Timothy Snyder
Der Weg in die Unfreiheit
Russland, Europa, Amerika
VON GBOOM · VERÖFFENTLICHT 13. JULI 2022 · AKTUALISIERT 13. JULI 2022
Timothy Snyder
Der Weg in die Unfreiheit - Russland, Europa, Amerika
Der Weg in die Unfreiheit - Russland, Europa, Amerika
– eine kommentierte Lektüre –
Durch den Angriffskrieg Russlands seit dem 24. Februar 2022 auf die Ukraine hat das Buch von Timothy Snyder eine besondere Aktualität gewonnen. Das Buch ist 2018 erschienen, ich lege die erste aktualisierte deutsche Ausgabe von 2019 zugrunde.
Snyder sagt im Vorwort: „Russlands Invasion der Ukraine im Jahr 2014 war ein Test für den Realitätssinn der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten. Viele Europäer und Amerikaner fanden es einfacher, die Propagandaphantome der Russen zu akzeptieren, als die Rechtsordnung zu verteidigen.“ Der Autor möchte die Gegenwart für die Geschichte und die Geschichte für die Politik zurückgewinnen.
„Was in Russland bereits eingetreten ist, geschieht vielleicht auch in Amerika und Europa: die Etablierung massiver Ungleichheit, die Ersetzung von Politik durch Propaganda, der Übergang von der Politik der Unausweichlichkeit zur Politik der Ewigkeit. Das russische Führungspersonal konnte Amerika und Europa in die Ewigkeit einladen, weil Russland zuerst dort angekommen war.
… Auf die Ereignisse der 2010er Jahre waren viele Amerikaner und Europäer nicht vorbereitet: das Aufkommen antidemokratische Politik, die Abwendung Russlands von Europa und die Invasion der Ukraine, dass Brexit-Referendum, die Wahl Trumps.“ – Snyder spricht in aller Klarheit von einer „Invasion der Ukraine“ durch Russland im Jahre 2014 – während die meisten westlichen Regierungen diese Terminologie erst nach der Invasion von 2022 zu verwenden begonnen haben.
Als Politik der Unausweichlichkeit bezeichnet Snyder die faktenresistente Erzählung, vor allem in den USA, vom „Ende der Geschichte“, dass es keine Alternativen gebe, dass man deshalb eigentlich nichts tun müsse. Der Zusammenbruch der Politik der Unausweichlichkeit leitet die Politik der Ewigkeit ein, wo die Nation als immer wiederkehrendes Opfer betrachtet wird. „Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt. … Der Fortschritt weicht zurück und macht den Weg frei für das Verhängnis.“
Als analytische Kategorien überzeugen mich die Begriffe Politik der Unausweichlichkeit und Politik der Ewigkeit nicht. Snyders Buch ist für mich besonders wertvoll, weil es die ideologischen Grundlagen der imperialistischen Wende der russischen Politik analysiert und zugleich aufzeigt, wie Russland antidemokratische Tendenzen auch in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa aktiv fördert. Die Subsumtion unter Snyders zentrale Begriffe ist für den Erkenntniswert seines Buches nicht wesentlich. Die Fakten sprechen für sich.
Vladimir Putin erwählte den Philosophen Ivan Iljin zur ideologischen Leitfigur. Ein adaptierter Faschismus, der der Oligarchie den Boden bereitet, wurde aus der Zeit Iljins in den 1920er und 1930er Jahren auf das heutige Russland übertragen. Drei Merkmale charakterisieren den Faschismus: „er feiert Wille und Gewalt statt Vernunft und Recht, er propagiert einen Führer, der auf geheimnisvolle Weise mit seinem Volk verbunden ist, und er betrachtet die Globalisierung als eine Verschwörung und nicht als ein Konglomerat von Problemen.“ Seine Wiederbelebung macht aus öffentlichen Debatten bloße politische Fiktionen und führt zu Scheindemokratie und einem autoritären Regime.
Meine persönlichen Erfahrungen mit Russland liegen inzwischen viele Jahre zurück. Das sowjetische System habe ich zwischen 1976 und 1980 als Kulturreferent an der damals westdeutschen Botschaft in Moskau erlebt. In den Jahren 1992-1995 habe ich als Leiter der Wirtschaftsabteilung der Botschaft den Umbruch nach dem Ende der Sowjetunion verfolgt. Als Staatssekretär des auswärtigen Amtes war ich von 2005-2008 Mitglied der strategischen Arbeitsgruppe für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland. Als Botschafter in London zwischen 2008 und 2013 hatte ich zumindest noch privilegierten Zugang zu Informationen über die deutsch-russischen Beziehungen und außerdem gute Kontakte zu den russischen Botschaftern in London. Seitdem beschränken sich meine Kenntnisse auf die eines interessierten Lesers von Zeitungen, Zeitschriften und neuen Medien.
Schon 1995 war erkennbar, dass wichtige Teile der russischen Gesellschaft ihre Zukunft in der Vergangenheit sahen. Neo-imperiale Tendenzen zielten auf eine russische Hegemonie im sogenannten „nahen Ausland“ ab. Damals erschien mir noch offen, ob Russland sich eher fortschrittlichen Modernisierern oder reaktionären Imperialisten zuwenden wird. Das Land stand vor der Wahl: Wohlstand oder Imperium – beides zusammen war nicht zu haben. Inzwischen hat sich Russland zu einem kleptokratischen Gangsterstaat entwickelt.
Was mir in diesen Jahren entgangen war, ist die ideologische Grundlegung für die Politik des Putin-Regimes. Weder Ivan Iljin noch Alexander Dugin waren bei mir auf dem Bildschirm. Allerdings gab es schon Mitte der 1990er Jahre national-bolschewistische Demonstrationen in Moskau, bei denen sich die extremistische Linke und Rechtsextremisten zusammenfanden. Im Jahre 1994 hatte ich Vladimir Schirinowski, dem Führer der „Liberaldemokraten“, einen Besuch in seiner Parteizentrale in Moskau abgestattet. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass seine clowneske, rechtsextremistische Position einmal zur Linie der russischen Außenpolitik werden könnte.
Ivan Iljin war 1954 völlig vergessen in der Schweiz gestorben. Im Jahre 2005 hatte der nationalistische Regisseur Nikita Michalkov den Leichnam Ilja Iljins nach Russland überführen lassen, wo Iljin und der anti-bolschewistischen Bürgerkriegs-General Anton Denikin – im Beisein von Präsident Putin – bestattet wurden.
Seit Jahren zitiert Putin regelmäßig Ivan Iljin in seinen Reden. Sein Sprecher Wladislaw Surkow verbreitete Iljins Ideen über moderne Medien. Dimitri Medwedew, der Vorsitzende von Putins Partei und frühere Präsident, empfahl der russischen Jugend Iljin zur Lektüre. Anfang 2014 erhielten alle Mitglieder der Regierungspartei Russlands und alle Angestellten im öffentlichen Dienst vom Kreml eine Auswahl von Iljins politischen Schriften. 2017 sendete das russische Fernsehen zum 100. Jahrestag der bolschewistischen Revolution einen Film, in dem Iljin als moralische Autorität dargestellt wurde.
Die deutschen Medien haben die Bedeutung von Iljin für die ideologische Entwicklung in Russland offenbar nicht erkannt. Mir sind keine Äußerungen deutscher Politiker bekannt, die sich mit den Gefahren auseinandergesetzt hätten, die entstehen, wenn die russische Regierung offen einen faschistischen und imperialistischen Ideologen propagiert. Timothy Snyder wirft dem Westen vor, zu glauben, dass Ideen keine Rolle spielen. Auch in der Berichterstattung an das Auswärtige Amt kam die Analyse von „philosophischen“ Ideen mit Sicherheit zu kurz.
IvanIljin War in seinem Berliner Exil in den 1920ger Jahren von Benito Mussolini und später auch von Adolf Hitler beeindruckt. Ab 1938 lebte Iljin In der Schweiz wo er öffentliche Vorlesungen in deutscher Sprache hielt. Die Kernaussage war, „dass Russland nicht als kommunistische Gefahr der Gegenwart wahrgenommen werden sollte, sondern als christliches Heilsversprechen der Zukunft. Iljin war überzeugt, dass der dekadente Westen dem unschuldigen Russland den Kommunismus aufgebürdet habe. Eines Tages werde Russland sich selbst und auch andere durch den christlichen Faschismus befreien.“
Iljin sah Russland als eine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte. Das Land erlebe ständig wiederholende Zyklen von Bedrohung und Verteidigung. „Alles was geschähe, sei ein Angriff der Außenwelt auf die russische Unschuld oder die angemessene russische Antwort auf eine derartige Bedrohung.“ Die Expansion des russischen Imperiums sei nur „Selbstverteidigung“ gewesen: „Russland war immer Opfer einer Kontinentalblockade Europas.“ Die russische Gesetzlosigkeit erklärte Iljin Zu einer patriotischen Tugend: „Es ist eine Tatsache, dass der Faschismus ein erlösender Exzess patriotischer Willkür ist“.
Nationalismus und Viktimismus, also das Bild von sich selbst als unschuldiges Opfer der bösen Außenwelt, scheinen überall zusammen zu gehören: aktuell in Katalonien, in Serbien, und auch in Russland. In diesem verzerrten Weltbild ist sowohl das Ende der Sowjetunion als auch die großzügige Hilfe des Westens für Russland in den neunziger Jahren nichts anderes als Teil einer Verschwörung zur Vernichtung der russischen Macht. Wer seine eigene Nation einerseits als Opfer und andererseits als berufen zum Imperium ansieht, kann jeden Widerstand gegen die Expansion nur als Unrecht betrachten, gegen das die Nation sich verteidigt.
„Die Macht“, schrieb Iljin, „erwächst dem starken Mann ohne sein Zutun. Er werde aus dem Nichts kommen. Die Russen würden ihren Erlöser erkennen … Der Führer werde recht männlich sein, wie Mussolini.“
Der Führerkult, in kommunistischen Regimen als Personenkult ausgeprägt, kennzeichnet jede Form des Faschismus. Das Posieren Putins mit seinem nackten Oberkörper könnte Mussolini abgeschaut sein. Die rot-braune, national-bolschewistische Bewegung bezieht sich nicht ohne Grund auf das Regime Stalins. Die enge Verwandtschaft der stalinistischen und der faschistischen Terrorregime wurde schon von der Totalitarismustheorie betont. Diese Theorie war mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass die sozialen Ziele des Kommunismus weitaus edler gewesen seien als der menschenverachtende Rassismus der Nationalsozialisten und der gewaltverherrlichende Faschismus Mussolinis. Ich halte diese Zurückweisung für eine Folge der Illusionen vieler westlicher Intellektueller, die das Regime Stalins verehrt oder zumindest schön geredet haben. Für mich war Stalin ein „roter Faschist“.
„Der Faschismus beginnt nicht mit der Analyse, was im Inneren zu tun wäre, sondern reagiert mit der Abwehr dessen, was von außen angeblich droht. Die Außenwelt ist die literarische Quelle, das Material, woraus ein Diktator sein Feindbild konstruiert. Wie sein Vorbild Carl Schmitt, der Rechtstheoretiker der Nationalsozialisten, definierte Iljin Politik als die Kunst, den Feind zu identifizieren und zu neutralisieren. … Der Erlöser habe die Pflicht, Kriege zu führen, und das Recht zu bestimmen, gegen wen. Iljin meinte, Krieg sei gerechtfertigt, wenn die spirituellen Errungenschaften der Nation bedroht sind, was stets der Fall sei, solange der Individualismus nicht gänzlich vernichtet war. … Indem der Erlöser Russlands andere zu Blutvergießen anleitet, werde er die sexuelle Energie ganz Russlands auf sich lenken und ihre Entladung dirigieren.“
Faschismus führt nicht nur zu Krieg, Faschismus will den Krieg. Wer sich, wie Putin, zu Ilja Iljin bekennt, bekennt sich zum Faschismus. Die Begründung Putins für seine Aggression gegen die Ukraine liegt ganz auf der Linie Iljins. Zugleich legte Putin den Westen insgesamt und insbesondere die NATO als Feindbild fest. Während die frühere Sowjetunion sich immer als Friedensmacht darstellte – auch wenn das nicht gerade glaubwürdig war – droht Putin dem Westen ganz offen mit Krieg. Darin liegt die eigentliche Zeitenwende: der Westen muss jetzt zusammenstehen und mit allen Mitteln die Abschreckung gegenüber den russischen Kriegstreibern sichern.
Auf dem Höhepunkt des kalten Krieges war die sowjetische Militärmacht sicher größer als das jetzige russische Potenzial. Dennoch schätze ich die aktuelle Lage für gefährlicher ein als während des kalten Krieges, weil Russland inzwischen von einer faschistischen Ideologie und einem revisionistischen Imperialismus beherrscht wird, während die UdSSR vorwiegend ihren status quo bewahren wollte.
Im Herbst 1992 hatte ich in meiner Moskauer Dienstwohnung eine Reihe russischer Generäle zu Gast. Einer von ihnen hatte als Mitglied des Obersten Sowjet der RSFSR, dem damaligen russischen Parlament, an einem Treffen der Nordatlantischen Versammlung, also einem Treffen der Parlamentarier der NATO-Länder, teilgenommen. Der General war emotional sehr bewegt. Er sagte: „Als Waisenkind bin ich von Anfang an zum Soldaten erzogen worden. Dabei war immer klar dass der Feind im Westen stand, der Feind: das war die NATO. Und jetzt war ich als Freund auf einem Treffen der NATO-Parlamentarier. Ich kann es noch gar nicht glauben!“ Der Weg zurück in die Konfrontation war keineswegs vorgezeichnet.
Snyder versucht die sowjetische Geschichte in sein Schema einzuordnen: der Stalinismus habe das unausweichliche historische Gesetz vom Sieg des Sozialismus vertreten, was alle Opfer und den Terror rechtfertigte. Breschnew habe hingegen in den 1970ger Jahren rückwärtsgewandt den Zweiten Weltkrieg zum Höhepunkt der Sowjetgeschichte erklärt und damit einen Schritt Richtung Politik der Ewigkeit unternommen. Mit diesem Vergangenheitskult wurden die Sowjetbürger bereits auf Iljins Weltanschauung vorbereitet.
Ich halte diesen Schematismus für falsch. Die Geschichte der Sowjetunion lässt sich nicht durch eine solche Einteilung in zwei Phasen erklären. Der Terror Stalins gegen alle führenden Mitglieder der kommunistischen Partei, die eigentlich die Unausweichlichkeit des Sozialismus repräsentierten, hat mit der Vision des Kommunismus wenig, und mit einer faschistischen Diktatur viel zu tun.
Der zweite Weltkrieg war für die Sowjetbürger, und ganz besonders für die Menschen in Weißrussland, der Ukraine, in Leningrad und in Südrussland eine traumatische Erfahrung. Der Sieg von 1945 war deshalb von Anfang an identitätsbildend für die UdSSR. Chruschtschows Entstalinisierung lief im wesentlichen auf eine Rehabilitierung der Terroropfer aus der KPdSU hinaus. Wenn Breschnew Stalins Führung während des Zweiten Weltkriegs wieder stärker hervorhob, dann entsprach das längst der Stimmung in der Bevölkerung.
Die Vision einer blühenden kommunistischen Zukunft verblasste zusehends, weil die Sowjetunion erfolglos blieb. Dennoch wurden die Sowjetbürger zum Glauben an eine sozialistische Gesellschaft erzogen. Mitte der Siebzigerjahre stand am Lenin Prospekt an der Einfahrt in die Stadt Moskau ein großes Plakat mit der Aufschrift: „UdSSR, Vorbild der Welt“
Timothy Snyder sieht die nach 1991 entstandene russische Oligarchie in Kontinuität zur Konzentration der Produktion im Kommunismus: „Die gängige Lehrmeinung der Amerikaner, Märkte würden Institutionen erschaffen, trug zur Katastrophe bei. Institutionen sind im Gegenteil eine notwendige Voraussetzung für funktionierende Märkte“.
Die deutsche Bundesregierung hatte damals den ehemaligen Präsidenten des Bundeskartellamtes, Wolfgang Kartte, als Berater nach Moskau entsandt. Es ging genau um das Thema, dass Snyder hier anspricht: marktwirtschaftliche Reformen scheitern, wenn es keine Institutionen und keinen Rechtsstaat gibt, die den Markt einhegen.
Dann rechnet Snyder mit der russischen Oligarchie ab: „ Im 21. Jahrhundert erwies es sich als praktischer, dem Westen Schuld zuzuweisen als eine Bestandsaufnahme der eigenen politischen Entscheidungen vorzunehmen. Genau jene Personen in der Führung, die in den 2020er Jahren diese Schuldzuweisungen formulierten, hatten dem Volk das Nationalvermögen gestohlen. Diejenigen, die, an der Spitze des Staates stehen, Iljins Ideen proklamierten, waren Nutznießer und keineswegs Opfer des sich entwickelnden Kapitalismus in Russland. Alle, die zu Putins Entourage gehörten, sorgten dafür, dass Rechtsstaatlichkeit in Russland keine Chance hatte, weil sie sich selbst ein Staatsmonopol auf Korruption errichtet hatten und davon profitierten. … Auf Iljins Vorstellungen ließ sich kein russischer Staat begründen, aber sie halfen Dieben, sich als Erlöser aufzuspielen. Sie versetzten eine neue Führung in die Lage, Feinde zu benennen und dadurch fiktive Probleme zu schaffen, die nicht gelöst werden konnten, wie zum Beispiel die niemals endende Feindschaft des dekadenten Westens. Die Vorstellung, Europa und Amerika seien auf ewig Feinde, weil sie Russland seine unverdorbene Kultur neideten, war reine Fiktion, doch sie schufen reale Politik: den Versuch, im Ausland die Errungenschaften zu zerstören, die Russlands Führung im eigenen Land nicht zustande brachte.“
Damit hat Timothy Schneider Putins Russland kurz, knapp und richtig charakterisiert. Die Diebesbande, die Russland heute regiert, ist nicht erst unter Putin entstanden. Zu Beginn gab es im neuen Russland durchaus Ansätze für eine pluralistische Demokratie, Es gab einen Wettbewerb der politischen Ideen, die Pressefreiheit war garantiert. Kriminelle Strukturen hatten sich aber von Anfang an mit Gegnern der Demokratie in Politik und im Sicherheitsapparat verbündet. Schon 1976 gab es Stimmen, die einen „Pinochet“ für Russland forderten, eine Entwicklungsdiktatur ohne politische Freiheit zur Entwicklung des Kapitalismus. Während Russland noch massiv von westlichen Hilfsprogrammen profitierte, versuchten bereits nationalistische Kräfte, diese Programme als Verschwörung gegen Russland zu diskreditieren. Zugleich wurden diese Programme als unzureichend kritisiert.
Die Politik der Fiktionen dient heute dazu die kleptokratische Oligarchie zu stabilisieren. Schon immer ließ sich Nationalismus dadurch mobilisieren, dass Feindbilder gegenüber dem Ausland aufgebaut wurden. Snyders Formulierung, Russlands Führung wolle im Ausland „Errungenschaften“ zerstören, die sie im eigenen Land nicht zustande bringe, ist mir allerdings zu einfach gestrickt. Faschisten würden die freiheitlichen Demokratien kaum als Errungenschaft betrachten. Vielmehr suchen Sie im Ausland Verbündete, die eine andere Gesellschaft nach ihrem Bilde anstreben.
„ Iljin hatte einen anderen Übergang von der Macht der Sowjets zur Eigenständigkeit Russlands vor Augen: eine faschistische Diktatur, den Erhalt des gesamten sowjetischen Territoriums und permanenten Krieg gegen den sündhaften Westen.“
Snyder Konstatiert dass die Demokratie in Russland niemals Fuß fasste, der Machtwechsel war niemals das Ergebnis einer auf freiem Wettbewerb beruhenden Wahl. Dann sagt er: „1993 löste Jelzin das russische Parlament auf und ließ Truppen gegen die Abgeordneten aufmarschieren.“
Ich halte dies für eine völlige Fehlinterpretation der Ereignisse vom September 1993. Nicht anders als im Jahre 1991 handelte es sich um einen Putschversuch von antidemokratischen Kräften. Teile des Parlaments unterstützten diesen, darunter auch Parlamentspräsident Chasbulatov. Die Putschisten versuchten die Studios im Moskauer Fernsehturm mit Waffengewalt zu besetzen. Von den Dächern vieler Häuser in der Moskauer Innenstadt terrorisierten Scharfschützen die Menschen auf der Straße. Die Aufständischen hatten bereits Verhaftungslisten angelegt und planten eine sofortige Einschränkung der Pressefreiheit. Präsident Jelzin befand sich in einer prekären Situation, denn er wusste nicht, ob die von Verteidigungsminister Gratschow nach Moskau gerufenen Truppen sich loyal verhalten würden. Hätten sie nicht das „weiße Haus“ als Sitz der sich verschanzenden Anhänger Chasbulatows beschossen, sondern den Kreml, dann wären Demokratie und die Orientierung nach Westen noch schneller am Ende gewesen.
Nach den Unruhen von 1993 war die alte, sowjetische Verfassung der RSFSR offensichtlich nicht mehr haltbar. Jelzin ließ eine neue Verfassung ausarbeiten, in der er die Stellung des Präsidenten stärkte. Allerdings hat er dabei auch die Gewaltenteilung durch ein Zweikammersystem, bei dem der Duma ein unabhängiger Föderationsrat gegenüberstand, gestärkt. Damit war der Demokratie in Russland zumindest einem Atempause gewährt. Doch die Korruption – auch in Jelzins Familie – machte den kranken Präsidenten erpressbar. Schon 1994 hatte der damalige russische Außenminister Kosyrew auf einer NATO-Konferenz vor den extremen Nationalisten gewarnt – und nur Befremden geerntet.
Die Russische Finanzkrise von 1998 brach Jelzins Reformpolitik endgültig das Genick. Oligarchie und Kriminelle, alte KGB-Kader und neue Kleptokraten formten ein Bündnis, das zur Präsidentschaft Vladimir Putins führte. Es ist kein Zufall dass einer der ersten Schritte Putins hin zur Diktatur die Abschaffung der gewählten regionalen Gouverneure war. Damit kam der Föderationsrat unter die Kontrolle der Regierung.
Timothy Snyder schließt sich denjenigen an, die behaupten, dass die beiden Tschetschenien-Kriege politische Manöver waren, die zuerst im Dezember 1994 von Jelzin und dann im Spätsommer 1999 von Putin aus innenpolitischen Gründen arrangiert worden waren.
Es verwundert mich immer wieder, dass bei der Debatte über die Tschetschenienkriege die Aktionen tschetschenischer Extremisten völlig aus dem Blickfeld geraten sind. Die Geiselnahme in der Schule von Beslan, Bombenanschläge in der Moskauer Metro und Angriffe auf russische Militärposten waren reale Ereignisse. Die damalige tschetschenische Führung hatte die Unabhängigkeit der Republik erklärt und stützte sich auf einen extremen Islamismus als Rechtfertigungs-Ideologie.
Ob die Bombenanschläge unmittelbar vor dem zweiten Tschetschenienkrieg von Putin und FSB-Kräften arrangiert wurden, um Putins Wahl zu fördern, ist bisher nicht bewiesen. Ich traue Putin solche Aktionen ohne weiteres zu. Aber die anderen terroristischen Aktionen der Tschetschenen sind nicht deshalb gerechtfertigt, weil der FSB und Putin möglicherweise die Angst der russischen Bevölkerung vor Terrorismus für ihre Zwecke instrumentalisiert haben.
„Iljin hatte die Gegner seiner Ansichten als `sexuell pervers` beschrieben, womit er Homosexualität meinte. Ein Jahrhundert später war das die erste Reaktion des Kreml auf die demokratische Opposition.“ – Snyder beschreibt, wie Putin die in Russland verbreitete Homophobie zu einer antiwestlichen geopolitischen Theorie aufgeblasen hat: „ Bei einem Besuch in Deutschland erzählte er einer überraschten Angela Merkel, die russische Opposition sei ´sexuell deformiert´. Der russische Außenminister Sergei Lawrow behauptete, die russische Regierung müsse ein Zeichen gegen Homosexualität setzen, um die Unschuld der russischen Gesellschaft zu verteidigen. Vladimir Jakunin, ein Vertrauter Putins, … erklärte in einem langen Artikel im November 2012, Russland habe bis in alle Ewigkeit mit einer feindlichen Verschwörung zu kämpfen, die den Lauf der Geschichte kontrolliere, seit es Geschichte gibt. Diese globale Gruppe habe die Welt mit homosexueller Propaganda überschwemmt, durch Reduktion der Geburtenrate in Russland wolle sie die Macht des Westens aufrechterhalten.“
Die Putin-Ideologie ist ein solches Gemisch von kruden Verschwörungstheorien auf der einen Seite und der bewussten Instrumentalisierung von Ressentiments für politische Zwecke auf der anderen Seite, dass beides kaum auseinanderzuhalten ist. Wenn man erst einmal den Weg der Fiktionen gegangen ist, dann ist damit zu rechnen, dass die Märchenerzähler am Ende selbst an ihre Geschichten glauben.
Schon Iljin meinte, dass der Führer zu bestimmen habe, welcher ausländische Feind am besten dazu dienen könne die Diktatur zu festigen. Das erlaubt es auch, eine Verbindung zwischen Opposition und Verrat herzustellen.
Snyder sagt: „Die Wahl fiel auf den Westen, gerade weil er für Russland keine Bedrohung darstellte, im Unterschied zu China hatte die EU weder eine Armee noch eine lange gemeinsame Grenzlinie mit Russland. Die Vereinigten Staaten hatten eine Armee, aber den größten Teil ihrer Truppen vom europäischen Kontinent abgezogen, von etwa 300.000 im Jahr 1991 auf etwa 60.000 im Jahre 2012. Die NATO gab es sehr wohl, und sie hatte ehemals kommunistische Länder Osteuropas aufgenommen. Aber Präsident Barack Obama hatte 2009 den Plan aufgegeben, ein Raketenabwehrsystem in Osteuropa zu installieren.“
Auch Iwan Iljin war von dem Freund-Feind-Denken Carl Schmitts beeindruckt. Wir erleben heute eine Renaissance von Carl Schmitt – auch in demokratischen Ländern. Sein schonungsloser Realismus wird geschätzt, seine prägnanten Formulierungen finden Anklang, auch wenn sie immer wieder einen Mangel an Substanz verdecken.
Snyder zeigt ein sehr oberflächliches Verständnis für die europäische Union. Auch wenn die EU keine eigene Armee hat, sind doch die meisten Mitgliedsstaaten in der NATO und stellen erhebliche militärische Kontingente in Europa. Die amerikanische Präsenz wurde nach dem Ende des kalten Krieges deutlich reduziert. Vor allem aber haben die europäischen Länder ihr militärisches Potenzial abgebaut, um von der Friedensdividende zu profitieren. Aber die NATO ist nichts ohne die europäischen Verbündeten . Gegenüber einer Atommacht wie Russland ist die NATO allerdings ebenfalls nichts ohne den Atomschirm der USA.
Immer wieder wird behauptet, die NATO habe sich nach Osten ausgedehnt. Tatsächlich hat die NATO nicht SICH ausgedehnt, sondern souveräne Staaten haben sich dem Bündnis angeschlossen. Dahinter stand ein tiefes Misstrauen in Osteuropa und in den baltischen Ländern gegenüber den langfristigen Absichten Russlands. Spätestens seit dem Februar 2022 hat sich dieses Misstrauen als berechtigt herausgestellt. Es war deshalb auch folgerichtig, dass die russische Aggression in der Ukraine dazu führte, dass jetzt auch die bisher neutralen Staaten Schweden und Finnland der NATO beitreten. Das gilt umso mehr, als der russische Präsident Putin diese beiden Länder explizit in seine Druckkulisse einbezogen hatte. Die Planung eines Raketen-Abwehrsystems in Polen ist davon unabhängig zu betrachten. Sie sollte angeblich nicht gegen Russland, sondern gegen nordkoreanische Raketen dienen. Diese Legende war nie glaubwürdig.
Am 15. Dezember 2011 saß Putin mit dem faschistischen Schriftsteller Alexander Prochanow in einem Rundfunkstudio und sinnierte über ein Russland, das dem Terror gegen die sowjetischen Bürger Denkmäler weihen würde, insbesondere der Tscheka und ihrem Gründer Felix Dsershinski . Eine neue FSB-Einheit wurde nach Dsershinski benannt, dem Symbol des revolutionären Terrors.
Auch diese Details waren mir bisher entgangen. Auch hierzu kann ich mich nicht an irgendeine Berichterstattung in den deutschen Medien erinnern. Der Abtransport der Statue Felix Dsershinskis vor der Lubljanka durch einen Liebherr-Kran symbolisierte nach dem Putsch gegen Gorbatschow von 1991 den Sturz der KGB-Macht. Die Benennung einer FSB-Einheit nach Dsershinski symbolisiert ebenso die Rückkehr des Bösen, wie die Wiedereinführung der sowjetischen Hymne. Mit Putin und seiner Entourage ist der KGB wieder an die Macht gekommen.
Iwan Iljin wollte die Traditionen von Rot und Weiß, Kommunisten und Orthodoxen, Terror und Gott versöhnen. Einige von Iljins Zeitgenossen nannten ihn „Gottes Tschekist“. Wie Iljin betrachtet auch Putin Russland nicht als Staat, sondern als spirituellen Zustand. „Die große russische Mission ist es, die Zivilisation zu vereinen und zusammenzuhalten. Ist die Zivilisation der Staat, gibt es keine nationalen Minderheiten und das Prinzip der Identifizierung von ´Freund oder Feind´ ergibt sich aus der gemeinsamen Kultur.“ Für Putin war die Eigenstaatlichkeit der Ukraine damit irrelevant. Russen und Ukrainer sind für ihn untrennbar verbunden. Putin drohte jedem mit Krieg, der das nicht einsehen will: „wir haben über Jahrhunderte zusammengelebt. Gemeinsam haben wir im schrecklichsten aller Kriege triumphiert. Und wir werden weiterhin zusammen leben. Und wer uns trennen will, dem kann ich nur eines sagen: dieser Tag wird niemals kommen.“ Snyder stellt fest: „Als Putin im Januar 2012 diesen Fehdehandschuh hinwarf, nahm der Westen davon keinerlei Notiz.“
Damit war ein Politikwechsel in Russland markiert, der 2014 zur Annexion der Krim und zur Kriegführung im Donbass gegen die Ukraine führte. Viele waren im Februar 2022 überrascht, als Putin entgegen allen früheren vertraglichen Vereinbarungen (wie dem Budapester Protokoll von 1994) der Ukraine ihre Existenzberechtigung absprach. Ich frage mich, ob die Signale, die Snyder hier beschreibt, nicht erkannt wurden oder ob man diese nicht ernst genommen hat.
Die Berufung auf die Kiewer Rus, vor allem die Konversion von Vladimir dem Heiligen zum Christentum im Jahre 988, hat in Russland eine lange Tradition. Für russische Adelsfamilien gehört es zum guten Ton, ihre Genealogie auf die Kiewer Rus zurückzuführen. Die Ukraine wird in diesem Geschichtsbild als „Wiege Russlands“ betrachtet, die unbedingt Teil des Imperiums sein müsse.
Das Bild von Moskau als dem „Dritten Rom“ – „und ein viertes wird es nicht geben“ – diente schon als Rechtfertigung des Machtanspruchs des Zarenreiches. Thron und Altar sind wieder vereint, beide fest im Griff des KGB. Die Gründerstaaten der EU pflegten manchmal das Bild einer Wiederherstellung des Reiches Karls des Großen. Aber an die gewaltsame Eingliederung Frankreichs und Italiens in das Deutsche Reich dachte dabei niemand.
Timothy Snyder betrachtet die Europäische Union als Antwort auf die zentrale Frage des 20.Jahrhunderts: „was kommt nach den Imperien?“ Er behauptet dann: „Die europäischen Großmächte waren niemals Nationalstaaten gewesen. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren sie Imperien, in denen es Staatsbürger und Untertanen gab. Als sie dann ihr Weltreich verloren hatten, schlossen sie sich dem Prozess der europäischen Integration an, indem sie ihre Souveränität mit anderen teilten. Die osteuropäischen Staaten, als Nationalstaaten gegründet, waren in den 1930er und 1940er Jahren untergegangen. Im Jahre 2013 gab es gute Gründe für die Vermutung, dass sich die europäischen Staaten ebenfalls auflösen würden, wenn es kein größeres europäisches System gäbe. „Die kleinen politischen Einheiten, die nach 1918 und 1945 gescheitert waren, konnten nur bestehen bleiben, weil es eine europäische Ordnung gab, die ihre Souveränität unterstützte.“
Diese Aussagen Snyders über die EU halte ich gelinde gesagt für „steile Thesen“. Snyder tut so als würden sich die Existenz von Nationalstaaten, wie sie sich in Europa nach und nach herausgebildet haben, und die Entwicklung imperialistischer Kolonialherrschaft gegenseitig ausschließen. Seine Auffassung wird zudem der Vielfalt der historischen Entwicklungen in Deutschland (Föderalismus), Frankreich (Zentralismus) und Italien (Irredenta) nicht gerecht. Alle drei Länder machten traumatische Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Der Verlust imperialer Macht war das geringste ihrer Probleme. Es ist bezeichnend, dass Großbritannien, das weitaus stärker am Phantomschmerz des verlorenen Imperiums litt, zunächst der EU nicht beitreten wollte.
„Der zweite Weltkrieg lehrte die Europäer, dass man die Wahl hatte zwischen Faschismus und Kommunismus, den Imperien der extremen Rechten oder extremen Linken. Es begann mit einem nicht zu verhindernden Bündnis zwischen den beiden Extremen, dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939.“
In der Zeit zwischen beiden Weltkriegen hatten autoritäre Regime Hochkonjunktur. Eine entscheidende Schwäche der Demokratien war es, dass viele Wähler bereit waren, ihre Stimme denjenigen zu geben, die schnelle und einfache Lösungen für ihre Probleme versprachen, die „den starken Mann“ markierten und bereit waren, die Wähler schamlos zu belügen. Wer intellektuell redlich blieb, wer die Komplexität der Probleme aufzuzeigen versuchte, galt als elitär und arrogant. Wer schmerzliche Reformen und Geduld forderte und den Wählern nicht das Blaue vom Himmel versprach, galt als schwächlicher Demokrat, der Reden statt Taten ablieferte. Viele Diktatoren waren zunächst gewählt worden. Aber auch nicht gewählte Gewaltherrscher verfügten über ein Charisma, dass ihnen weithin Loyalität sicherte.
In seinem zutiefst pessimistischen Roman 1984 schildert George Orwell ein totalitäres Regime, das mit Begriffen wie „rechts“ oder „links“ schon deshalb nicht zu fassen ist, weil alle Begriffe manipuliert und damit willkürlich geworden sind. Stalin und Hitler herrschten durch Terror und Gewalt, beide waren bereit, ihren verschiedenen Ideologien Hekatomben von Menschen aufzuopfern. Beides waren Regime der Lüge und der Manipulation. Und beide wollten ihren Herrschaftsbereich gewaltsam ausdehnen. Unter diesen Umständen ist das Bündnis nicht eines zwischen Extremen, sondern zwischen verwandten Systemen gewesen.
Kommunistische Historiker haben behauptet, Stalin sei das Bündnis mit Hitler nur eingegangen, um Zeit zu gewinnen und sich auf die unvermeidliche Konfrontation vorzubereiten. Es ist richtig, dass beide davon ausgingen, dass eine solche Konfrontation langfristig stattfinden werde. Damit lässt sich aber der auf den sowjetischen Einmarsch folgende stalinistische Terror in Polen und in den baltischen Ländern nicht erklären. Statt Verbündete zu gewinnen, ließ Stalin die polnischen und baltischen Eliten deportieren oder ermorden.
Anders als Snyder meint, war die Lehre für Europa aus dem Zweiten Weltkrieg allerdings nicht, dass man nur die Wahl zwischen Kommunismus und Faschismus habe, sondern im Gegenteil, dass nur starke und wehrhafte Demokratien uns alle vor dem Schrecken des Totalitarismus bewahren konnten. DAS ist der Ursprung der Europäischen Union, und nicht, wie Snyder meint, die Reaktion auf das Ende der Europäischen Imperien. Die kleinen politischen Einheiten, von denen Snyder spricht, waren nur in Osteuropa gescheitert, wo eine demokratische Tradition fehlte.
Die kleinen Staaten Westeuropas, die zu den Gründerstaaten der EU gehörten, waren stolze Nationalstaaten, die keineswegs gescheitert waren. Snyder macht geltend, dass die EU-Länder nie Nationalstaaten waren, sondern direkt nach Ende ihrer Imperien in die europäische Integration eintreten MUSSTEN um zu überleben. Das trifft zu auf Belgien (mit dem Kongo) und die Niederlande (mit Niederländisch-Indien). Beide waren AUCH ehemalige Imperien. Spanien und Portugal behielten einen Teil ihrer Kolonien, bis sie nach dem Ende der autoritären Regime als Demokratien in die EU aufgenommen wurden. Die Rolle Dänemarks in Grönland hat sich in der Nachkriegszeit immer weiter von einem kolonialen Verhältnis hin zur Gleichberechtigung entwickelt. Ob Deutschland nach 1919 noch ein Imperium war, kann man bezweifeln, die Staaten Zwischeneuropas – zwischen Deutschland und Russland waren es jedenfalls nicht.
„Russland, das im Namen Eurasiens das Imperium wiederherstellen wollte, begann mit der Ukraine. … Die EU ähnelte einem Imperium, insofern sie einen großen Wirtschaftsraum aufwies. Sie ähnelte einem Imperium jedoch nicht, weil ihr Organisationsprinzip Gleichheit war, nicht Ungleichheit. Eine imperiale Macht erkennt die politischen Einrichtungen nicht an, die sie in den Territorien antrifft, die sie als ihre Kolonien betrachtet. Deshalb zerstört oder die minimiert sie diese und behauptet, sie hätte nie existiert.“
Nach dem Ende der Sowjetunion war die Reformbereitschaft in Russland weitaus höher als in den übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Ukraine zeigte sich lange resistent gegenüber den notwendigen Reformen – und gefährdete damit genau die Stärke, die sie für ihre Unabhängigkeit brauchte. Als ich 1976 mit dem damaligen russischen Vizeminister für die GUS, Schapovalianz, sprach, machte dieser sich vor allem Sorgen darum, dass sich die früheren Sowjetrepubliken als ein finanzielles Fass ohne Boden herausstellen könnten. Aber er zweifelte nicht daran, dass die GUS-Staaten „irgendwie“ zusammenbleiben würden. Russland hatte damals durchaus die Chance, ein Anziehungspunkt für eine stärkere Integration der ehemaligen Sowjetrepubliken (mit Ausnahme des Baltikums) zu werden.
Wie Snyder richtig erkannt hat, war das Hauptproblem, dass Russland nicht zu einer Gemeinschaft gleichberechtigter unabhängiger Staaten bereit war, sondern davon ausging dass Russland allein die Führung zukam.
In einem ganzseitigen Artikel in der „Nesawisimaja Gazeta“ im Jahre 1995 erläuterten ungenannte russische außenpolitische Experten, dass Weißrussland und die Ukraine wieder eng an Russland angebunden werden müssten, während über die zentralasiatischen Republiken eine indirekte, auf wirtschaftlicher Durchdringung beruhende, Herrschaft Russlands begründet werden sollte. Das imperialistische Projekt deutete sich hier bereits an – fundamental verschieden vom Integrationsprojekt der EU, das auf Gleichberechtigung aller Mitglieder beruht.
Nach dem Ende der Sowjetunion näherte sich die neue Russische Föderation dem Westen an. Russland arbeitete im NATO-Russland-Rat mit und verhandelte über ein Kooperationsabkommen mit der Europäischen Union. Snyder stellt fest, dass sich die russische Führung bis 2012 positiv über die europäische Integration äußerte. Auch der NATO-Beitritt osteuropäischer Staaten wurde nicht von Anfang an kritisiert. Allerdings gab es bereits ab 2007 Irritationen: Putins Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 wurde als Anlauf zu einem neuen kalten Krieg interpretiert, im April 2007 wurde Estland wochenlang durch einen Cyberangriff lahmgelegt. Im August 2008 überschritten russische Panzer die Grenze zu Georgien und besetzten Teile des georgischen Territoriums. Von Anfang an hatte sich Russland durch eine Anzahl sogenannter „eingefrorener Konflikte“ die Möglichkeit offengehalten seine Nachbarstaaten zu destabilisieren.
Ich vermute dass es von Anfang an ein großes Missverständnis gab: Russland wollte in der NATO einen realen Einfluss ausüben; in seinem imperialen Denken ging es davon aus, dass die Europäer maßgeblich unter amerikanischem Einfluss standen. Russland wollte an diesem Einfluss in Europa im Sinne eines Kondominiums mit den Vereinigten Staaten von Amerika teilhaben. Ein substanzielles Kooperationsabkommen mit der EU kam unter anderem deshalb nicht zustande, weil Russland eine Sonderrolle beanspruchte und nicht bereit war, zu den gleichen Bedingungen wie andere ehemalige Sowjetrepubliken mit der EU zu kooperieren.
„In der Tageszeitung Iswestija kündigte Putin am 3. Oktober 2011 das Projekt Eurasien an. Russland werde Staaten zusammenführen, deren EU Mitgliedschaft sich als nicht praktikabel erwiesen habe (und, implizit, in Zukunft die Staaten, die eine zerfallende Europäische Union verlassen würden). … Langfristig werde Eurasien die EU in Form einer größeren ´Union von Europa´ überwinden, erklärte Putin. Ein Raum zwischen Atlantik und Pazifik, ´von Lissabon bis Wladiwostok´. Wer Eurasien nicht beitrete, fördere Separatismus im weitesten Sinne des Wortes.“
Man fragt sich, warum die Ankündigung eines so krassen neoimperialistischen Projektes damals eigentlich keine massive Reaktion in der Europäischen Union hervorgerufen hat.
Die Eurasien Idee war schon in den 1920er Jahren als spezifisch russisches Projekt, Europa zu dominieren und umzuformen, entstanden. Snyder erwähnt den Eurasien-Ideologen Lew Gumiljow, den Sohn der Dichterin Anna Achmatowa. Seine abstrusen Ideen, dass menschliche Gemeinschaften durch kosmische Strahlung entstünden (so sei die russische Nation am 13. September 1380 aus kosmischen Emissionen entstanden), legen es nahe, Gumiljow als notorischen Spinner nicht ernstzunehmen. Wenn aber Putin den Ökonomen Sergei Glasjew zu seinem Eurasien-Berater ernennt, der sich auf Gumiljow und dessen Begriffe bezieht, dann bleibt einem gar nichts anderes übrig als das Phänomen eines solchen „Eurasismus“ als eine Gefahr ernst zu nehmen. „Der Eurasismus der 2010er Jahre war eine krude Mixtur aus russischem Traditionalismus, von Gumiljow weiterentwickelt, und von NS-Ideen, vermittelt durch den jüngeren russischen Faschisten Alexander Dugin, Jahrgang 1962.
Dugin war anfangs von Miguel Serrano beeinflusst, dem Autor von Hitler – der letzte Avatar. In den frühen 1990er Jahren schloss sich Dugin dem französischen Verschwörungstheoretiker Jean Parvulesco an, der ihm vom uralten Konflikt zwischen den Seemenschen (Atlantizisten) und den Landmenschen (Eurasisten) erzählte. Er machte auch die Bekanntschaft mit Alain de Benoist, einem Mitglied der französischen Neofaschisten, die als Nouvelle Droite bekannt wurde. 1993 gründeten Dugin und Eduard Limonow die Nationalbolschewistische Partei Russlands. 1997 forderte Dugin einen Faschismus, der „grenzenlos und rot“ sein müsse. Dugin lehnt übrigens Iwan Ijlin ab: er sei ein minderwertiger Philosoph, der bestenfalls eine technische Funktion in Putins Regime habe.
Extremistische Ideologen wie Dugin spielen nur deshalb eine Rolle, weil sie Einfluss auf Putin haben. Wie weit dieser Einfluss geht, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls verfolgt Putin eine Politik, in der sich Dugins Ideen wiederfinden lassen.
„Lange bevor Putin von Eurasien sprach, zu dem die Ukraine gehören müsse, da sie ein Element der russischen Zivilisation sei, bezeichnete Dugin den unabhängigen ukrainischen Staat als Hindernis für Russlands eurasisches Schicksal. 2005 gründete Dugin eine staatlich unterstützte Jugendbewegung, deren Mitglieder auf Desintegration und Russifizierung der Ukraine drängten. 2009 sah Dugin voraus, dass es eine ´Schlacht um die Krim und die östliche Ukraine´ geben werde. Die Existenz der Ukraine stelle eine ´außerordentliche Gefahr für ganz Eurasien´ dar.“
„Die eurasische Idee wurde zum Zentrum eines neuen Thinktanks, des Isborsk-Klubs. Mitglieder waren unter anderem Dugin, Glasjew und Tichon Schewkunow, der Mönch, den Putin besonders ins Herz geschlossen hatte und der ihn bei Iljins Begräbnis begleitete. Schewkunow war der Urheber der Idee, Putin sei die Reinkarnation von Vladimir dem Heiligen der die Kiewer Rus christianisiert hatte. … Gründer und ideologisch aktivster Mitarbeiter des Klubs war der faschistische Romancier Alexander Prochanow, der den Juden vorwirft, die Weltherrschaft an sich gerissen zu haben und ihre Macht für Böses zu nutzen. … Das einzige Bollwerk gegen die internationale jüdische Verschwörung sei ein russischer Erlöser. … Dieses Erlösungsprojekt werde beginnen, wenn sich Russland, die Ukraine und Weißrussland zusammenschlossen. Es sei die Bestimmung Kiews, sich Moskau zufügen und damit Russlands Eroberung der Welt einzuleiten. „Das erste Imperium entstand hier“, sagte Prochanow, „und Putin hat das zukünftige Imperium bereits verkündet. Es ist die eurasische Union, und die Ukraine könnte einen großartigen Beitrag zu diesem Imperium leisten.“
Sergej Glasjew hat in einem Trakrat behauptet (1999 englische Übersetzung), ein (jüdischer) Geheimbund von Neoliberalen habe Russland in den neunziger Jahren in voller Absicht zerstört. Im September 2013 sagte Glasjew, Russland könne in ukrainisches Territorium einmarschieren, wenn die Ukraine sich nicht Eurasien anschließe.
Man mag das alles für völlig abwegige Weltbilder jenseits jedes gesunden Menschenverstandes halten. Die Rede von Präsident Putin aus Anlass des Einmarsches russischer Truppen in die Ukraine im Februar 2022 hat gezeigt, dass Putin offensichtlich an das zukünftige russische Imperium glaubt. Wenn das so ist, dann muss man davon ausgehen, dass seine Ambitionen nur dadurch begrenzt werden können, dass ihm überlegene militärische Macht und eine glaubwürdige nukleare Abschreckung entgegen gehalten werden. Putin hält den Westen für schwach, der Westen muss zeigen, dass er stark ist.
In einem Manifest zur feierlichen Eröffnung des Isborsk-Klubs am 8. September 2012 heißt es: „Diese Kreisbewegung, der Tod eines Staates und sein Triumph über den Tod, verleiht der russischen Geschichte den Charakter einer Auferstehung, die russische Zivilisation wird unausweichlich von den Toten auferstehen. Das erste Weltreich war das von Kiew-Nowgorod. Das zweite war das der Moskowiter, das dritte Weltreich das der Romanow. Das vierte Weltreich war die Sowjetunion. Der russische Staat von heute hat immer noch den Rang eines Weltreichs. Die Geopolitik des eurasischen Kontinents holt sich nun gewaltsam die Räume zurück, die verloren waren. Dies ist die Legitimation des ´Eurasischen Projekts´, das Putin auf den Weg gebracht hat.“
Diese Ankündigung hat durchaus eine ähnliche Qualität wie die Weltherrschafts-Phantasien, die Adolf Hitler in „Mein Kampf“ – insbesondere im sogenannten „Zweiten Buch“ ausgedrückt hat. Es wäre ein Fehler, dass nicht ernstzunehmen.
Die „Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation“, veröffentlicht am 18. Februar 2013, unterschrieben von Außenminister Sergei Lawrow, eigens bestätigt von Präsident Vladimir Putin, enthielt eine Reihe von Veränderungen, die sich mit der Ideologie Iljins, der Eurasisten und ihrer faschistischen Tradition deckten. Dort wiederholt sich Putins Zukunftsvorstellung von aufreibendem Chaos und Kampf um Ressourcen. „Staaten verlören an Kraft, deshalb würden die Großräume wieder entstehen. In einer solchen Welt gebe es keine ´Oasen´ inmitten ´globaler Turbulenzen´, die Europäische Union sei folglich dem Untergang geweiht. Das Recht werde dem Wettstreit der Zivilisationen weichen. … dieses Konzept stellte klar, dass der Prozess der Verdrängung der EU durch Eurasien 2013 beginnen musste, während die Ukraine mit der EU über die Bedingungen eines Assoziierungsabkommens verhandelte. … langfristig werde Eurasien die EU besiegen und das führe zur Entstehung eines menschenfreundlichen einheitlichen Raums vom Atlantik bis zum pazifischen Ozean.“
Diese Konzeption lässt die Annexion der Krim und die Invasion in der Ostukraine im Jahre 2014 in einem besonders erschreckenden Licht erscheinen: Putin und Lawrow definieren bereits 2013 die EU ganz klar als ihr Feindbild. In dieser Klarheit ist mir das damals nicht aufgegangen, und ich frage mich, ob die zum Minsker Abkommen führende Vermittlungsaktion Deutschlands und Frankreichs die in der russischen Konzeption der Außenpolitik ausgesprochenen Motive Russlands verstanden und berücksichtigt hat.
Snyder stellt die Freundschaft Putins mit europäischen Politikern, wie Gerhard Schröder, Milos Zeman und Silvio Berlusconi in den Zusammenhang der antieuropäischen Politik des russischen Präsidenten. Ein noch größeres Potenzial zur Destabilisierung der EU liegt in der Unterstützung Putins für rechtsgerichtete Politiker wie Nigel Farage – und der Unterstützung des Brexit – und Marine Le Pen. Als größten Coup Putins betrachtet Snyder die von Russland geförderte Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 2016. Auch bei den separatistischen Bestrebungen in Schottland und Katalonien sieht er die Hand Moskaus im Hintergrund.
Jeder dieser Fälle Hat seine Besonderheiten. Alles zusammen fügt sich aber zu dem Gesamtbild, das die russische Führung systematisch versucht, den Westen zu destabilisieren, indem die tatsächlichen und vermeintlichen Schwächen der westlichen Gesellschaften und ihrer politischen Systeme ausgenutzt werden. Zu diesem Zweck wird auch ein Informationskrieg unter Ausnutzung der modernen Medien geführt.
Mit seiner Deutung der ukrainischen Geschichte während der Sowjetzeit verfällt Snyder leider wieder in einen oberflächlichen Schematismus. Er schreibt: „die Geschichte Europas beruht auf Kolonisierung und Entkolonisierung. Stalin verstand das sowjetische Projekt als Selbst-Kolonisierung. Da die Sowjetunion keine überseeischen Besitzungen hatte, musste sie das Landesinnere ausbeuten. Die Ukraine hatte deshalb ihren landwirtschaftlichen Reichtum an die Lenker der zentralen Planwirtschaft des ersten Fünfjahresplans von 1928-1933 abzutreten. Durch die staatliche Lenkung der Landwirtschaft starben zwischen drei und vier Millionen Bewohner der sowjetischen Ukraine den Hungertod. Hitler sah in der Ukraine den fruchtbaren Raum, der Deutschland in eine Weltmacht verwandeln würde. Die Kontrolle über die Schwarzerdeböden der Ukraine war sein Kriegsziel. Infolge der deutschen Besatzung, den 1941 begonnen hatte, wurden mehr als 3 Millionen weitere Bewohner der sowjetischen Ukraine getötet, darunter etwa 1,6 Millionen Juden, die von Deutschland, aber auch von lokalen Polizisten und Milizen ermordet wurden.“
Bei der stalinistischen Kollektivierung der Landwirtschaft ging es nicht um „die staatliche Lenkung der Landwirtschaft“, sondern darum die ukrainischen Bauern in die Kolchosen zu zwingen. Zugleich mussten sie unter Zwang alle Nahrungsmittel bis auf einen völlig unzureichenden Rest abliefern, um die Industrialisierung in Teilen der Sowjetunion zu ermöglichen. Viele Bauern – vor allem aus der Ukraine – wurden in Straflager des GULAG verschleppt. Das Kriegsziel der Nationalsozialisten war nicht einfach „die Kontrolle über die Schwarzerdeböden“, sondern die Dezimierung und Versklavung der gesamten sowjetischen (einschließlich der ukrainischen) Bevölkerung durch die deutsche, „germanische Herrenrasse“.
Der Begriff der Selbstkolonisierung trifft das sowjetische Projekt nicht. Koloniale Verhältnisse bestanden vor allem in den zentralasiatischen Republiken. Allerdings bestand von Anfang an bei den Russen das Gefühl, dass sie für den Rest des Imperiums erhebliche Opfer bringen mussten.
Im Jahre 2004 hatte Victor Janukowitsch zum ersten Mal für das Amt des Präsidenten der Ukraine kandidiert. Der scheidende Präsident Leonid Kutschma und Russland unterstützten seine Kandidatur. Wegen Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung kam es drei Wochen lang zu Protesten auf dem Maidan in Kiew. Nach einem Urteil des Obersten Gerichts und Neuwahlen akzeptierte Janukowitsch seine Niederlage. Danach engagierte er den amerikanischen Politikberater Paul Manafort, um sein Image zu verbessern. Manafort hatte zuvor einen Großauftrag des russischen Oligarchen Oleg Deripaska gehabt. Mit Erfolg: 2010 gewann Janukowitsch die Präsidentschaftswahlen. Sein Regime näherte sich immer mehr einer „gelenkten Demokratie“ nach russischem Vorbild an. Paul Manafort organisierte einige Jahre später den Wahlkampf von Trump.
Am 21. November 2013 erklärte Janukowitsch plötzlich, dass die Ukraine das lange vorbereitete Assoziierungsabkommen der EU nicht unterzeichnen werde. Dem war ein Gespräch mit Putin vorausgegangen. Es kam wieder zu Massenprotesten auf dem Maidan. Die Proteste verschärften sich, als Janukowitsch Gewalt gegen die Demonstranten einsetzen ließ, im Februar kam es zu Toten durch Scharfschützen. Nachdem Blut an den Händen des Präsidenten klebte, war für viele Ukrainer eine Fortsetzung seiner Regierung undenkbar.
„Anfang Februar war Janukowitsch immer noch Präsident, und Washington und Moskau machten sich ihre Gedanken, wie er an der Macht bleiben könnte. Die USA wollten die Bildung einer neuen Regierung unter Janukowitsch unterstützen. Snyder schildert den Maidan als Moment der Revolte, in dem die Zivilgesellschaft, die Kultur des Schenken, der freiwillige Sozialstaat und die Maidan Freundschaft entstanden.
Aus russischer Sicht handelte es sich bei den Ereignissen auf dem Maidan an der Jahreswende 2013/2014 um einen von den USA angezettelte Putsch gegen den gewählten Präsidenten Victor Janukowitsch. Angesichts von Putins Neigung zu Verschwörungstheorien gehe ich davon aus, dass er tatsächlich an diese Legende glaubte. Snyder romantisiert den Maidan als eine revolutionäre Freiheitsbewegung. Eine demokratische Legitimation zum Sturz der Regierung hatten die Demonstranten auf dem Maidan nicht. Deshalb war es auch folgerichtig, dass am 20.Februar eine vermittelnde Mission der Außenminister Steinmeier (Deutschland), Fabius (Frankreich) und Sikorski (Polen) nach Kiew kam, an der auch ein russischer Diplomat teilnahm – und für einen Kompromiss eintrat, bei dem Janukowitsch im Amt blieb. Die Gewalt sollte beendet werden, undemokratische Dekrete zurückgenommen und Neuwahlen noch 2014 angesetzt werden. Doch dazu war es längst zu spät.
Ein weiterer wichtiger Akteur ist der GRU-Oberst Igor Girkin. In den Tagen zwischen den 22. Januar und dem 4. Februar 2014 war er in Kiew und hat möglicherweise an der Planung der Aggression gegen die Ukraine teilgenommen. Er war Aktivist der Anti-Schwulen-Kampagne und bekennender russischer Imperialist. Girkin war der Ansicht, „dass die Ukraine Teil Russlands ist. Ich kann das ukrainische Volk nicht als nicht russisch ansehen.“ Girkin hatte als russischer Freiwilliger auf serbischer Seite in den Jugoslawienkriegen gekämpft, ebenso in Russlands Kriegen in Transnistrien und Tschetschenien. Und noch eine weitere russische Delegation befand sich am 20. Februar in Kiew. Sie stand unter Leitung des Putin-Beraters Wladislaw Surkow, auch der FSB-General Beseda gehörte zu dieser Gruppe. Während die europäischen Außenminister verhandelten, während russische Delegationen im Hintergrund wirkten, erschossen Scharfschützen Dutzende von Menschen auf dem Maidan.
Die Aufrufe der europäischen Minister zum Gewaltverzicht mussten auf dem Maidan zynisch klingen, nachdem die Bereitschaftspolizei scharfe Munition einsetzte und am gleichen Tag über 40 Demonstranten erschossen hatte. Der Widerstand richtete sich jetzt gegen ein Regime, das den Weg der Demokratie längst verlassen hatte – und vor allem gegen das eurasische Projekt Moskaus.
Zu diesem Zeitpunkt war die Aggression Russlands gegen die Ukraine, die in der Annexion der Krim gipfelte und zum jahrelangen Krieg im Donbass führte, längst im Kreml beschlossen worden. Ich vermute sogar, dass die Flucht von Janukowitsch zu den Optionen Moskaus gehörte und zum Zeitpunkt des Besuchs der europäischen Außenminister bereits feststand. Die Hoffnung Janukowitsch auf spätere Rückkehr nach Kiew war wohl von Anfang an müßig, da es Russland vor allem um den Zusammenbruch der Ukraine als unabhängiger Staat ging. So wurden aus meiner Sicht die europäischen Außenminister „über den Tisch gezogen“ und halfen Russland, den Sturz von Janukowitsch als „Putsch“ zu rechtfertigen.
Die Stärke von Snyders Buch liegt in der Zusammenstellung der Fakten und vor allem der Beziehungen zwischen den handelnden Personen in Russland (und später auch in den USA und Europa). Es wäre sicher hochinteressant zu erfahren ob westliche Regierungen und Geheimdienste sich der Bedeutung der Extremisten im Umfeld Putins eigentlich bewusst waren, und ob es Überlegungen gab, wie man solchen Tendenzen entgegentreten könnte. Auch wäre interessant, ob westliche Geheimdienste die Tätigkeit der russischen „Delegationen“ in Kiew in den Tagen des Maidan verfolgt haben.
Snyder beschreibt, wie russische Politiker und Medien die angebliche Dekadenz des Westens am Thema sexueller Perversion – gemeint ist vor allem Homosexualität – festmachen: „Dmitri Kiselew, eine zentrale Figur im russischen Fernsehen, erinnerte seine Zuschauer in der Sendung Westi Nedeli an den Großen Nordischen Krieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts und beschrieb die europäische Union als eine neue gegen Russland gerichtete Allianz. Dieses Mal jedoch, so Kiselews Behauptung, seien die schwedischen, polnischen und litauischen Feinde Krieger im Namen der sexuellen Perversion. Nach der Krim-Annexion bezog sich die russische Propaganda einige Wochen lang auf die Südukraine als „Novorossija“ (Neu-Russland), einer Bezeichnung aus der Zeit Katharinas der Großen.
Im Sommer 2022 gerierte sich Putin zunehmend als Reinkarnation Peters des Großen, des Zaren, der den Nordischen Krieg mit der Schlacht von Poltawa für Russland entschied und damit das moderne russische Imperium begründete. Die gesamte russische Geschichte wird in das imperialistische Projekt Putins eingebunden, so auch die Episoden um Novorossija. Dieser Exzess an Geschichte wird zur Rechtfertigung von Krieg und Gewalt missbraucht.
Als am 24. Februar 2014 russische Sondereinsatzkräfte ohne Hoheitszeichen die Krim besetzten, befahlen die amtierenden ukrainischen Regierungsstellen den ukrainischen Streitkräften, keinen Widerstand zu leisten. Der Westen war sprachlos. Die russische Rockerbande „Nachtwölfe“, die als paramilitärische und propagandistische Arm des Putin Regimes dient, (und die auch schon Motorradkorsos durch Berlin organisiert hatten, so z.B. 2016 und trotz Verbot auch zum 9.Mai 2022) lieferten ein öffentliches Spektakel als sie auf die Krim fuhren. Sie hatten schon seit Jahren Kundgebungen auf der Krim organisiert, 2012 sogar persönlich begleitet von Putin.
Am 1. März 2014 telefonierte Putins Eurasien-Berater Glasjew mit Verbündeten Russlands in den regionalen Hauptstädten der südlichen und südöstlichen Oblaste der Ukraine, um bei der Planung von Staatsstreichen zu helfen. Er befahl, das Krim-Szenario in anderen Regionen der Ukraine zu wiederholen: eine Menschenmenge sollte das Gebäude der regionalen staatlichen Verwaltung stürmen, dann würde eine neue Versammlung gezwungen werden, die Unabhängigkeit zu erklären und um russische Hilfe zu bitten.
Alexander Dugin sagte am 8. März 2014, dass die Ukraine, die es in den letzten 23 Jahren ihrer Geschichte gab, aufgehört hat zu existieren. Dugin war der Ansicht, dass der Krieg zur Abschaffung des ukrainischen Staates ein Krieg gegen die Europäische Union sei: „… Wir müssen Europa erobern und zerstören.“
Ich kann mich gut erinnern, dass schon damals, im Frühjahr 2014, damit gerechnet wurde, dass Russland auch versuchen könnte, einen Landkorridor zur Krim zu besetzen, insbesondere die Stadt Mariupol. Die Ukraine hatte nach der Flucht von Janukowitsch eine geschäftsführende Regierung. Es gab Zweifel, ob die Regierung und die Streitkräfte der Ukraine willens und fähig waren, Russland zu widerstehen. Aber schon 2014 überraschten die Ukrainer den Westen durch ihren Willen zur Selbstbehauptung – nicht nur auf dem Maidan.
Was Alexander Dugin vertrat, war eine neue Variante des Faschismus, die Snyder Schizo-Faschismus nennt: faktische Faschisten nennen ihre Gegner „Faschisten“, schieben den Juden die Schuld am Holocaust zu und behandeln den Zweiten Weltkrieg als ein Argument für mehr Gewalt. Gemäß der russischen „Ewigkeitspolitik“ war Russland unschuldig und daher konnte kein Russe jemals Faschist sein. In der Spätphase der Sowjetunion wurde fast alles als faschistisch bezeichnet was antisowjetische war.
Putins Kriegserklärung an die Ukraine vom 24. Februar 2022 liegt völlig auf der Linie Dugins. Fakten spielen keine Rolle. Diebe rufen: Haltet den Dieb, Korrupte beklagen die Korruption ihrer Gegner, und jetzt erklären offensichtliche Faschisten diejenigen, die sie zum Feind erklärt haben, zu „Faschisten“. Zugleich werden Rechtsextremisten und Rassisten in Europa und in den USA von Russland mit Geld und Cyber-Aktionen unterstützt.
Snyder verschweigt nicht, dass es auch rechtsgerichtete und sogar rechtsextreme Gruppen auf dem Maidan gab. Allerdings haben rechtsextreme Politiker in der ukrainischen Politik und beim ukrainischen Wähler kaum Rückhalt gefunden. Er erwähnt nicht das „Asow-Regiment“, das aus rechtsextremen Kämpfern bestand. Dieses wurde erfolgreich in die ukrainische Armee integriert und hielt in einem aufopfernden Kampf über Wochen das Stahlwerk Mariupol gegen russische Angriffe.
Schon bevor Donald Trump in den Vereinigten Staaten Lügen und „Fake News“ zu einer traurigen Normalität machte, fand Putins Frontalangriff auf die Faktizität statt. Snyder spricht von unglaubhafter Bestreitbarkeit (implausible deniability): „Indem Putin bestritt, was alle Welt wusste, schuf er einigende Fiktionen im eigenen Land und Dilemmata in europäischen und amerikanischen Nachrichtenredaktionen.“
In der Tat verhielten sich die westlichen Medien gegenüber offensichtlichen Lügenkampagnen aus Moskau (und später auch aus Washington) merkwürdig hilflos. Wer sich um „Ausgewogenheit“ zwischen Wahrheit und Lüge bemüht, landet regelmäßig nicht einmal bei Halbwahrheiten sondern fördert die Lüge.
In den Wochen vor der Aggression gegen die Ukraine von 2022 hatte Putin nicht die geringsten Skrupel, dem französischen Präsidenten und dem deutschen Bundeskanzler offen ins Gesicht zu lügen. Außenminister Lawrow fällt mir schon seit einigen Jahren dadurch auf, dass er Lügen für einen wesentlichen Teil seines außenpolitischen Instrumentariums hält.
Doch Lügen waren kein Alleinstellungsmerkmal russischer Politik: die britischen Brexiteers und insbesondere Premierminister Boris Johnson waren notorische Lügner, die die Ausgewogenheit der BBC schamlos ausnutzten. Und die Lügenhaftigkeit von Präsident Donald Trump findet bis heute in den USA Millionen von Bewunderern.
Im Sommer 2014 kam Russlands führender Spezialist für „eingefrorene Konflikte“, Wladimir Antjufejew, als Sicherheitschef zu den Separatisten im Donbass. Zuvor hatte er Karriere in Transnistrien gemacht. Er sieht Russland im Krieg mit „Faschisten“, die mit dem internationalen Freimaurertum verbündet sind. Die Ukraine sei Brennpunkt der weltweiten antirussischen Verschwörung. Daher müsse Russland dort siegen, um die Welt zu verändern: „Die Ukraine ist ein in der Auflösung begriffener Staat. Genau wie die Vereinigten Staaten.“
Die Politik der „eingefrorenen Konflikte“ war ein erster Vorbote des russischen Neoimperialismus. Mit General Lebed hatte Präsident Jelzin schon 1992 einen ausgewiesenen Nationalisten nach Transnistrien im Norden Moldawiens entsandt. Er beendete zwar den militärischen Konflikt, sicherte aber zugleich Russlands Einfluss auf Dauer. In Abchasien und Südossetien suchte Russland sich seinen Einfluss gegenüber Georgien zu sichern, im Streit um Berg-Karabach unterstützte Russland Armenien – tat aber nichts, um den Konflikt zu beenden, so dass Armenien auf Russlands Beistand gegen Aserbeidshan angewiesen blieb. So wurden die Grenzkonflikte in unlösbarer Form offengehalten – und Russland blieb präsent.
In jedem Einzelfall kann man Extremisten wie Antjufejew und die vielen anderen genannten für „Spinner“ halten. Snyder zeigt eindrucksvoll auf, wie ein ganzes Geflecht von Beziehungen um Putin herum entstanden ist, das es rechtfertigt, von einer ideologisch verbohrten neofaschistischen Führungsstruktur zu sprechen.
Es war ein russischer Sieg, der am 5. September 2014 in Minsk zu einem Waffenstillstand führte. Er sah lediglich vor, dass „ausländische Streitkräfte“ abziehen sollten. Moskau bestritt aber die Präsenz russischer Truppen in der Ukraine, brauchte nach dieser Auffassung also nichts zu tun. Schon zum Jahresbeginn 2015 gab es die nächste Offensive russischer Streitkräfte auf ukrainischen Territorium mit dem Angriff auf den Flughafen von Donezk, nach dessen Einnahme die ukrainischen Kriegsgefangenen exekutiert wurden. Am 12. Februar 2015 wurde in Minsk ein zweiter Waffenstillstand vereinbart, doch der russische Angriff wurde fortgesetzt und durch eine massive Cyberoffensive ergänzt.
Bundeskanzlerin Merkel wurde seinerzeit sehr dafür gelobt, dass sie sich gemeinsam mit Frankreich für einen Waffenstillstand stark gemacht hatte. Wenn man sich allerdings den schon damals bestehenden ideologischen Hintergrund der russischen Politik anschaut, dann frage ich mich, ob Merkel nicht ähnlich wie Chamberlain 1938 Illusionen darüber hatte, wie Putin einzuhegen wäre. Für eine robustere Politik gab es damals weder in Europa noch in den Vereinigten Staaten von Amerika den notwendigen politischen Rückhalt. Dennoch wäre spätestens 2015 eine „Zeitenwende“ fällig gewesen, um die Resilienz des Westens zu stärken und um weiteren Aggressionen Russlands deutlicher entgegentreten zu können.
Polen und die baltischen Länder waren aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Russland weitaus skeptischer. Seit in Polen die PiS regierte, bekam die polnische Politik zugleich eine deutlich antideutsche Tendenz. Berlin blieb höflich und zurückhaltend, aber die Bereitschaft polnische Vorbehalte gegen die deutsche Russlandpolitik ernstzunehmen, sank dadurch auf Null. Solange Polen von Deutschland Reparationen für den Zweiten Weltkrieg verlangte, stießen die Bedenken gegen die Northstream-Pipelines auf taube Ohren.
Dennoch hätte eine klare Analyse der deutschen wirtschaftlichen Verwundbarkeit dazu führen müssen, die enge wirtschaftliche Verflechtung mit Russland zumindest dort infrage zu stellen, wo es zu gefährlichen einseitigen Abhängigkeiten kommen konnte. Als ich 2005-2008 Mitglied der deutsch-russischen strategischen Arbeitsgruppe für unsere Wirtschaftsbeziehungen war, ging die Bundesregierung davon aus, dass beide Seiten, Deutschland genauso wie Russland, ein massives Interesse daran hatten, diese Beziehungen störungsfrei weiterzuentwickeln. Die Abhängigkeiten im Energiesektor wurden als gegenseitige Abhängigkeiten verstanden. Deutschland konnte zwar nicht auf russische Energielieferungen verzichten, Russland war aber im Gegenzug auch auf die Einnahmen aus diesen Lieferungen angewiesen. Die deutschen Energiekonzerne gingen davon aus, dass die Reserven in deutschen Gasspeichern länger halten würden, als Russland einen Gas-Stopp finanziell verkraften könne. Das war, wie sich 2022 zeigt, ein krasser Irrtum. Deutschland war gegenüber seiner Energieabhängigkeit weitaus weniger resilient als auch ich angenommen hatte.
Die Abhängigkeit Deutschlands von Russland wurde durch den extremen Neoliberalismus der EU-Wettbewerbs-Kommissarin Neelie Kroes noch verstärkt. Die Oligopole der deutschen Energiekonzerne sollten im Interesse des Wettbewerbs durch „unbundling“ aufgelöst werden. Ich habe das damals (2005-2008) für bedenklich gehalten, weil damit (wie schon zuvor in Italien) die nationalen Oligopole durch ein russisches Monopol von Gazprom ersetzt zu werden drohten. Das ist im Falle der Gasspeicher in Deutschland auch geschehen, für die Gazprom gerne als Käufer auftrat. Im Jahre 2022 haben wir gesehen, dass das keine gute Idee war.
Nach dem Ende der Sowjetunion gab es im Russland eine klare Spaltung zwischen den Wirtschaftsreformen auf der einen und den sogenannten „Silowiki“ aus den Strukturen des Sicherheitsapparates. Letzteren war das Wohlergehen der Bevölkerung gleichgültig, die Wirtschaft interessierte sie nur als Mittel zum Zweck eines Machtzuwachses Russlands. Seit Putin an der Macht ist, regieren die Silowiki und die von ihnen abhängigen Oligarchen. Frühere KGB-Kader und ihre jüngeren Nacheiferer haben sich zur Rechtfertigung ihrer Macht eine faschistische – oder wie Snyder sagt schizo-faschistische Ideologie zurechtgelegt.
Im Jahr 2014 drang Russland in das E-Mail-Netz des Weißen Hauses, des US-Außenministeriums, und der amerikanischen Vereinigten Stabschefs ein. Ebenso gab es Cyberattacken auf den Deutschen Bundestag und deutsche Sicherheitsbehörden. Der Vizepräsident des (später für seine Brexit-Unterstützung notorischen) Unternehmens Cambridge Analytica, Steve Bannon, der spätere Wahlkampfleiter von Donald Trump, ließ Nachrichten über Putin an der Öffentlichkeit Amerikas erproben, um die Wirkung von Manipulationen im Wahlkampf zu studieren. Im Januar 2016 nutzte die russische Regierung eine obskure Nachricht, die sich als Falschmeldung herausstellte, über eine Russlanddeutsche Lisa F., die angeblich von muslimischen Flüchtlingen vergewaltigt worden sei, für eine Desinformationskampagne gegen Deutschland.
Nach 2014 kann das russische Verhalten gegenüber dem Westen und insbesondere auch gegenüber Deutschland nur als feindselig bezeichnet werden. Der Versuch, zu einer „strategischen Partnerschaft“ zu kommen, war gescheitert. Hätte nicht Bundeskanzlerin Merkel damals bereits eine Zeitenwende einleiten müssen? – Doch weder in Deutschland noch in Europa war die Zeit reif dafür. Es war schwierig genug gewesen, die Europäische Union geeint hinter den eher milden Sanktionen zu versammeln.
Die Sanktionen der EU und der Vereinigten Staaten gegen die Invasion in der Ukraine und die Annexion der Krim blieben eher milde. Insgesamt aber brachte die Ukraine-Politik Russland in eine Abhängigkeit von China, ohne die Chinesen zu irgendeiner Gegenleistung zu zwingen.
Inzwischen sind die russisch chinesischen Beziehungen noch enger gestaltet worden. Seit Xi Jingpin in Peking an der Macht ist, ist die chinesische Außenpolitik unprofessioneller und plumper geworden. Xi ist Putins Avancen entgegengekommen. Beide teilen ihre Ressentiments gegen die westlichen Demokratien. Doch Xi sollte sich nicht täuschen: so wie seinerzeit Mao Zedong wird auch er feststellen, dass Russland sich mit der Rolle als Juniorpartner nicht auf Dauer abfinden wird. Um ein Wort von Deng Hsiaoping abzuwandeln: ob chinesisch-kommunistische Katze oder russisch-faschistische Katze – beide werden fett, fangen aber keine Mäuse.
Im Westen gab es vor allem auf der extremen Rechten, aber durchaus auch auf der Linken Personen, die sich willig der russischen Propaganda zur Verfügung stellten. Seumas Milne vom Guardian vertrat 2014 die Auffassung, dass die Proteste in der Ukraine maßgeblich von rechtsextremen Nationalisten und Faschisten ausgegangen seien. Selbst als Putin bereits zugegeben hatte, dass russische Truppen auf der Krim stünden, behauptete Milne weiterhin, die „kleinen grünen Männchen“ seien in ihrer Mehrzahl Ukrainer. Auf Putins Einladung hin leitete Milne 2014 eine Sitzung des Valdai-Klubs. Später wurde er Sprecher von Jeremy Corbyn, als dieser Labour-Vorsitzender war und stützte Corbyn in seiner Ambivalenz gegenüber dem Brexit.
Snyder widmet sich in seinem Buch nur am Rande dem Brexit. Die Sympathien von Nigel Farage für Trump und Putin sind bekannt. Auch der Finanzier der britischen Leave-Kampagne, Arron Banks, hatte Verbindungen nach Moskau. Eine Art rechtsextremistische Internationale scheint Russland, Europa und Amerika für den Weg in die Unfreiheit vorzubereiten.
Das letzte Viertel seines Buches widmet Snyder dem größten außenpolitischen Erfolg von Putins Russland: der Wahl von Donald Trump 2016 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Er stellt dem Kapitel 6 ein Zitat von Alexander Hamilton von 1788 voran: „ nichts ist mehr zu wünschen, als man dass man Kabalen, Intrigen und Korruption jedes nur mögliche Hindernis entgegen zu setzen vermag. Von diesen wohl tödlichsten Feinden der republikanischen Ordnung ist natürlich zu erwarten, dass sie sich nicht nur aus einer Richtung nähern. Hauptsächlich werden sie jedoch wohl dem Wunsch fremder Mächte entspringen, einen unzulässigen Einfluss auf unsere Körperschaft zu erlangen. Wie könnten Sie dies besser erreichen, als indem sie eines ihrer Geschöpfe zum obersten Beamten der Union machten?“
Andrej Kosyrew, der im Exil lebende ehemalige russische Außenminister, erklärte, dass Putin erkannt hatte, dass Trump die amerikanische Demokratie mit Füßen treten und Amerika als Säule der Stabilität und starke Kraft, die ihn im Zaum halten kann, beschädigen, wenn nicht gar zerstören wird.
Kosyrew war bis 1996 russischer Außenminister, aber seine Stellung war zunehmend auch durch Gegenkräfte im russischen Außenministerium selbst geschwächt. Er kannte die zerstörerischen Kräfte in der russischen Politik sehr genau und hat diese auf einer NATO-Konferenz in Oslo seinen westlichen Kollegen drastisch vorgestellt. Er wurde nicht ernstgenommen. Lawrow war damals schon einer seiner Stellvertreter.
Der russische Fernsehmoderator Dimitri Kiselew jubilierte: „ein neuer Stern leuchtet auf – Trump.“ Alexander Dugin postete ein Video mit dem Titel „In Trump we trust“. Alexei Puschkow, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der russischen Staatsduma, hoffte, dass Trump die westliche Lokomotive entgleisen lassen kann. Nach dem Wahlsieg Trumps applaudierte man ihm im russischen Parlament, Trump rief umgehend Putin an, um dessen Glückwünsche entgegenzunehmen.
Die Verbindung von Russland zu Trump bestand schon lange. Russische Gangster benutzten den An- und Verkauf von Apartments im Trump-Tower 1984 zur Geldwäsche. 1987 bezahlten die Sowjets Trump und seiner damaligen Frau einen Besuch in Moskau. Nach dem Zerfall der Sowjetunion residierte ein berüchtigte russische Auftragsmörder, lange vom FBI gesucht, im Trump-Tower. Russen wurden vom FBI verhaftet, weil sie von dem Apartment direkt unter Trumps eigener Wohnung einen Glücksspielring betrieben. Im 1999-2001 gebauten Trump World Tower kauften Personen oder Organisationen aus der ehemaligen Sowjetunion ein Drittel der dort verfügbaren Luxuswohnungen.
Ende der 1990er Jahre galt Trump als bankrott. Die einzige Bank, die ihm noch etwas gab, war die Deutsche Bank. Man vermutet, dass Trump seine Steuererklärungen verheimlichen wollte, weil sie seine Abhängigkeit von russischem Kapital offenbaren würden. Das Ziel des russischen Cyberkriegs war, Trump ins Oval Office zu bringen und den Wahlsieg von Hillary Clinton zu verhindern. Dabei konnte sich Russland auf die Sensationslust des westlichen Publikums und den Drang der Medien nach Enthüllungen bedienen.
Dieser Teil von Snyders Buch ist sicher noch nicht zuende erzählt. Nach und nach kommen weitere Informationen über Donald Trump an die Öffentlichkeit. Doch der Schaden von Trumps Präsidentschaft ist angerichtet: sei es durch Benennung eines Obersten Gerichtshofs, der die amerikanische Demokratie gefährdet, sei es durch das Misstrauen in amerikanische Sicherheitsgarantien, falls wieder einmal Republikaner regieren sollten.
FAZIT
Snyders oberflächlicher Schematismus der alle Phänomene in die Politik der Unausweichlichkeit oder die Politik der Ewigkeit einzuordnen versucht, stört den Gesamteindruck seines Buches nur wenig. Die Sicht Snyders auf die Geschichte zeigt, dass ihm die europäische Geschichte und insbesondere auch die europäische Union innerlich fremd sind.
Der außerordentliche Wert seines Buches liegt in der Analyse der ideologischen Wurzeln des neuen russischen Faschismus, der die autokratische Diktatur Putins rechtfertigt. Die Zusammenstellung der personellen Verflechtung von Putins Entourage mit führenden russischen Rechtsextremisten und Imperialisten zeigt auf, welche Gefahr von diesen Ideologen ausgeht.
Mit einer Vielzahl von Zitaten zeigt Snyder, wie schamlos die russische Kriegspartei inzwischen ihre Fantasien von der Beherrschung Eurasiens von Lissabon bis Wladiwostok ausspricht. Die Eroberung der Ukraine ist für die russischen Extremisten – und dazu gehört auch Putin – ein notwendiger Schritt zur Wiederherstellung des russischen Imperiums.
Der Westen hat gar keine andere Wahl: er ist von Putin und der regierenden russischen Elite zum Feind erklärt worden; jetzt kommt es darauf an, dass die westlichen Demokratien zusammen stehen und sich gegen diese Herausforderung mit allen Mitteln verteidigen. Die Kosten dieser Verteidigung werden alles überschreiten, was wir uns bisher vorstellen – aber die westliche Freiheit ist einen hohen Preis wert.