer Gesetzesreligion muss man sagen: ihr dürft gerne glauben, dass die Regeln der Sharia die besseren sind und euch religiös verpflichten – aber im säkularen Staat gelten dessen Regeln und ihr dürft aus dem Glauben jedenfalls keine Praxis ableiten?

Manche, wie der deutsche Sozialwissenschaftler Bassam Tibi, hoffen auf einen „Euroislam“, der das Erbe der europäischen Aufklärung aufnimmt und auch an kritische Debatten aus dem Islam des Mittelalters anknüpfen kann. Ich kann die Chancen einer solchen Entwicklung nicht einschätzen – bis heute scheint jedenfalls auch in Europa ein sehr konservativer Islam vorzuherrschen. Wahrscheinlich dauern solche Prozesse einfach relativ lange – das Christentum war 1700 Jahre alt bis die Aufklärung es veränderte.

Darf Religion konservativ sein? – Eindeutig ja: auch ein konservativer Islam und ein fundamentalistisches Christentum fallen unter unseren Begriff der Religionsfreiheit. In Deutschland verstehen wir darunter vor allem „Glaubensfreiheit“. Der englische Begriff „freedom of worship“ stellt eher auf die rituelle Praxis ab. Beides aber gehört zur Religionsfreiheit. Das bedeutet: die Gedanken und der Glauben sind frei – allerdings gilt das gleichermaßen für alle Religionen und auch für Atheisten. An der Grenze zwischen verschiedenen Religionen zeigt sich, dass auch Glaubensfreiheit immer die Freiheit der Ungläubigen einschließen muss.

Der konservative Moslem und der Zeuge Jehovas haben gleichermaßen die Freiheit, diese anderen für Verdammte zu halten, die in der Hölle brennen werden, aber sie haben kein Recht, diesen anderen ihre Freiheit zu beschneiden. Der gläubige Katholik darf Protestanten für Ausgeburten des Teufels halten, der gläubige Protestant kann den Papst für den Antichtist in Person halten (wie es Luther tat). Alle müssen die Kritik und die Ablehnung ihrer jeweiligen Religion ertragen, so wie die anderen den von ihnen abgelehnten islamischen, katholischen oder protestantischen Glauben ertragen müssen. Ich meine, darüber kann Konsens erzielt werden.

Wie aber, wenn der Glauben in praktisches Handeln umgesetzt wird? Menschenopfer kommen nicht infrage, Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit nur in engen Grenzen und mit Zustimmung der Betroffenen oder ihrer rechtlichen Vertreter. Was aber, wenn öffentliche Manifestationen andere beleidigen oder erniedrigen?

Gehört es zur Religionsfreiheit, Frauen in eine Burka zu stecken oder ihr Gesicht zu verschleiern? Viele Menschen in westlichen Ländern sehen darin eine Erniedrigung der Frauen. In vielen islamischen Ländern gab und gibt es keine Tradition der Verschleierung, der Islam kann auch ohne Burka ausgeübt werden. Orthodoxe Juden halten ihren Habit für ein Symbol des Glaubens, aber es gibt ein Judentum, das solche Symbole nicht braucht. Wer aber verfügt darüber, welche Bekleidung dem jeweiligen Gott gefällt und welche nicht?

Darf bei katholischen Prozessionen ein Kreuz auf einem Halbmond stehend mitgeführt werden – als Symbol des Sieges über den Islam? Hier würde ich zwischen der innerreligiösen Praxis und der gegenüber Außenstehenden unterscheiden. Niemand von den Ungläubigen muss sich eine katholische Prozession ansehen, die Sybolik richtet sich an die Mitglieder der Religionsgemeinschaft. Wenn in manchen orthodoxen Synagogen oder in Moscheen Männer und Frauen getrennt beten, dann mag das angehen. Es berührt Dritte nicht.

Wenn aber Druck bis hin zu Psychoterror augeübt wird, um religionskonformes Verhalt en zu erzwingen, dann richtet sich das auch auf das Verhalten nach außen und in der Gesellschaft. Die Anknüpfung an subjektive religiöse Gefühle ist problematisch, aber es gibt nach meiner Ansicht objektive Maßstäbe des zivilisierten Umgangs miteinander, die beispielweise durch demokratische Verfassungen vorgegeben werden: die Achtung der gleichen Würde auch des jeweils Andersgläubigen oder des Atheisten gehört dazu ebenso wie die Beachtung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Verbot der Gewalt auch in der Familie, die Achtung der Freiheit der Andersdenkenden und die Toleranz gegenüber einer sachlichen Kritik auch am Allerheiligsten einer Religion. Die Royinga in Burma haben das Recht, Allah zu verehren und Buddha abzulehnen, solange sie nicht die Buddhisten ihrerseitsan ihrer Religionsausübung hindern.

Ich will hier nicht auf die besonderen Probleme eingehen, die jede einzelne Religion oder Konfession für Andersgläubige mit sich bringt. Aber ich will nicht verschweigen, dass mir der Säkularismus der Französischen Republik eine gute Grundlage für das zivile Zusammenleben bietet. Getrennt glauben, aber gemeinsam leben – das wäre der Grundsatz für den ich Konsens suchen möchte. Das verlangt eine zurückhaltende Praxis der Religionsgemeinschaften.

In Deutschland wird die Ehre einer Religion rechtlich geschützt – allerdings ist nicht mehr von Gotteslästerung die Rede. Ich halte den Schutz inzwischen für nicht mehr ausreichend. Beleidigungen oder antireligiöse Hetzreden in der Öffentlichkeit sollten nicht anders behandelt werden als nicht-religiöse Fälle von Beleidigungen oder Volksverhetzung. Etwas anderes ist die Verletzung religiöser Gefühle in den geschützten Räumen einer religiösen Kultstätte. Hier sehe ich den Staat in der Pflicht, die ungestörte Kultausübung aktiv zu schützen. Den Auftritt der „Pussy Riots“ in der Moskauer Kathedrale habe ich für strafwürdig gehalten – auf der Straße hätte man das als Kunst betrachten dürfen.

Wie steht es mit Karikaturen? Die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung „Jyllands Posten“ haben zu Empörung und Aufruhr in der islamischen Welt geführt – lange nach dem Erscheinen und auf Grund einer eskalierenden Presseberichterstattung. Karikaturen der Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ dienten als Begründung zur Ermordung der Redaktion der Zeitung. Die Zentschrift „Titanic“ hatte den Papst mit einem gelben Fleck auf dem Habit dargestellt, der eindeutig als Urin zu deuten war, eine frühere Karikatur zeigte eine Persiflage einer Kreuzigungsszene von Dürer in Form eines gekreuzigten Feldhasen.

Wenn es nur um Gefühle ginge, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass im aufgeklärten Europa religiöse Symbole kein Tabu für die Satire sind, in anderen Weltgegenden – nicht nur islamisch geprägten – aber durchaus. Die schnelle Verbreitung von Satire und Karikaturen über die modernen Medien führen dann zu einer Erweiterung des Leserkreises, die in ungleichzeitigen Welten leben, in einer, wo Religion tabu ist, in eier anderen, wo Tabubruch zur Satire einfach dazugehört.

Abgesehen davon, dass Gewalt nirgends und unter keinen Umständen eine angemessene Reaktion auf verbale oder darstellende Aktivitäten ist, sollten wir unsere aufgeklärten europäischen Traditionen aktiv verteidigen. Satire darf alles! Unter der einzigen Bedingung, dass Satire auch als solche gekennzeichnet wird. Zu Risiken und Nebenwirkungen durch Jugendschutz und Beleidigungs-Paragraphen lesen sie die Gesetze und Verordnungen.

Als Voraussetzung von Staaten wurde einst ein Territorium, ein Staatsvolk und eine gemeinsame Rechtsordnung, die Staatsverfassung, angesehen. Das Territorium kann ein Nationalstaat sein, kann aber auch mehr oder weniger stark integrierte Imperien umfassen. Das Volk wurde einst oft ethnisch verstanden, obwohl ethnische Homogenität nie Voraussetzung für die Staatsbildung war. Dennoch erleichtert die gleiche Sprache und das Gefühl ethnischer Verbundenheit den „Patriotismus“ als Bindemittel des Staates. Moderne Theoretiker legen mehr Wert auf die in einer Gesellschaft geteilten (historisch oft über lange Zeit gewachsene) Grundwerte, die in eine gemeinsame Rechtsordnung einfließen, die von einem „Verfassungspatriotismus“ getragen wird.

Religionen haben unterschiedliche Wertordnungen. Versuche, daraus eine alle Religionen übergreifendes Welt-Ethos (Küng) zu destillieren, sind bisher eher Theorie als gelebte Praxis. Das Aufeinandertreffen von Gruppen unterschiedlicher Religionen kann die Gemeinsamkeit der Wertordnungen infrage stellen. Bei Zuwanderern entstehen so Konflikte mit der eingesessenen Bevölkerung. Die Diskurse über gemeinsames Handeln, die Habermas fordert, werden dann oft ganz verweigert oder aber scheitern, weil es auch nicht das Minimum eines Grundkonsenses über die unhinterfragten Werte der Lebenswelt gibt. Vorerst jedenfalls gibt es noch keine gemeinsame Lebenswelt. Damit müssen auch Auffassungen, die als selbstverständlich galten, auf den Prüfstand.

Man kann versuchen, eine gemeinsame Lebenswelt durch mehr oder weniger freiwillige Erziehung und auch durch Zwang herzustellen, eine neue Ordnung der unhinterfragten Lebenswelt wird aber allenfalls allmählich entstehen – wenn überhaupt. Bei abrupten Veränderungen entstehen eher Brüche des Grundkonsenses und damit der Grundlagen der Gesellschaft einschließlich der Verfassungsordnung. Es kann dann auch zur Entstehen miteinander nicht kompatibler, parallel existierender Lebenswelten kommen – mit der Gefahr schwerer Konflikte zwischen beiden.

Es gibt viele Beispiele von gesellschaftlichen Umbrüchen durch religiöse Veränderungen. Die vollständige Verwandlung des Römischen Reiches in eine christliche Monarchie ist eines, die Islamisierung Indiens oder Spaniens sind andere Beispiele – in diesen beiden Fällen gab es eine teilweise (Indien durch die Hindus) oder vollständige (Spanien durch die Christen) Reconquista.

Manchmal ist die religiöse Veränderung Folge einer Eroberung. Die bisherigen Eliten werden durch Angehörige der neuen Religion unterworfen und zum Teil in die neuen Eliten kooptiert, so in ganz Amerika nach seiner „Entdeckung“ durch christliche Europäer oder in Nordafrika nach der Eroberung durch arabische Moslems. „Eroberung und Unterwerfung“ sind in unserer geschichtslosen Welt zu vergessenen Kategorien geworden, obwohl sie in der Geschichte sehr häufig vorkommen.

Es ist noch nicht lange her, dass die Nationalsozialisten bei ihren Erorberungen in Europa in solchen Kategorien gedacht und gehandelt haben. Ihre rassistische Ideologie hatte durchaus Züge einer säkularen Religion. Die historische Erinnerung an solche traumatischen Ereignisse ist in manchen Ländern noch sehr lebendig. Gerade wir Deutschen müssen damit sensibel umgehen.

Dürfen Religionen missionieren? – Nicht alle Religionen tun dies – aber ich zweifle nicht, dass jemand, der von der Wahrheit seiner Religion überzeugt ist, auch versuchen darf, andere dafür zu gewinnen. Aber die Mission durch Feuer und Schwert – durch die Lateinamerika katholisch und Nordafrika und der Orient islamisch wurden, ist heute nicht mehr hinnehmbar. Ist das Konsens? Unter Christen wahrscheinlich schon. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das auch die Auffassung aller anderer Religionsgemeinschaften ist.

Ich würde noch weiter gehen und den Konsens dafür suchen, dass der Versuch der Missionierung heute nur noch mit ausdrücklicher Zustimmung der Angesprochenen unternommen werden darf. Das schließt jegliche Ausübung von Druck aus. Selbst die „Belästigung“ durch Sekten an der Haustür halte ich nicht mehr für hinnehmbar. Wenn diese mit einem Stand auf der Straße werben wollen, dann muss das erlaubt sein. Auch muss das Verlassen einer jeden Religionsgemeinschaft ausdrücklich zu den unveräußerlichen Rechten jedes Menschen gezählt werden. Religionen dürfen keine Zwangsgemeinschaften mehr sein. Das ist kein globaler Konsens – aber wir sollten in Europa darauf bestehen und aktiv diejenigen schützen, die ihrer Religion den Rücken kehren.

Wie frei ist ein Mensch, der von seinen Eltern und seinem Umfeld erzogen wird? Es besteht ja kein Zweifel, dass die Erziehung erheblich zum Wertegerüst beiträgt, dass jeder – meistens ein Leben lang – mit sich herumträgt. Dazu gehören Haltungen wie Zustimmung oder Ablehnung bestimmter Verhaltensweisen und nicht nur wertvolle moralische Grundsätze, sondern auch – ja auch: Rassismus, religiöser und politischer Fanatismus. Eltern können zu Toleranz erziehen, aber sie können auch zu Hass disponieren. Das weitere gesellschaftliche Umfeld wirkt vor allem bei religiös geprägten Menschen auch durch die Religion und ihre Autoritäten auf diese Haltungen ein. Wenn ganze Gesellschaften religiös geprägt sind, gehören solche Haltungen oft zur nicht mehr hinterfragten „Lebenswelt“.

Darf Religion erziehen? Ich bin da unschlüssig. Religiöse Eltern dürfen auch ihre Kindern im Sinne ihrer Religion erziehen, aber vielleicht sollte man etwas genauer hinsehen. Dürfen sie zu Hass erziehen? – Der Konsens lautet wahrscheinlich: Nein, das dürfen sie nicht – aber was folgt daraus? Eine staatliche Kontrolle elterlicher Erziehung darf es wohl nicht geben – in sehr extremen Fällen, wo Kinder verhaltensauffällig werden, ist das ein Fall für das Jugendamt. Es ist Sache staatlicher Erziehung in öffentlichen Schulen , einer möglichen häuslichen Erziehung zu Intoleranz und Hass entgegen zu wirken. Religionsfreiheit berechtigt dazu, Unglauben, Atheismus und anderen Glauben für falsch zu halten, nicht aber dazu die Menschen zu hassen, die das anders sehen. Wer seine Kinder in solchem Hass erzieht, sprengt den demokratischen Verfassungskonsens. Dem darf und muss die Schule entgegenwirken. Der staatliche Erziehungsauftrag hat Vorrang vor der Religion der Eltern. Da bin ich mir eines Konsenses allerdings nicht sicher.

Religionen sind in der Regel Gemeinschaften, die ihren Glauben und ihre Praxis kollektiv ausleben. Das bedeutet immer auch, dass sie einen Teil des öffentlichen Raums besetzen. Kirchenglocken mögen manchem Atheisten ein unerträglicher Lärm sein, doch wir haben uns in Europa über Jahrhunderte daran gewöhnt – für viele ist ganz unabhängig vom Glauben das Läuten der Glocken Teil des Heimatgefühls. Der Ruf des Muezzin ist in islamisch geprägten Ländern genauso Teil des Alltags wie das Glockenläuten in christlich geprägten Ländern. Uns Europäern kommt der Ruf vom Minarett hingegen eher fremd und exotisch an (abgesehen von muslimischen Bosniern oder Albanern) und die meisten würden sich in ihrem „Heimatgefühl“ beeinträchtigt fühlen.

Wenn Einwanderer ihr neues Zuhause „heimatlich“ einrichten – wie es eigentlich alle Einwanderer der ersten Generation überall auf der Welt getan haben, dann ent-fremden sie sich zugleich von den schon vorher vorhandenen Bewohnern, deren „Heimatgefühl“ sie möglicherweise stören. Wenn der Einwanderer eine Religion mitbringt, aus der sich stark abweichende Lebensformen ergeben oder die aus religiösen Gründen eine Abgrenzung von der bisher bestehenden Gesellschaft verlangt, dann kann das zu Konflikten führen.

Darf Religion die Abgrenzung der Einwanderer, die zu einer Religionsgemeinschaft gehören, fördern? Auch wenn es unbequem sein mag: ja, sie darf das! – Denn zur Religionsfreiheit gehört auch, dass man die Gemeinschaft mit Angehörigen der eigenen Religion der mit Anhängern anderer Religionen vorzieht. Der Vorwurf der Bildung von „Parallelgesellschaften“ liegt dann allerdings nicht fern. Das Problem ist, wo die Grenze zwischen der Verpflichtung, an der Zivilgesellschaft der neuen Heimat teilzunehmen und dem Recht auf religiöse Absonderung liegt. Manche Religionen haben damit keine Probleme, andere halten es nicht für gut, wenn ihre Anhänger dem Einfluss anderer Religionen und Lebensweisen ausgesetzt werden.

Wenn eine Gesellschaft fürchtet, dass ihr gesellschaftlicher Zusammenhalt durch die Zuwanderung Andersgläubiger zerbrechen könnte, dann muss sie diese Zuwanderung stoppen. Es gibt kein Recht darauf, in eine fremde Gesellschaft aufgenommen zu werden (wohl aber eines, sie zu verlassen). Sobald aber die Zuwanderung erfolgt ist und sich eine andere Religionsgemeinschaft etabliert hat, muss eine Gesellschaft andere – vielleicht ganz neue – Wege zur Sicherung des Zusammenhalts suchen, denn Zuwanderung kann man stoppen, aber Ausreisen zu erzwingen ist nur für einen sehr begrenzten Zeitraum menschenrechtlich vertretbar – nach Konsolidierung der Ansiedlung nicht mehr (praktisch ist das schon weitaus früher kaum mehr durchführbar). Die spanische „Lösung“, „unzuverlässige“ Angehörige anderer Religionen, Muslime wie Juden, des Landes zu verweisen, kann heute niemand ernsthaft in Betracht ziehen.

Es ist nicht Sache des Staates, die religiösen Gemeinschaften zu mehr religiöser Offenheit nach außen zu veranlassen, wohl aber müssen die Staaten jeden Bürger, auch neu zugewanderte darauf verpflichten, an der Zivilgesellschaft teilzunehmen und keine Apartheid gegenüber anderen Mitbürgern zu betreiben. Wo dies nicht von selbst geschieht, darf der Staat eine aktive Begegnungspolitik treiben und gemeinsmes Leben in Schulen und Staat erzwingen. Aus diesem Grunde muss jeder Schüler an allen Veranstaltungen von Schulen, die der Gemeinschaftsbildung dienen, teilnehmen, jeder muss auf die geltende Verfassung verpflichtet werden, und jeder sollte auch neutral über die jeweils anderen Religionen unterrichtet werden. Der gute Grundsatz „getrennt glauben – gemeinsam leben“ bezieht sich auf das, was die staatliche Gemeinschaft zusammenhält. Verfassung und demokratisch legitimierte Gesetze müssen stets beachtet werden – Religion darf das nicht infrage stellen – ist das Konsens?

Alles, was in die Privatsphäre fällt, geht den Staat nichts an. Auch eine „Parallelgesellschaft“ sehr verschiedener privater Lebensweisen ist legitim. Das Kriterium, ob der Staat eingreifen muss ist wiederum die Wirkung nach außen auf alle anderen. Wenn in Parallegesellschaften die Verfassung und die Autorität, auch die Polizei, des Staates nicht respektiert wird, dann muss dieser Respekt notfalls mit Zwang durchgesetzt werden.

Was aber, wenn die Religion eine Gesetzesreligion (wie Judentum oder Islam) ist, die Rechtsregeln enthält, die mit den säkularen staatlichen Gesetze und Verfassungen kollidieren. Was also, wenn es eine vom europäischen Erbrecht abweichende Diskriminierung von Frauen gibt, wenn sich eine parallele Gerichtsbarkeit entwickelt? Ich hatte das ja weiter oben schon erörtert und glaube es ist Konsens, dass im Zweifel die Verfassung gilt.

Im Osmanischen Reich konnten unterhalb der absoluten und willkürlichen Autorität des Sultans verschiedene (nicht alle!) Religionsgemeinschaften ihr eigenes Rechtssystem und für viele Fälle eine eigene Gerichtsbarkeit anwenden, soweit nur ihre jeweiligen Anhänger betroffen waren. Ein solches in Personengruppen geteiltes Recht ist aber unseren säkularen Gesellschaften völlig fremd. Es dürfte ohne die Willkür einer über allen Religionen stehenden Instanz wie den Sultan auch nicht funktionieren. Religion im modernen Europa muss die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die staatlichen Gesetze und die vorhandene Gerichtsbarkeit anerkennen. Das schließt aber eine religiös gefärbte Paralleljustiz aus.

In einer Diktatur kann es heroisch sein, Gott und seinem Gewissen mehr zu gehorchen als dem illegitimen Regime. Die „bekennende Kirche“ unter der nationalsozialistischen Herrschaft zeigte großen Mut, als sie sich dem Regime nicht beugte.

Aber ist die Berufung auf Gott und Gewissen auch in einer Demokratie zulässig? Kann Religion Widerstand gegen demokratisch legitimerte staatliche Regeln leisten? Wie heikel diese Frage ist, zeigt sich am Widerstand der katholischen Kirche und vieler konservativer Katholiken gegen die Fristenregelung für Abtreibungen. Dieses Gesetz ist demokratisch legitimiert, es ist mit deutlicher Mehrheit beschlossen worden. Die politischen Fraktionen gaben die Abstimmung frei, damit jeder seinem Gewissen folgen konnte. Im Ergebnis zählte aber die „Mehrheit der Gewissen“.

In einer Demokratie darf selbstverständlich der Meinungsstreit auch über geltende Gesetzgebung weitergehen. Jeder darf andere Mehrheiten, die seiner Gewissensnot mehr entsprechen, anstreben. Aber niemand darf Gesetze in einer Demokratie einfach brechen, wenn sie ihm nicht passen. Auch der sogenannte „zivile Ungehorsam“ ist in diesem Zusammenhang alles andere als zivil – denn er wendet sich gegen demokratisch legitimerte Gesetze. Das gilt auch für das sogenannte „Kirchenasyl“, wenn dadurch gerichtliche Anordnungen unterlaufen werden.

Das Gewissen ist nicht immer ein religiöses Gewissen. Viele Gewissensregeln werden naturrechtlich begründet. Manche neue Ideologien und Bewegungen haben religiöse Züge. Das Naturrecht steht wiederum einer religiösen Begründung sehr nahe. Religion ist oft die wichtigste Grundlage für den Gewissenskonflikt, der entsteht, wenn religiöse Regeln und säkulare Gesetze kollidieren. Ich halte einen Konsens für wünschenswert, der klarstellt, dass Religion die säkularen Gesetze nicht brechen darf, auch nicht zum Bruch der Gesetze auffordern darf – auch wenn eine Veränderung der Gesetze angestrebt wird. Zugleich bedeutet die Achtung vor dem Gewissen anderer, dass auch religiöse Gewissenskonflikte schonend behandelt werden müssen. Der Vorrang des Staates darf nicht in Prinzipienreiterei enden, sondern muss immer angemessen der Bedeutung der Konfliktlagen durchgesetzt werden. Wo sich niemand beschwert fühlt, soll der Staat schweigen.

Das bezieht sich aber nicht auf den religiösen Alltag. Das Nebeneinander von verschiedenen Religionen im gleichen Staat ist fast überall konfliktträchtig. Darf die traditionelle Religion eines Landes gegenüber neu hinzugekommenen Religionen privilegiert werden? Darf irgendeine Religion den öffentlichen Raum besetzen, auch wenn das andere befremdet? Darf irgendeine Religion öffentlich ihre vermeintliche Überlegenheit demonstrieren – was andere implizit abwertet?

Darf eine Religionsgemeinschaft durch Kleidervorschriften zwischen ehrbaren und nicht ehrbaren Frauen unterscheiden – und damit Andergläubige pauschal als nicht ehrbar kennzeichnen? Wenn die religiösen Symbole mit einem Überlegenheitsanspruch aufgeladen sind oder in der Praxis zur Diskriminierung der „Ungläubigen“ führen, dann stören sie das Zusammenleben. Das wäre auch nicht verfassungskonform.

Die Kultur jeder Gemeinschaft setzt sich aus vielen Elementen zusammen. Im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs gehören dazu die sogenannten „hohen Kulturgüter“ der Musik, der Architektur, der Kunst und der Literatur genauso wie die populäre Kultur der Popmusik, des Sports und der Volksfeste und eben auch die gelehrte hohe Religion und die gelebte Volksreligion. Gemeinsame Sprache, Kultur und auch Religion tragen erheblich zum „Sich-zuhause-fühlen“ bei.

In Deutschland wurde unter „Volk“ lange die ethnische Nation und die Kulturnation verstanden. Das „Deutsche Volk“, das sich das Grundgesetz gegeben hat, versteht sich heute aber eher als durch die gemeinsame Geschichte, gemeinsame Verantwortung auch für die dunklen Seiten unserer Geschichte, und durch Verfassungspatriotismus geeint, als durch ethnische Verwandtschaft. Dieser Begriff des Volkes ist offen für Neubürger – aber sind diese auch offen dafür, Teil des „Volkes“ zu werden? Das erfordert den Verzicht auf eine Abgrenzung durch ethnisch und religiös geprägte Traditionen zugunsten einer Teilnahme am „Verfassungspatriotismus“? Offenheit ist also auch mit der Forderung nach weitgehender Integration verbunden. Religion muss dafür nicht – wie oft gesagt wird – zur „Privatsache“ werden, wohl aber klar von dem öffentlichen Forum getrennt bleiben, wo alle zusammenleben.

Ob der Begriff „Leitkultur“ für die Wohnzimmerausstattung unseres Landes geeignet ist (Bassam Tibi hat diesen Begriff schon geprägt, bevor sich die CDU/CSU ihn zeitweise zueigen machte), weiß ich nicht – aber eines steht fest: die Einwanderer kommen nicht in ein leeres Land, wo Gemeinsamkeit erst aufgebaut werden müsste, Deutschland ist kein fremder Planet, der neu besiedelt wird, auch keine amerikanische Prairie, wo die „Rothäute“ zurückgedrängt wurden: die Menschen hier erwarten, das Einwanderer sie persönlich und ihre Sitten respektieren. Wenn sich Ureinwohner nicht mehr in ihrem Land zuhause fühlen, ist etwas schiefgegangen. Es wird immer auch Anpassungen geben. Manches, was mitgebracht wurde, wird als Bereicherung in die Leitkultur einbezogen, anderes ausgeschieden. Aber der Prozess der Integration ist bis zu einem gewissen Grad auch Assimilation, sonst scheitert er.

Ich will hier nicht weiter über das weite und komplexe Feld der Integration von Zuwanderern sprechen, sondern nur über das, welche Rolle Religionen dabei spielen. Viele ursprünglich religiöse Bräuche sind Teil der Kultur geworden, die auch für nichtreligiöse Menschen zu ihrer Heimat gehört. Weihnachten feiern ist heute kein Ausweis christlichen Glaubens mehr, sondern ein Brauch, der weit über den Kreis der Gläubigen hinausgeht. Gehört es also zu einer gelungenen Integration, wenn Zuwanderer mitfeiern? Oder gebietet die staatliche Neutralität auch die vorhandenen Traditionen zu „neutralisieren“ und den Weihnachtsmann durch den „Väterchen Frost“ zu ersetzen, wie es in Russland unter dem kommunistischen Regime üblich war? Ich halte es für fatal, wenn hier ein Nullsummenspiel gespielt wird: es ist kein guter Weg, wenn einer Gemeinschaft etwas von ihrer Tradition genommen wird, um einer anderen – eingewanderten – Gemeinschaft zu gefallen. Die Einladung zum Mitfeiern halte ich für richtig, die Ablehnung dieser Einladung auch aus religiösen Gründen aber zugleich für völlig legitim.

Darf Religion gebieten oder verbieten, wer bei traditionellen Veranstaltungen mitmachen darf und soll, und wer nicht? Als sich das Christentum im Römischen Reich durchsetzte, war es sehr militant gegen jede Teilnahme an heidnischen kultischen Festen aufgetreten, hat dann allerdings manches, was ursprünglich zur antiken Religion gehörte, für die neue Religion adoptiert. Manches wird man auch heute nicht steuern, sondern der Entwicklung im Zeitablauf überlassen.

Religion kann Hindernisse für die Teilhabe im Staat aufbauen. Wenn die Teilnahme am Schulsport oder Schwimmunterricht verweigert wird, wenn durch Kleidung Unterschiede betont werden, wenn Gleichheitsgrundsätze nicht akzeptiert werden und der Respekt vor Lehrerinnen, Polizistinnen oder Ärztinnen zu wünschen übrig lässt, dann sehe ich religiöse Gemeinschaften in der Pflicht, das aktiv zu bekämpfen und der Gemeinschaft den Vorrang vor religiöser Apartheid zu geben. Wenn bestimmte religiös begründete Praktiken nicht zur Verfassung passen, dann muss auf ihre Änderung hingearbeitet werden. In der Pflicht sind dann vor allem auch religiöse Autoritäten, die ihre Lehren verfassungskonform interpretieren müssen.

Wie steht es aber mit den schriftlichen Lehren der Religionen, vor allem in den „heiligen Büchern“? Die Verdammung der Juden als „Mörder Christi“ hat über viele Jahrhunderte das Verhältnis zwischen Christen und Juden vergiftet. Es war ein wichtiger Schritt, dass diese Verdammung nach dem zweiten vatikanischen Konzil ausdrücklich widerrufen wurde.

Manche Stellen in der Thora, in der Bibel und im Koran klingen verächtlich gegenüber Andersgläubigen, manchmal sogar blutrünstig, manche rufen zu Gewalt gegen Andergläubige auf. Autoritäten der verschiedenen Religionen müssen ihren Anhängern erklären, dass solche Formulierungen nur aus einer bestimmten historischen Situation heraus erklärt werden können und heute jedenfalls in unserem Lande keinerlei Verbindlichkeit für das Handeln der Gläubigen haben.

Verdammungen für das Jenseits liegen auch jenseits des staatlichen Interesses am Zusammenleben. Handlungsanweisungen für das Diesseits müssen sich klar und eindeutig im Rahmen der Verfassungen und Gesetze des säkularen Staates bewegen – und es sollte Pflicht jedes Rabbi, Pastoren oder Imam sein, allen ihren Anhängern deutlich und unmissverständlich zu erklären, dass keine Interpretation gelten darf, die Gesetze verletzt.

Mein Vorschlag wäre, dass diejenigen Religionen, die in Deutschland (oder anderen europäischen Ländern) von Bedeutung sind, ihre Lehren schriftlich und allgemein zugänglich offenlegen und einen Kommentar zu ihren Handlungsanweisungen herausgeben. Damit ausweichende und verschleiernde Stellungnahmen vermieden werden, sollten die Fragen vom Staat und gegebenenfalls auch von den jeweils anderen Religionsgemeinschaften gestellt werden. Die Verbindlichkeit eines solchen Kommentars ist natürlich je nach Religion mehr oder weniger ausgeprägt. Aber es reicht ja aus, wenn Gläubige aller bei uns vorhandenen Religionen wissen, wo unsere Verfassung und unsere Gesetze jeglicher Auffassung der Religionen vorgehen. Das sollte dann auch in allen Schulen so vermittelt werden.

Der Gesetzgeber wäre danach aufgefordert, überall dort, wo Zweifel an der Zulässigkeit religiös begründeter Praxis auftreten, klarere Regeln zu definieren. Das ist besser, als es den Gerichten zu überlassen in einer willkürlichen Kasuistik die Grenzen zwischen Interessen der ganzen Gesellschaft und partikularen Interessen der Religonen abzustecken.

ANHANG

Ein Konsens ist anzustreben, dass:

1. Menschenopfer als kriminell anzusehen und Mord gleichzustellen sind, religiöse Gründe sind damit „niedrigen Beweggründen“ gleichgestellt.

2. Öffentliche Gewaltszenen, z.B. Geißelungen, auch aus religiösen Gründen nicht zulässig sind

3. Organisationen, die überwiegend Geschäfte betreiben, wie Scientology, nicht als Religionen anerkannt werden

4. Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit durch Zustimmung im Interesse einer körperlichen oder auch religiösen Heilung zulässig sind, solange kein dauerhafter körperlicher oder seelischer Schaden droht. Beschneidung von Jungen wird damit toleriert, die von Mädchen nicht.

5. der Gesetzgeber Praktiken, die dauerhaft physische und psychische Traumata durch religiösen Druck erzeugen, verbieten sollte.

6. Religionsgemeinschaften verpflichtet werden sollten, andere Religionen oder Atheisten beleidigende oder bedrohende Lehren gesetzes- und verfassungskonform zu erläutern.