Vom Umgang mit Räubern

Staaten, Kriminalität und Korruption

VERÖFFENTLICHT 28. NOVEMBER 2019
(also noch vor dem russischen Angriff gegen die Ukraine von 2022)

Staaten , Kriminalität und Korruption

Der Vergleich des Kirchenvaters Augustinus zwischen Staaten und Räuberbanden wird oft zitiert:
„Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande“ -Augustinus von Hippo, De civitate dei, IV, 4, Übers.: Papst Benedikt XVI, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011. (Original lateinisch: „Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?“)

Auch wenn sie mit staatlicher Legitimation ausgestattet sind, bleiben uns die Räuber erhalten. Wenn wir uns heute auf der Welt umschauen, ist Korruption allgegenwärtig. Sie geht von Menschen aus, die eigentlich den anderen dienen sollen – von Dienstleistern, Beamten und Angestellten des Staates, von gewählten und ungewählten regierenden Gewalten der Exekutive, Legislative und der Justiz. Sie bereichern sich auf Kosten derer, denen sie eigentlich verpflichtet sind.

Die Übergänge zwischen Korruption im Staat und Korruption des Staates sind fließend. Der Staat stattet seine Funktionsträger mit einem gewissen Maß an Entscheidungsbefugnissen aus. In den höchsten Ämtern sind diese so weitgehend, dass Macht ausgeübt wird. Diese Macht ist Regeln unterworfen. Im demokratischen Staat wird Macht kontrolliert und begrenzt, leider nicht immer erfolgreich. Legitime Macht hat begrenzte Zwecke und darf nur dafür ausgeübt werden.

Korruption und organisierte Kriminalität stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Was kriminell ist, wird im Strafgesetzbuch festgelegt – manches, was früher als kriminell galt, ist es heute nicht mehr, dafür kommen immer wieder neue, früher unbekannte Tatbestände hinzu. Dennoch: der Kern dessen, was als ungesetzlich und kriminell gilt, ist seit alten Zeiten kaum umstritten. Kriminalität kann sehr innovativ sein. Auch in Rechtsstaaten existiert häufig ein krimineller Sektor, der wie eine Krake in die reguläre Verwaltung hineingreift. Organisierte Kriminalität sorgt für eine betriebswirtschaftlich effiziente Führung krimineller Unternehmungen. Korruption sorgt dafür, dass kriminelle Aktivitäten störungsfrei ablaufen können.

Wenn Korruption und organisierte Kriminalität von den höchsten Stellen im Staat ausgeht oder gedeckt wird, dann bleibt der Bürger hilflos zurück. Wenn der Staat hilflos ist und kriminellen Strukturen Impunität gewährt, ist es für den Bürger auch nicht besser. Während die einzelnen Verbrechen öffentlich sichtbar werden, bleiben die dahinter stehenden Strukturen oft unsichtbar. Manchmal aber kommt der ganze Dreck an die Oberfläche, wenn mutige Staatsanwälte, risikobereite Whistleblower oder eine investigative Presse diese Strukturen aufdecken.

Die „mani puliti“ in Italien haben das politische System erschüttert, das mafianahe Politiker wie Craxi oder Andreotti förderte, und wo die Loge Propaganda 2 einen Putsch vorbereiten konnte. Doch die Wirkung der Aufklärer verpuffte, als mit Berlusconi jemand nach oben kam, der keinen Respekt vor dem Rechtsstaat hatte und die Öffentlichkeit lange Zeit erfolgreich manipulierte.

Dort, wo der Staat selbst zum Mafia-Staat geworden ist, legt das organisierte Verbrechen sogar Wert darauf, dass alle wissen, dass man sich mit dieser Macht besser nicht anlegt. Es handelt sich dann um eine Art krimineller Terror-Herrschaft. Wer diese infrage stellt, wird abgemahnt, bestraft und am Ende umgebracht. Der Übergang von staatlichem Terror der Sowjetzeit zu privatem Terror im neuen Russland ist von erheblicher personeller Kontinuität gekennzeichnet. Alte KGB-Kader teilen sich kriminelle Unternehmen und die Macht im Staate. Was früher ideologisch bemäntelt wurde, ist heute einfach nur krasse Räuberei mit etwas pseudodemokratischem Zuckerguss

Rumänien, Bulgarien und Kroatien sind weitere EU-Staaten, die unter Beobachtung stehen, weil manche kriminelle Strukturen offenbar noch nicht unter Kontrolle sind. Der restliche Westbalkan ist ein beliebtes Spielfeld krimineller Banden, manche davon regieren selbst, andere bewegen sich ungestört in ganz Europa.

Anders als totalitäre Regime nehmen die kriminellen Strukturen nicht jeden Bürger ins Visier. Es gibt sogar Gedankenfreiheit, solange niemand an der kriminellen Macht rührt oder deren Aktivitäten in die Quere kommt. Wer wirtschaftlich aktiv wird, wird allerdings entweder von der organisierten Kriminalität „besteuert“ oder ausgeraubt. Schutzgelderpressung, illegale Geschäfte, Gewinnabschöpfung oder Betrug, alles das wirkt wie eine Steuer – mit dem Unterschied, dass in einem Rechtsstaat sogar konfiskatorische Steuern irgendwie der Allgemeinheit zugute kommen sollten, während die Kriminalitäts-Abgaben nur zur Bereicherung der Paten der neuen Mafia und der Bezahlung seiner Schergen dienen.

Staatlichen Strukturen werden korrumpiert, damit die organisierte Kriminalität frei arbeiten kann. Anfangs mag der Beamte auf dem Bauamt, der mafiöse Projekte genehmigt, noch auf eigene Rechnung gearbeitet haben, der schlecht bezahlte Polizist mag einfach nur sein Salär aufgebessert haben. Aber mit der Zeit werden auch diese zu Scheinselbständigen, die der OK zuarbeiten müssen, sei es freiwillig, sei es durch Erpressung.

Der Schaden ist nicht nur ein Raub am Bürger, sondern vor allem auch eine Bremse für jegliche positive wirtschaftliche Entwicklung und die Zukunftsperspektiven der betroffenen Länder. Wenn die Krake Korruption allgegenwärtig wird, wenn reguläre Geschäfte dadurch verdrängt werden, dann wird aus der Korruption im Staate allmählich die Korruption des Staates.

Souveräne Staaten und souveräne Räuberbanden

Staaten sind nach wie vor souverän. Auch korrupte und kriminelle Strukturen, auch Räuberbanden, sind souverän, wenn sie einmal staatliche Qualität haben. Insofern ist Augustinus nach wie vor sehr aktuell. Staaten, die wenig mehr als organisierte Räuberbanden sind, gibt es auf der Welt leider ziemlich viele. Als Staaten haben die kriminellen Strukturen nichts mehr über sich, was sie einschränken könnte. In solchen Staaten pendelt sich allenfalls ein gewisses Mass an Checks and Balances zwischen konkurrierenden Räuberbanden ein. 

In den Vereinten Nationen gelten alle Staaten als gleich, auch wenn die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates etwas gleicher sind als alle anderen. Vor allem sind brave und kriminelle Länder ausdrücklich gleichgestellt. Es gilt das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten – aufgeweicht nur in Fällen von Genozid oder schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Staat, der nur durch und durch korrupt ist, im Übrigen aber die internationalen Regeln leidlich befolgt, ist einfach nur souverän.

Zwischen Staaten sind die Beziehungen diplomatisch. Wie aber geht man „diplomatisch“ mit Räuberbanden um? Staaten spielen ihre Rolle im internationalen System, sie verfügen theoretisch und meistens auch praktisch über ein Gewaltmonopol innerhalb ihrer Territorien, sie haben Armeen und Geheimdienste, die ihre Macht nach außen projizieren. Als Teil der „internationalen Gemeinschaft“ sind die Staaten ein Ordnungsfaktor. 

Überall dort, wo Staatsversagen ein Machtvakuum hinterlässt, wo Gebiete unter Krieg und Bürgerkrieg leiden, entstehen staatsähnliche Strukturen, die eine rudimentäre Ordnung sichern - was am Anfang noch wie eine Räuberbande aussieht, bekommt nach und nach die Weihe einer Widerstandsbewegung, und am Ende vielleicht souveräner Staatlichkeit. 

Internationale Zusammenarbeit in Bündnissen und darüber hinaus ist notwendig, um Krisen zu bewältigen. Die souveränen Räuberbanden sind daran beteiligt, viele von ihnen sind unsere Partner, manche sogar Bündnispartner. Ob es uns passt oder nicht, auf manche von ihnen sind wir sogar angewiesen, weil unsere Sicherheit oder das wirtschaftliche Wohlergehen von ihnen abhängen.

Es kommt vor, dass eine der Räuberbanden gerade einen Raubzug führt und zugleich als Partner zur Lösung einer Krise gebraucht wird. Russland hat die Krim geraubt und organisiert die kriminellen Strukturen der Separatisten in der Ostukraine. Zugleich geriert sich Russland als Ordnungsfaktor in Syrien - wenn der Westen nicht eingreifen will, wird Russland bestimmen, wer Syrien in Zukunft regiert.

Westliche Firmen in Russland mussten ständig auf der Hut sein, nicht zum Opfer mafiöser Angriffe zu werden, aber wir brauchten russisches Gas und wir wollten den russischen Markt nicht verlieren. Der chinesische Markt ist für uns noch viel wichtiger – auch wenn der Raub geistigen Eigentums und von Technologien offenbar weit verbreitet und von oben geduldet ist. Solange jemand seinen privaten Angelegenheiten nachgeht, arm bleibt und sich nicht mit Staat und Mafia anlegt, kann dieser jemand in der "lupenreinen russischen Demokratie“ überleben – mit Abstrichen. Aber wehe, wenn jemand die korrupten Strukturen herausfordert. Dann ist alles, bis zum politischen Mord möglich. Nawalny weiß davon zu erzählen.

Wir müssen die diplomatischen Beziehungen zu Russland pflegen – sie sind sogar sehr wichtig für uns. Eine Verständigung mit Russland ist für den Frieden in Europa vital. Müssen wir also die Augen vor dem Mafiastaat verschließen? Müssen wir ganz „diplomatisch“ um den heißen Brei herumreden, um die Räuberbande nicht zu reizen? 

Wir fühlen uns verpflichtet, armen Ländern in Afrika zu helfen – es liegt sogar in unserem eigenen Interesse, weil Instabilität sich auf uns negativ auswirken kann. Die Räuber kontrollieren den Zugang zu allen anderen, wenn wir den Räubern in diesen Weltregionen nicht etwas abgeben, dann dürfen wir oft auch den Armen nicht helfen.

Hier geht es nicht um die immer wieder diskutierte – auch sehr wichtige – Frage, ob Handel unabhängig von Verletzungen der Menschenrechte betrieben werden soll. Manche korrupten Regierenden verletzen auch Menschenrechte – hier geht es aber „nur“ um den Umgang mit souveränen Räubern, auf die wir angewiesen sind, die wir auch nicht kontrollieren können.

Was tun in Ländern außerhalb der EU?

Zunächst möchte ich diese Frage nur für Länder untersuchen, die nicht zur Europäischen Union gehören, denn an die europäische Wertegemeinschaft stelle ich andere, höhere Ansprüche, auf die ich später zurückkommen möchte.

George W. Bush sprach von „Schurkenstaaten“ und meinte vor allem Nordkorea, Iran und den Irak unter Saddam Hussein damit, nachdem den Schurken im Taliban-Staat Afghanistan schon eine Lektion erteilt worden war. Ich kann ihm ja nur zustimmen: alle genannten Staaten werden – nach wie vor – von Schurken regiert – nur ist die Aufzählung nicht erschöpfend. 

Aus den USA stammt die Unterscheidung (sie wird Theodore Roosevelt zugeschrieben) zwischen „unseren Schurken“ und den anderen Schurken. Auch hier liegt das Dilemma zugrunde: wie gehe ich mit Räubern um, wenn sie die staatlichen Weihen haben? Was sollen wir tun, wenn wir zwischen Pest und Cholera wählen müssen, wenn der eine Schurke unsere geopolitischen und ökonomischen Interessen achtet und der andere nicht. Sollen wir unser Verhalten ausschließlich danach ausrichten, ob die Räuber nur ihre eigene Bevölkerung oder auch uns und unsere Freunde ausrauben?

Ob nun handfeste Beweise vorliegen oder nicht – zu viel Vertrauen in Regierungen und staatliche Gewalten ist in vielen Ländern unangebracht. Am einfachsten wäre es, nicht vertrauenswürdigen, vermutlich korrupten „Partnern“ aus dem Wege zu gehen. In der Mehrzahl der Länder einschließlich in einer Minderheit von EU-Ländern werden wir aber den Umgang mit Räubern in den meisten Fällen nicht vermeiden können. Knigges „Über den Umgang mit Menschen“ braucht hier eine Ergänzung „Über den Umgang mit Räubern“.

Wenn es sich um souveräne Räuber handelt, ist der Umgang mit ihnen Sache der Diplomaten. Das zeigt einmal mehr, dass Diplomatie nicht mit einem Liebes- oder auch nur Freundschaftsverhältnis verwechselt werden darf. Es ist richtig, dass Staaten keine Freunde, sondern nur Interessen kennen – aber das ist mir zu abstrakt: Politisch Handelnde können durchaus Freunde sein oder sich zumindest wie vertrauenswürdige Partner benehmen – und aus meiner Sicht sollte solches Verhalten ausdrücklich honoriert werden. Diplomatie ist aber ein durch und durch pragmatisches Geschäft. Wenn man erst einmal den Räuber im Partner entdeckt hat (manche sind immer noch überrascht!), dann erspart uns das nicht den Umgang mit den Räubern, aber es erfordert entsprechende Regeln und Verhaltensweisen.

Ein vorsichtiger Kaufmann verlangt Vorkasse, wenn er der Zahlungsfähigkeit eines Kunden nicht traut. Bei Vereinbarungen mit Räubern wird Vorkasse oder zumindest eine Zug-um-Zug-Abwicklung aller Vereinbarungen wichtig sein. Naivität ist ebensowenig angebracht wie vorauseilende Geflissenheit. Wir müssen selbstbewusste, freundliche aber nicht anbiedernde Distanz zeigen, eine diplomatische Form der Verachtung derjenigen, die ihre eigenen Schutzbefohlenen bestehlen. Wir dürfen auch unfreundlich werden, wenn jemand versucht uns zu bestehlen, alles andere würde nur das Vorurteil der Räuber bestätigen, dass ihre Opfer Schwächlinge und Dummköpfe sind, die es verdienen, dass man sie betrügt.

Einem britischen Politiker wird das Apercu zugeschrieben, dass Diplomaten herausgeschickt werden, um für ihr Vaterland zu lügen. Das ist kein guter Ratschlag. Wenn der Diplomat im Auftrag seiner Regierung lügt, dann wird seine Regierung und am Ende er selbst unglaubwürdig. Wenn er einmal unter der überschaubaren Zahl der internationalen Diplomaten den Ruf eines Lügners hat, kann er eigentlich seinen Job an den Nagel hängen. „Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht – und wenn er selbst die Wahrheit spricht“ war ein Spruch aus meiner Schulzeit. Der Diplomat muss nicht alles sagen, er darf schweigen, er darf auch irren, aber lügen schadet seinem Ansehen sehr.

Auch mit Räubern müssen gelegentlich Abkommen abgeschlossen werden. Wenn das Prinzip der Gegenseitigkeit gewahrt wird, kann man auch mit einem gewissen Maß der Einhaltung von Vereinbarungen rechnen. Ganovenehre gilt aber nur, wenn sie für zukünftige Aktivitäten des Räubers von Bedeutung bleibt, der Partner also wichtig und mächtig genug bleibt, Fehlverhalten zu sanktionieren. Sanktionen müssen schnell und gezielt erfolgen. Wie bei Straßengangs kommt es auch im internationalen Umgang mit Räubern darauf an das tit-for-tat zu beachten. Schnelle Sanktionen haben erzieherischen Wert, wenn sie bei Wohlverhalten auch schnell aufgehoben werden können.

Es gibt keine Gleichbehandlung im Unrecht. Auch nicht im Umgang mit Räubern. Es ist also ausdrücklich zulässig zu diskriminieren. Der großmächtige Räuber, vielleicht noch im Besitz von Nuklearwaffen, wird zwar mit inneren Vorbehalten, aber dennoch mit Vorsicht behandelt, denn er kann uns mehr schaden als wir ihm. Der kleine Dieb, als Räuber zweiter Klasse, der uns unterlegen ist, darf dennoch nicht auf Nachsicht rechnen. Übrigens: um dem gender mainstreaming gerecht zu werden: Räuber*Innen macht keinen Sinn, weil im Geschäft der Räuber machistische Männer das Sagen haben. Die mächtige Patin ist doch eher selten. Für die wenigen weiblichen Diebe lohnt das Sternchen nicht.

Grundregeln für den Umgang mit Räubern sind also:

1. Kleine Räuber abstrafen, wenn man mehr Macht hat, sonst zumindest mit Verachtung strafen.
2. Gegenüber großen Räuber, die mächtiger sind als wir, höfliche Distanz wahren.
3. Reziprozität beachten und möglichst für jede Vereinbarung, ja für jeden Umgang anwenden.
4. Umgang wird sich nicht vermeiden lassen, Naivität und Unterwürfigkeit sind vermeidbar.
5. Auf die Möglichkeit von Sanktionen achten, tit-for-tat handeln
6. Sanktionen bei Wohlverhalten auch aufhebbar machen

Räuber in der eigenen Familie – die Europäische Union in Gefahr

Innerhalb der europäischen Union wird die Frage nach dem Umgang mit Räubern sehr viel kritischer. Die Duldung, gar die Impunität von Räubern im eigenen Club stellt die Legitimation der EU infrage, denn die EU ist nur als demokratisch und rechtsstaatlich verfasste Gemeinschaft und damit auch als Wertegemeinschaft legitimiert. Das unterscheidet sie von der NATO, die als militärisches Bündnis pragmatisch sein darf und starke Bündnispartner auch dann braucht, wenn es mit der vielbeschworenen „Wertegemeinschaft“ nicht so weit her ist, wie wir es uns wünschen. 

Gegen Hitler war das Bündnis der Westmächte mit Stalin notwendig – Churchill sagte einmal dazu: "wenn Hitler in die Hölle einmarschiert, würde ich sicher auch eine postive Anmerkung über den Teufel fallen lassen." -  Naive Träumer und überzeugte Stalinisten haben das vielleicht mit einer Wertegemeinschaft verwechselt, der nachfolgende Kalte Krieg hat sie dann eines besseren belehrt.

Mit den Kopenhagener Kriterien hatte die EU klare Vorgaben für die Beitrittsreife neuer Mitgliedsstaaten formuliert. Im Falle Rumäniens und Bulgariens überwog allerdings schließlich das Interesse an Stabilisierung dieser Länder. Die Einsicht, dass beide Gesellschaften die Kriterien noch nicht erfüllten, musste dahinter zurückstehen. Im Falle Kroatiens war man strenger – aber vielleicht nicht streng genug, wie inzwischen aufgetretene Probleme zeigen. Problematisch ist aber vor allem, dass manche Länder nach dem Beitritt die Kriterien immer wieder verletzten, ohne dass dies ausreichende Sanktionen nach sich zieht.

Die „nukleare“ Option der Suspendierung der Mitgliedschaft ist an so strenge Voraussetzungen gebunden, dass dieses Instrument unbrauchbar ist, zumal zwei Räuber in der 27-köpfigen Jury ausreichen, um jedes Urteil zu vereiteln. Zwischenstufen, die als Warnschüsse dienen können, gibt es nicht. Auch die manchmal diskutierte Möglichkeit, das EU-Budget als Druckmittel zu nutzen, verspricht keinen Erfolg, wenn die Stimmen der Räuber für die Mehrheitsbildung benötigt werden. Auszahlungssperren könnten wirken, aber nur, wenn dafür ein anerkanntes und von allen akzeptiertes Verfahren entwickelt wird.

Von der ungeschriebenen britischen Verfassung sagte kürzlich jemand, dass diese davon ausging, dass sie von Gentlemen gehandhabt wurde – und in eine Krise geriet, als Politiker sie nutzten, die keine Gentlemen waren. So ähnlich steht es mit den Regeln der Europäischen Union: der Schutz gegen Missbrauch ist zu schwach, weil jeder Staat, der unter die Räuber fällt, zugleich in höchst souveräner Weise die Regeln selbst überwacht.

In Zypern und einigen anderen EU-Ländern können Kriminelle für viel Geld die Staatsangehörigkeit und damit die Rechte als EU-Bürger kaufen. Griechenland kam zunächst ungeschoren davon, als es mit betrügerischen Daten den Beitritt zum Euro erschlichen hatte. Als dann die ökonomischen Folgen eintraten, war das Geschrei groß. Der große Korruptionsskandal in Spanien, der vor allem die Volkspartei PP, aber auch die sozialistische PSOE einbezog, machte die Verwendung mancher Gelder aus den Kassen der EU höchst fragwürdig. Ungarn und Polen fordern die Union direkt heraus, indem sie rechtsstaatliche Sicherungen abbauen. Das alles ist dem Verhalten von Räuberbanden nicht unähnlich.

Es mag kein großer Fall sein: aber die Vorwürfe gegen Jean Claude Juncker, in Luxemburg Geldwäsche gefördert zu haben, schadete seiner Ernennung zum Präsidenten der Kommission nicht. Josep Borell wurde nie ganz entlastet von dem Vorwurf einen Teil seines Einkommens vor der Steuer versteckt zu haben, jetzt wird er Außenvertreter der EU. Manche Ernennungen im EU-Rahmen hinterlassen einen schlechten Geschmack. Das sind alles eher Bagatellfälle verglichen mit der großen Korruption in vielen Staaten. Aber auch solche Fälle schaden der Legitimität der Politik in der EU.

Manche treten leise und gehen ganz vorsichtig mit den Räuberbanden im eigenen Wohnzimmer um. Schließlich will niemand das große Projekt Europa gefährden. Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bräuchten eben Zeit, bis sie überall gleichermaßen gelten können. Schließlich war auch das EU-Mitglied Frankreich am Ende der Vierten Republik höchst instabil und führte einen Krieg in Algerien, der zuhause die Demokratie erodieren ließ – bis de Gaulle Frankreich mit der Fünften Republik stabilisierte.

Doch die Zeit läuft uns davon. Wenn mehrere Mitgliedsstaaten sich wie Räuber verhalten, dann erodiert die EU, wenn wichtige Staaten herausgeworfen werden müssen, erodiert die EU auch. Es ist schwierig zu entscheiden, welcher Weg zum Niedergang vorzuziehen wäre. 

Der erste Schritt muss eine nüchterne Bedstandsaufnahme der Korruption sein. Die Organisation OLAF wurde dafür von der EU geschaffen, kann aber offensichtliche Missbräuche in Mitgliedsländern nicht bewältigen. Der Ausschluss muss als letzter Schritt möglich werden, aber wichtiger ist es, durch Auflagen Wege zu öffnen, die den Ausstieg aus der Korruption erleichtern oder auch erzwingen.

Europa muss eine große Anstrengung unternehmen, wenn es aus dieser Falle heraus will. Zu oft hat die EU schon ihre eigenen Prinzipien anderen Motiven untergeordnet. Es ist wie bei der Rettung von Banken, die „too big to fail“ sind: es wäre unverantwortlich, das europäische Projekt aufs Spiel zu setzen, aber es ist genauso unverantwortlich, den „moral hazard“ – den Verfall der Sitten ungestraft weiter wachsen zu lassen. Zunächst muss alles versucht werden, die Korruption immanent mit den bestehenden Strukturen zu beseitigen.

Das erfordert auch eine Vertiefung der Integration auf einigen Feldern – insbesondere auch der Korruptionsbekämpfung und der Sicherung der Rechtsstaatlichkeit. OLAF muss unmittelbar in die Souveränität der Mitgliedsstaaten eingreifen können.
Sollte sich die Korruption innerhalb der EU weiter ausbreiten, wird in Deutschland die Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der EU zunehmen. Die Gründung einer neuen Gemeinschaft unter Ausschluss der Räuber wäre die Alternative. Ein solcher „big bang“, ein Durchhauen des gordischen Knotens würde vermutlich so viele Kollateralschäden verursachen, dass es keine vernünftige Weise wäre, dem Problem entgegenzutreten. Aber es gibt keine Garantie, dass Vernunft sich in so einem Fall durchsetzt. Der Schrecken darüber könnte vielleicht heilsam sein. Aber von unrealistischen Alternativen lässt sich niemand beeindrucken.

Räuber verstehen eine weiche Sprache nicht, sie deuten sie als Schwäche. Sie akzeptieren harte Fakten, vor allem, wenn es um das liebe Geld geht. Hier kann man ansetzen. Meine Empfehlung wäre, langsam und Schritt für Schritt ein vorerst intergouvernamental organisiertes Kerneuropa zu formen, das mit eigenen Finanzmitteln ausgestattet wird und nur diejenigen Länder umfasst, die bereit sind, die EU von Räubern zu befreien und jeden vorübergehend auszuschließen, der unter die Räuber fällt. 

Über den Räuberstaaten muss dann die Drohung schweben, die Finanzen der größeren EU langsam auszutrocknen und wichtige finanzwirksame Programme in die neue Union Kerneuropas zu überführen. Die meisten deutschen Politiker haben schon einmal an Kerneuropa gedacht – und sind dann zurückgeschreckt, weil sie ein Europa erster und zweiter Klasse nicht wollen. Ich halte „Kerneuropa“ auch nicht für eine ideale Lösung – aber, wenn sonst Blockaden die ganze EU lähmen, dann darf das auch nicht ausgeschlossen werden.

Wie würden die Räuber reagieren? Zwei Effekte sind denkbar: zum einen könnten manche Räuber ihre Beute über die nationalen Interessen ihrer Länder stellen – die EU könnte schrumpfen. Allerdings dürfte das in den betroffenen Ländern auf heftige innenpolitische Widerstände stoßen, die von der EU und den anderen Mitgliedsstaaten nachdrücklich unterstützt werden könnten. Zum zweiten aber könnte der disziplinierende Effekt auch zu Anpassungen der Räuber führen, die ihr Geschäftsmodell dann zu „legalisieren“ versuchen könnten.

Damit kann die Union leben – wir werden es ohnehin nie mit Engeln oder Heiligen zu tun haben, menschliche Anerkennung und auch materielle Anreize sind nicht per se schlecht – solange sie innerhalb des legalen und legitimen Rahmens stattfinden. Die EU würde aus beiden Szenarien gestärkt hervorgehen – für einige Zeit wäre Korruption unter starkem Druck – die Verfolgung der organisierten Kriminalität müsste zugleich als Gemeinschaftsaufgabe verstärkt werden.

Es ist ja nicht falsch, die Räuber zu resozialisieren – oft bleibt ja gar nichts anderes übrig. Doch wichtig bleibt:

1. Innerhalb der EU darf Korruption nicht geduldet werden, die Ansprüche sind höher als anderswo.
2. Wenn ein EU-Mitgliedsland rechtsstaatliche Normen verletzt, ist das gefährlich für die EU.
3. Integration muss einen Eingriff der Korruptionsbekämpfer in nationale Hoheite erlauben
4. Die EU muss wirksamer und schneller Verletzungen durch Korruption bekämpfen.
5. Wenn Korruption die Korruptionsbekämpfung der EU blockiert, muss an Kerneuropa gedacht werden.

Vorsicht vor Rufmord durch Korruptionsvorwürfe

Eine Warnung ist angebracht: zum Instrumentarium korrupter und krimineller Banden gehört auch, ihre Gegner mit dem Vorwurf der Korruption zu überziehen. Auch Diebe rufen gerne "Haltet den Dieb" - wenn sie von sich ablenken wollen. Wenn am Vorwurf der Korruption etwas dran ist, wird er in erpresserischer Absicht ausgenutzt, wenn der Vorwurf erlogen ist, werden „Beweise“ fabriziert. Korruptionsvorwürfe sind inzwischen leider oft auch ein politisches Kampfmittel. Auch Drittstaaten beteiligen sich gerne an diesem Spiel, wenn sie unbequeme Politiker diskreditieren wollen.

Deshalb muss jeder Korruptionsvorwurf strikt rechtsstaatlich behandelt werden. Man muss nicht abwarten, bis alle Instanzen der Justiz zu einem Urteil gekommen sind, aber ein naiver Glaube darf nicht dazu führen, dass der Rufmord gefördert wird. 

Es fällt auf, wie in Russland politische Gegner systematisch mit dem Vorwurf der Korruption zum Verstummen gebracht wurden. In Ländern mit schwachen Justizsystemen sind auch Richtersprüche kein zuverlässiger Indikator für die Berechtigung von Korruptionsvorwürfen. Auch Richter sind nicht frei von Versuchungen der Korruption, auch Richter sind gegen politischen Druck oder kriminelle Drohungen empfindlich. Selbst die investigative Presse ist oft nicht frei von einer eigenen interessierten Agenda.

Es ist eine sehr fragwürdige Praxis von Polizei und Justiz – auch in Deutschland – , die Einleitung von Ermittlungsverfahren mit Nennung der Betroffenen öffentlich bekannt zu geben. Nach dem Motto: „irgendetwas bleibt immer hängen“ kann das genutzt werden, um politische Gegner oder wirtschaftliche Konkurrenten mit falschen Anschuldigungen anzuschwärzen. Über die Einstellung solcher Verfahren wird später gar nicht oder in kleinen Meldungen berichtet, die den Ruf der Betroffenen nicht wiederherstellen.

Rechtsstaatlichkeit muss auch bei der Bekämpfung der Korruption gewahrt bleiben. Allerdings gibt es Bedingungen, die Korruption erleichtern. Diese kann man ändern. Insbesondere kann gerade für Personen mit Macht und Verantwortung eine Beweislastumkehr sinnvoll sein, so dass diese über die Herkunft ihrer Mittel jederzeit Rechenschaft ablegen müssen. Whistleblower müssen besser geschützt werden, allerdings nicht als einzige Zeugen zugelassen werden – denn das fördert Denunziantentum. Whistleblower, die sich rächen wollen, sind leider nicht so selten.

Nur wenn eigene Staatsangehörige Opfer der Korruption geworden sind, sollte auch extraterritorial ermittelt werden. Wenn genügend Beweise vorliegen, sollte vor solcher Korruption öffentlich gewarnt werden. Die korrupten Personen aus Drittländern sollten dann mit Einreiseverboten und ggf. Beschlagnahme ihres Auslandsvermögens sanktioniert werden können. 

Seitens korrupter souveräner Staaten muss dann allerdings mit Repressalien und Retorsion gerechnet werden. In solchen Fällen muss es die Möglichkeit geben, „politische“ Lösungen auf Gegenseitigkeit auszuhandeln. Die realen Machtverhältnisse können bei solchen Lösungen – bedauerlicherweise – nicht ausgeblendet werden. Das sollte uns aber nicht hindern, unsere Macht gegen Korruption überall dort durchzusetzen, wo wir am längeren Hebel sitzen, und alles zu tun, dort Abhängigkeiten zu verringern, wo Kriminelle regieren.