USA-CHINA
Kissinger über das
Crowe-Memorandum
Kissingers Epilog zu seinem China Buch und das Crowe-Memorandum von 1907
Henry Kissinger hat 2011 ein lesenswertes Buch über China geschrieben, das seine persönlichen Erfahrungen mit der Wende der amerikanischen China-Politik unter Präsident Nixon in allgemeine Bemerkungen zur chinesischen Geschichte und Politik einbettet.
Manche Historiker mögen sich einfach nicht mit der Rolle des "rückwärts gewandten Propheten" (wie Friedrich Schlegel sie nannte) zufriedengeben, der hinterher erklärt, warum es so kommen musste. Manche gefallen sich in der Rolle des vorausschauenen Propheten. Schließlich erwartet die Gesellschaft von einem Wissenschaftler, dass sein oder ihr Wissen zu etwas gut sei. "Was lernen wir daraus?" - ist ja eine legitime Frage.
Den Ausführungen in seinem China-Buch hat Kissinger einen EPILOG hinzugefügt. Dort geht es um die Zukunft der amerikanisch-chinesischen Beziehungen. Kissinger warnt davor, mit der Rivalität zwischen China und den USA so umzugehen, dass eine Eskalation bis hin zum offenen Konflikt von den Propheten für unvermeidlich erklärt wird - und letztlich als self-fulfilling prophecy tatsächlich unvermeidlich wird.
Sehr oft wird das Verhältnis der aufsteigenden Kontinentalmacht China zur absteigenden Seemacht USA mit dem Verhältnis zwischen Deutschland und Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg verglichen. Die Geschichte zeige, dass Staatensysteme ein Kräftegleichgewicht ausbilden, das auf dem Austarieren von Drohpotenzialen beruht. Kissinger fragt sich:
"Kann strategisches Vertrauen ein System strategischer Drohpotenziale ersetzen? Strategisches Vertrauen wird von vielen als Widerspruch in sich betrachtet. Strategen verlassen sich nur in einem begrenzten Ausmaß auf die vermeintlichen Absichten des mutmaßlichen Gegners. Absichten können sich nämlich ändern. Und es ist die Essenz der Souveränität, Entscheidungen zu treffen, die keiner anderen Autorität unterworfen sind. Ein gewisses Drohpotenzial, das sich auf konkrete Fähigkeiten stützt, ist deshalb eine unerlässliche Voraussetzung der Beziehungen souveräner Staaten."
Die transatlantische Gemeinschaft ist ein Beispiel dafür, dass "strategisches Vertrauen" durchaus eine Alternative sein kann. Doch in Asien wird Souveränität absolut gesetzt, der Nationalismus wird zunehmend stärker. Ähnlich wie in Europa Anfang des 20.Jahrhunderts will jedes Land sicher gehen, dass es keine unliebsamen, bedrohlichen Überraschungen erlebt.
Kissinger gibt zu:
"Wenn zwischen den Vereinigten Staaten und China ein strategischer Konflikt ausbrechen sollte, würde in Asien zweifellos eine Situation entstehen, die der europäischen vor dem Ersten Weltkrieg vergleichbar wäre. Es würden Blöcke gebildet, die sich feindlich gegenüberstünden, wobei jeder den anderen zu unterminieren oder zumindest dessen Einfluss und Einflussbereich zu begrenzen versuchte."
Als das China-Buch 2011 erschien, galt es in akademischen Kreisen - nicht nur der "realistischen Schule" - in den USA schon als ausgemacht, dass ein solcher strategischer Konflikt unvermeidlich sei. Spätestens seit der Präsidentschaft von Donald Trump zwischen 2017 und 2021 ist dieser Konflikt offensichtlich, auch unter Präsident Biden wird China als größte strategische Bedrohung der USA wahrgenommen. Wie weit geht unter diesen Umständen die Parallele zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs?
Kissinger untersucht die Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien etwas genauer. Dazu zieht er ein Memorandum heran, das im Jahr 1907 von Eyre Crowe, einem Beamten des britischen Foreign Office (der übrigens eine deutsche Mutter hatte), vorgelegt worden war. Crowe analysiert dort die europäischen politischen Strukturen und den Aufstieg des Deutschen Reiches. Das Papier gibt Hinweise auf einige Schlüsselfragen : "War die Krise, die später zum Ersten Weltkrieg führte, durch den Aufstieg Deutschlands entstanden, weil dieser einen organischen Widerstand gegen das Auftauchen einer neuen und mächtigen Kraft weckte? Oder war sie durch eine spezifische und deshalb vermeidbare deutsche Politik herbeigeführt worden?' Wurde die Krise durch deutsche Fähigkeiten oder deutsches Verhalten ausgelöst?"
Crowe vertrat die Ansicht, dass der Konflikt der Beziehung inhärent sei. Bei aller Sympathie für Deutschland zähle letztlich nur, ob es eine Bedrohung für das englische Weltreich werde. Es spiele keine Rolle, welchen Kurs Deutschland verfolgte, auf jeden Fall sei es für Deutschland nicht anders als für England klug, eine mächtige Flotte zu bauen. Eine deutsche Seeherrschaft wäre aber per se, unabhängig von den deutschen Absichten, eine Bedrohung für Großbritannien und mit dem Bestehen des britischen Weltreiches unvereinbar.
Unter diesen Voraussetzungen waren formelle Zusicherungen der Deutschen sinnlos. Selbst wenn gemäßigte deutsche Staatsmänner ihre Vertrauenswürdigkeit bewiesen, konnte eine moderate deutsche Außenpolitik jederzeit in einen zielgerichteten Plan zur Erringung der Hegemonie übergehen. Schon 1907 sind es also strukturelle Elemente, die eine Zusammenarbeit und sogar Vertrauen ausschlossen. London war gezwungen, das Schlimmste anzunehmen und auf der Grundlage dieser Annahmen zu handeln – zumindest, solange Deutschland eine große und bedrohliche Flotte baute.
Crowe sah keine Spielräume mehr für Diplomatie - sieben Jahre später brach der Weltkrieg aus, der für alle Beteiligten, für die Verlierer ebenso wie für die Sieger, zur Katastrophe wurde.
Kissinger stellt fest: Heute habe eine Art Crowe'sche Denkschule in den USA und auch in China großen Einfluss gewonnen. Ganz unabhängig von Chinas Absichten wird ein erfolgreicher chinesischer Aufstieg als unvereinbar mit der Position der USA im Pazifik und mit ihrer Weltstellung betrachtet. Die bisherige Zusammenarbeit habe China lediglich Spielraum verschafft, seine Fähigkeiten für den letztlich unvermeidlichen Konflikt zu stärken. Amerika müsse sich auf den worst case vorbereiten.
In der amerikanischen Debatte komme zur Analyse des Kräftegleichgewichts noch eine ideologische Komponente hinzu. Neokonservative und andere Aktivisten halten nicht-demokratische Gesellschaften grundsätzlich nicht für vertrauenswürdig, Insbesondere gelte das für Länder, welche die Sicherheit der USA bedrohten. Dann müsste allerdings ein Regimewechsel das Ziel der US-Außenpolitik sein. Ohne einen Wandel der chinesischen Regierungsführung sei Frieden mit China nicht möglich.
Das sieht man in China ganz anders. Das Gleichgewicht in Europa nach dem Westfälischen Frieden beruhte unter anderem auf dem Gebot der Nichteinmischung. Wer einen Regimewechsel in einem anderen souveränen Land anstrebt, zerstört damit die Grundlage des Friedens.
Auch in China gibt es Autoren, die einen Konflikt zwischen den USA und China für unvermeidlich halten. Kissinger verweist auf das Buch „Chinas Traum“ von Oberst Liu Mingfu. Danach sind die chinesisch-amerikanischen Beziehungen von Natur aus konfliktträchtig, gleichgültig, wie sehr China sich einem "friedlichen Aufstieg" verpflichtet fühlt. Die Beziehung zwischen China und den Vereinigten Staaten werde laut Liu ein "Marathonwettbewerb" und das "Duell des Jahrhunderts" werden. Ähnlich wie im Crowe-Memorandum ist die unvermeidliche Rivalität ein Nullsummenspiel; die Alternative zum totalen Erfolg Chinas sei schmähliches Scheitern.
Als Henry Kissinger seinen Epilog zum China-Buch schrieb, wurde eine solche Auffassung nicht von den Regierungen beider Länder unterstützt. Es gab sie aber schon als unterschwellige Botschaft vieler Debatten. Nach der Machtübernahme durch Xi Jinping in China und seit der Wahl von Donald Trump in den USA bereiten sich beide Seiten zunehmend auf den "worst case" vor.
Wer immer damit angefangen hat: heute beherrscht das Crowe'sche Denken zunehmend die chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Längst eskalieren die Spannungen. Kissingers Epilog ist hoch aktuell.
Kissinger wollte sich nicht mit historischen oder theoretischen Zwangsläufigkeiten abfinden. Die historischen Parallelen seien naturgemäß unpräzise. Kissinger drückt es so aus: "selbst die präziseste Analogie zwingt die heutige Generation nicht dazu, die Fehler ihrer Vorfahren zu wiederholen. Schließlich war das damalige Ergebnis eine Katastrophe für alle Beteiligten - für die Sieger wie für die Besiegten." - Aber es werde keine leichte Aufgabe sein, die Analysen beider Seiten nicht zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden zu lassen.
Wie das Crowe-Memorandum gezeigt hat, lässt sich die zugrunde liegende Dynamik nicht einfach durch beschwichtigende Verlautbarungen bremsen. Denn eine Nation, die entschlossen wäre, die Vorherrschaft zu erringen, würde trotzdem ihre friedlichen Absichten beharrlich beteuern. Eine ernsthafte gemeinsame Anstrengung, der die führenden Politiker kontinuierlich Aufmerksamkeit widmen müssten, wäre notwendig, um ein Gefühl echten sicherheitspolitischen Vertrauens und strategischer Zusammenarbeit zu entwickeln. Kissinger nimmt für sich in Anspruch, dass er genau diesen Weg gegenüber China eingeschlagen hat. Der stellvertretende Außenminister Bob Zoellick sprach davon, dass China ein "stakeholder" werden müsse, der politisches Kapital in die internationale Ordnung investiere.
Kissinger meinte 2011: "Die Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten müssen kein Nullsummenspiel sein, und sie sollten es auch nicht werden. Für die politischen Führer in Europa vor dem Ersten Weltkrieg bestand das Problem darin, dass ein Gewinn für die eine Seite einen Verlust für die andere bedeutete und Kompromisse angesichts einer aufgepeitschten öffentlichen Meinung kaum durchsetzbar waren. Dies ist in der chinesisch-amerikanischen Beziehung nicht der Fall. Die zentralen Probleme an der internationalen Front sind ihrem Wesen nach global. Ein Konsens ist vielleicht schwer zu erreichen, aber Konfrontationen aufgrund dieser Probleme sind kontraproduktiv."
Inzwischen hat sich das Denken in Nullsummenspielen verstärkt, die öffentliche Meinung ist vielleicht noch nicht "aufgepeitscht", aber die Bereitschaft, emotionale Botschaften zu senden, ist insbesondere bei den Republikanern, aber auch in China gewachsen.
Kissinger verweist darauf, dass die interne Entwicklung der wichtigsten Akteure mit der Lage vor dem Ersten Weltkrieg nicht vergleichbar sei. Die chinesische Führung wolle vor allem die Erhaltung der nationalen Einheit. Das Ziel der "sozialen Harmonie" solle einen Ausgleich zwischen den modernen Küstenregionen und den rückständigen Regionen im Landesinneren schaffen.
Im Jahre 2011 war die Projektion von Chinas militärischer Macht im südchinesischen Meer noch weniger ausgeprägt, hatte aber schon zu einem Konflikt mit Vietnam geführt. Noch hatte China nicht seine unverbrüchliche Freundschaft mit Russland verkündet, aber es zeichnete sich ab, dass spätestens mit dem Amtsantritt von Präsident Xi das Verhältnis entspannter wurde. Ausgerechnet kurz vor dem Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine kam es zu dem Bekenntnis zur "unverbrüchlichen Freundschaft". Dabei war aber auch klar, dass die chinesische Führung Russland zunehmend als Juniorpartner betrachtete.
Das amerikanische Gegenkonzept im indopazifischen Raum gab es noch nicht. Aber die Chinesen waren zunehmend davon überzeugt, dass die USA alles tun würden, um den unaufhaltsamen Aufstieg Chinas zu verhindern - und mit allen Mitteln zu behindern. Die zunächst akademische - inzwischen aber auch politische Debatte in den USA bestätigt diese Sicht, die ähnlich wie das Crowe-Memorandum von 1907 einen Zusammenstoß für unvermeidlich hält - ganz gleich, wie sich die beiden Kontrahenten verhalten.
Kissinger sucht nach einer besseren Lösung als den unvermeidlichen Zwang, wie in einem chicken game aufeinander zuzurasen und in einer Katastrophe zu enden. Er hofft, dass die chinesisch-amerikanische Beziehungen zwar keine Partnerschaft, aber doch eine "Ko-Evolution" im Rahmen einer "pazifischen Gemeinschaft" werden könnten. Eine Katastrophe für unvermeidlich zu halten, ist für Kissinger eine Kapitulation der Politik. Das Tragische an so einer Entwicklung ist, dass es ausreicht, wenn nur einer von beiden in Crowe'schen Kategorien denkt - für den anderen ergibt sich die reziproke Reaktion dann aus der Mechanik des Systems.
Kissinger sagt dann:
"Diese bedeutet, dass beide Mächte ihren innenpolitischen Anforderungen Beachtung schenken, dabei umfassend kooperieren und ihre Beziehungen so abstimmen, dass möglichst wenig Konflikte entstehen. Keiner von beiden Staaten unterstützt alle Ziele, die der andere verfolgt, oder geht von einer totalen Interessengleichheit aus, aber beide Seiten versuchen, komplementäre Interessen zu identifizieren und zu entwickeln. Die Vereinigten Staaten und China schulden es ihren Bürgern und dem Wohl der Welt, diesen Versuch zu machen. Beide Mächte sind zu groß, um von der jeweils anderen beherrscht zu werden. Deshalb ist keine von beiden in der Lage, die Voraussetzungen für einen Sieg in einem heißen oder kalten Krieg zu klären. Beide müssten sich selbst die Frage stellen, die zur Zeit des Crowe-Memorandums nie formell gestellt wurde: Wohin würde ein Konflikt uns führen? War es ein Mangel an Vorstellungskraft aller Beteiligten, der 1914 die Austarierung des Kräftegleichgewichts in einen mechanischen Prozess verwandelte, bei dem aus dem Blick geriet, was mit der Welt geschehen würde, wenn die lavierenden Kolosse einen Fehler machten und kollidierten? Welcher Politiker, der damals das internationale System managte, das in den Ersten Weltkrieg führte, wäre nicht entsetzt zurückgeschreckt, wenn er geahnt hätte, wie die Welt nach dem Krieg aussehen würde?"
Kurz vor seinem Tode hat Kissinger ein letztes Mal Peking besucht und dort mit den führenden Persönlichkeiten gesprochen. Ich bin sicher, dass er noch einmal versucht hat, für eine Entwicklung in Richtung auf so eine Ko-Evolution zu werben.