Herfried Münkler:  Die neuen Kriege
und der Ukrainekrieg (2002 / 2022)

VERÖFFENTLICHT 12. MAI 2022

Gedanken nach der erneuten Lektüre von "Die neuen Kriege" – Herfried Münklers Analyse von 2002 nach der  Aggression Russlands gegen die Ukraine 2022

Herfried Münkler ist ein kluger Kopf und ein scharfer Analytiker. Die politische Wissenschaft und die Geschichte sind allerdings keine analytischen Philosophien mit formalisierbaren Systemen von Aussagen, sondern höchst unexakte Wissenschaften.

Mit der „Zeitenwende“ des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine könnte man Münklers Buch „Die neuen Kriege“ von 2002 natürlich einfach in den Index der zu verurteilenden Irrtümer einstellen. Das entspräche dem Trend unter Talkmastern und Moderatoren.

Blinde Fehleinschätzungen und daraus folgende falsche Politik werden ja inzwischen bereits Politikergenerationen von Brandt bis Merkel vorgeworfen – von Talk-Meisterdenkern, die noch vor wenigen Monaten jede differenzierte Sicht auf Russland, jeden Hinweis auf die Abhängigkeit Deutschland vom Handel und von Handelsrouten, von Rohstoffen oder Energie als geopolitisches Säbelrasseln mit tiefster moralischer Überzeugung zurückgewiesen hätten.

Gleich in der Einleitung schrieb Münkler vor zwanzig Jahren: Der klassische Staatenkrieg, der die Szenarien des Kalten Krieges noch weithin geprägt hat, scheint zu einem historischen Auslaufmodell geworden zu sein“. 

Er verfolgt dann drei Entwicklungen: zum ersten die Entstaatlichung beziehungsweise Privatisierung, zum zweiten die die Asymmetrisierung kriegerischer Gewalt, und schließlich die sukzessive Verselbständigung oder Autonomisierung vordem militärisch eingebundener Gewaltformen.

 Kriegerische Gewalt und organisierte Kriminalität gehen immer häufiger ineinander über– stellt Münkler fest, und „Die neuen Kriege werden von einer schwer durchschaubaren Gemengelage aus persönlichem Machtstreben, ideologischen Überzeugungen, ethnisch-kulturellen Gegensätzen sowie Habgier und Korruption am Schwelen gehalten und häufig nicht um erkennbare Zwecke und Ziele willen geführt.“

Dabei denkt der Autor vor allem an Kriege in der Dritten Welt oder an der Peripherie der Ersten und Zweiten Welt. Die Rede von den drei Welten ist heute aus der Zeit gefallen. Aber vielleicht sollten wir auch den Krieg Russlands gegen die Ukraine einmal unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass dort Elemente alter und neuer Kriege zusammentreffen.

Alle großen Kriege in der Geschichte der Menschheit lassen sich als historisch einzigartige „Gemengelage“ beschreiben. Persönlichkeiten und Strukturen, allgemein-menschliches Verhalten und pathologische Kurzschlüsse, geistige Traditionen und ideologische Verblendungen, Selbstbilder und Fremdbilder, Arroganz und Ignoranz, Ressentiment und Kalkül – alles lässt sich in psychologischen, soziologischen, ökonomischen und politologischen Kategorien fassen – doch das „Gemenge“ ist weitgehend ein unfassbares „Tohuwabohu“, ein „Chaos“.

Das Scheitern vieler Staatsbildungsprozesse führt Münkler auf den „Mangel an integren und korruptionsresistenten politischen Eliten“ zurück, die vor allem auf persönliche Bereicherung aus sind: „Potenzieller Reichtum ist eine sehr viel wichtigere Ursache für Kriege als definitive Armut“.

Die Russische Föderation hat sich nahtlos von einer Karikatur des Sozialismus zu einer Karikatur des Kapitalismus entwickelt. Die Reformer der ersten Stunde waren guten Willens und optimistisch. In den Jahren 1990-1995 war Russland ein freies Land. Es gab eine kritische Presse, politische Debatten waren offen und heftig. Aber Russland war auch eine gespaltene Gesellschaft, soziale Sicherung war ein Fremdwort, die alten Eliten waren verbittert, die neuen noch nicht entstanden. Die Privatisierung wurde dazu missbraucht, dass einige staatsnahe Funktionäre verbunden mit Kriminellen sich unermesslichen Reichtum zusammenstehlen konnten.

Die offizielle kommunistische Ideologie war zusammengebrochen, die Demokraten waren schon nach den ersten „Reformen“ diskreditiert, weil Pensionen nicht gezahlt wurden, Löhne gekürzt und viele Biografien entwertet wurden. Der Nationalismus war das ideologische Residuum, hinter dem sich ein geradezu anarchischer Individualismus mit dem Motto: „bereichere sich, wer kann!“, versteckte.

Der Mangel an integren und korruptionsresistenten politischen Eliten, von dem Münkler sprach, führte Russland geradewegs in eine Kleptokratie. Persönliches Machtstreben hat Putin zum alleinigen Autokrator gemacht, Habgier und Korruption kennzeichnen seine Umgebung. Das Regime in Moskau ist eine enge Verbindung von staatlicher Diktatur und privater organisierter Kriminalität.

Hinzu kommt eine faschistische Ideologie, die die eigene „Nation“ und „Kultur“ über alle anderen stellt, die zugleich der ukrainischen Nation die Existenz abspricht und ethnische Unterschiede als eine Art Geistesgestörtheit durch „Umerziehung“ beseitigen will. Eine Geschichtsideologie konstruiert dazu eine Scheinwelt, in der sich die Moskauer Imperialisten eingerichtet haben: eine Welt der Einflusssphären wie nach Jalta, eine Welt der Imperien, in der das Zarenreich wieder ersteht, eine Welt der Hegemonie, in der die Welt am russischen Wesen genesen soll. Alles das erscheint uns im Westen so absurd und jenseits jeglicher Realität, dass es schwer verständlich ist.

Herfried Münkler hat geirrt: klassische Kriege zwischen den Armeen von Nationalstaaten können nach wie vor stattfinden und sind sehr gefährlich. Aber es lohnt sich, auch die neuen Aspekte dieses Krieges zu betrachten.

Die drei Aspekte „neuer Kriege“, die Münkler betont treffen auf den Krieg in der Ukraine nicht zu: Noch gibt es keine „Entstaatlichung“, aber es gibt gerade in Russland eine Privatisierung von Teilen der Armee, auch der Beute und eine Verschmelzung von kriminellen mit politischen Eliten. Die „Asymmetrisierung“ war eine Option für die Ukrainer in Gebieten, die von russischen Truppen besetzt sind. Derzeit scheint dies nur in Gestalt von Aktionen gegen den russischen Nachschub aus dem Grenzgebiet stattzufinden. 

Die „Autonomisierung“ – also das Erscheinen selbständig handelnder Warlords ist ebenfalls hier nicht erkennbar, auch wenn es private Akteure wie die „Wagner-Söldner“ oder kriminelle Banden aus dem Kadyrow-Umfeld gibt, die systematisch Kriegsverbrechen wie Massaker und Vergewaltigungen begehen, um ein Klima der Angst zu schaffen: „das Mittel zur gewaltsamen Durchsetzung … ist nicht länger die Entscheidungsschlacht, sondern das Massaker“.

Es fehlt auch – nicht zuletzt dank der großzügigen europäischen Flüchtlingspolitik – der Missbrauch der humanitären Hilfe als Ressource für die Fortführung des Krieges. Stattdessen missbraucht Russland die Errichtung von „Fluchtkorridoren“ um Zivilisten – auch gegen ihren Willen – in sein Territorium zu verbringen.

Ganz im Sinne von Clausewitz hatte Putin wohl auf die Entscheidungsschlacht vor Kiew und die schnelle Eroberung der ukrainischen Hauptstadt als Symbol des Sieges gehofft. Doch die Taktik entspricht heute mehr der eines Zermürbungskrieges. Die russische Seite hat offenbar geglaubt, das Gesetz des Handelns in der Hand zu haben und allein über Krieg und Frieden zu bestimmen, weil Russland anders als der Westen gewaltbereit war – während der Gegner als risikoscheu betrachtet wurde: „fast alle neuen Kriege sind durch ein spezifisches Angstmanagement gekennzeichnet“.

Im Kalten Krieg vor 1989 diente die Angst vor einer möglicherweise unkontrollierbaren Eskalation zum Atomkrieg zur gegenseitigen Abschreckung. Putin und Lawrow versuchen jetzt, diese Angst zu nutzen, um ihren psychologischen Krieg zu gewinnen. Die Abschreckung besteht weiterhin vor allem darin, dass mit einer nuklearen Reaktion der NATO und insbesondere der USA zu rechnen ist, genau diese unterschätzten die russischen Imperialisten – wie es zum Beispiel in einem kürzlichen Interview mit dem nationalistischen Politologen Sergej Karaganow deutlich wurde.

Die westlichen Sanktionen sollen die Fähigkeit Russlands zur Kriegführung schwächen und zugleich bisherige Abhängigkeiten auf ein Minimum reduzieren. Die russischen Machteliten sind von der ökonomischen Elite getrennt, auch die einst mächtigeren Oligarchen sind von den Launen und den Interessen Putins abhängig. Habgier und Ausbeutung von Ressourcen ist ein wichtiges Motiv, aber es geht um Raubkapitalismus, nicht um das Funktionieren einer Marktwirtschaft. Es ist nicht ungewöhnlich das der „Fluch des Rohstoffreichtums“ zu Verzerrungen der davon betroffenen Volkswirtschaften führt, aber die russische Machtelite ähnelt wiederum eher den aus der Dritten Welt bekannten parasitären Eliten, die ihre Länder ausplündern anstatt sie zu entwickeln.

Immer wieder streiten Analysten darüber, ob Ideologien eine echte Motivation sind oder nur die dahinter stehenden materiellen Interessen verbergen oder legitimieren sollen. Das Phänomen der „Gangsterehre“ zeigt wie beides Hand in Hand gehen kann. Die Anbetung brutaler Gewalt, die Verachtung der Anderen, denen das Existenzrecht abgesprochen wird, imperiale Phantasien, Unterdrückung nach innen und Angriffskriege nach außen sind typische Charakteristika einer faschistischen Ideologie. Die schamlose Lügenpropaganda, die den Anderen als „Faschisten“ denunziert, während Russland selbst zu einem faschistischen Staat geworden ist, gehört auch dazu.

Neue Kriege sind immer auch Kriege um Bilder. Über die Medien wird versucht, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Russland hat – wohl zu seiner eigenen Überraschung – den Zugang zu westlichen Medien weitgehend verloren, aber es betreibt seine Propaganda um so stärker in den neuen Medien im Internet und auch in Drittländern, die aus verschiedenen Gründen „äquidistant“ bleiben wollen, sei es aus Ressentiments gegen den Westen, sei es wegen besonderer Abhängigkeiten.

Herfried Münkler beschreibt sechs Unterscheidungen, die für die klassische Kriegführung zentral waren: Erstens sorgen territoriale Grenzen dafür, dass Innen und Außen präzise unterschieden werden kann. So wurde im europäischen System klar zwischen Krieg und Frieden unterschieden. Im Gegensatz zum für Europa typischen Konzert der Mächte kannte das Russischen Imperium nur diffuse imperiale Grenzen, an denen der Übergang von Staatsgebiet zu Einflusszone, Hegemonie und Zone offengelassener Konflikte, die heute „frozen conflicts“ heißen, fließend war.

Der Staat allein bestimmte, wer im Krieg Freund und wer Feind war, und es wurde klar zwischen uniformierten Kombattanten und Zivilisten unterschieden. Russland hat gegen die Ukraine von Anfang an diese Unterschiede verwischt, sei es durch „kleine grüne Männchen“, als die sich ihre Armee bei der Eroberung der Krim tarnte, sei es durch angebliche „Rebellen“, die für Russland den Krieg im Donbas führten. Russland hob die Trennlinie zwischen Kriegshandlungen und Gewaltkriminaliät spätestens dann auf, als die Kriegsverbrecher, die in Butcha Massaker verübt hatten, nicht bestraft sondern mit Orden ausgezeichnet wurden.

Als sechstes Merkmal nennt Münkler die Schließung der „offenen Gewaltmärkte“, wo sich noch im Dreißigjährigen Krieg private und fürstliche Armeen gemeinsam auf dem Schlachtfeld bewegten. Russland scheint den Einsatz von Söldnern vorzusehen – bislang wohl mit zweifelhaftem Erfolg.

Nur in den europäischen zwischenstaatlichen, „symmetrischen“ Kriegen kam es zu einer zunehmenden „Verrechtlichung“ der Kriegführung. Der „gerechte Krieg“ selbst musste z.B. durch den Schutz der eigenen Zivilisation gegen „Barbaren“ gerechtfertigt werden. Putin verwendet solche Konzepte als Worthülsen – Orwell hätte vieles aus seinen Visionen von 1984 wiedererkannt. Der Westen wiederum neigt spätestens seit dem Ersten Weltkrieg zur Moralisierung der Kriegsgründe, was dazu führt, dass der Gegener als Delinquent und nicht als gleichwertiger Gegner angesehen wird.

Immer wieder ist geltend gemacht worden, dass moderne Kriege sich nicht mehr „lohnen“. Kein Gewinn kann die immensen Kosten aufwiegen, die für die Kriegführung verschlungen werden. Münkler verweist darauf, dass in neuen Kriegen die Warlords, regionale Milizen und Bürgerkriegsparteien eigene Rechnungen aufmachen, die „billige Kriegführung“ (mit Pick Ups, leichten Waffen und Guerillataktik) in Form von asymmetrischen Kriegen gegen den hohen Aufwand staatlicher Gegner setzen. Nach dieser Auffassung wäre ein Krieg mit schweren Waffen ökonomisch unvertretbar – wenn der Aggressor denn ökonomisch denkt.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum die Drohung mit kriegerischer Gewalt sich lohnen kann: wenn der Gewalttäter nämlich davon ausgeht, dass sein Gegner Gewalt vermeiden will und deshalb vermutlich nachgeben wird. 

So hat Hitler seine ersten „Kriege“ (Rheinlandbesetzung, Eingliederung Österreichs, Eroberung der Tschechoslowakei) gewaltlos gewonnen. Das Dilemma ist nur, dass irgendwann auch ein „realer Krieg“ geführt werden muss, um die Glaubwürdigkeit der Drohung aufrechtzuerhalten. 

Wenn so ein realer Krieg dann aber die potenziellen Gegner spaltet und verängstigt, dann kann er helfen, weitere Konflikte kampflos zu gewinnen. Das führt dazu, dass die „Ökonomie des Krieges“ nicht isoliert für einen Einzelfall der Drohung mit und Anwendung von Gewalt betrachtet werden kann, sondern als Gesamtstrategie – und die kann „lohnend“ sein. Genau deshalb ist es wichtig, den Preis einer Aggression deutlich zu erhöhen – damit so eine Strategie nicht aufgeht.

Zwei Gefahren muss der Westen im Auge behalten: einmal die Möglichkeit eines „false-flag-terrorism“, die Angst verbreitet und spaltet, weil sich westliche Medien dafür einspannen lassen, zum anderen die Korrumpierung westlicher Wirtschaft und Politik durch viel Geld. Letzterem ist durch die Art der Sanktionen derzeit ein Riegel vorgeschoben, aber mit Hilfe naiver Gerichte und Medien können die Maßnahmen verwässert werden.

Weitere Probleme können entstehen: reicht die Durchhaltefähigkeit unserer Öffentlichkeit auch dann noch aus, wenn die Sanktionen uns selbst stark treffen, widerstehen wir dem Propagandakrieg auch dann noch, wenn die Medien ihre jetzige Unterstützung aufweichen? Schon jetzt bringen unsere Medien aus Sensationslust oder einfach Wichtigtuerei verkaufsfördernde Nachrichten, die sich der gegnerische Geheimdienst nur wünschen kann.

Viele der Fragen zu den Transportwegen der Waffenlieferungen wurden so öffentlich diskutiert, dass diese gefährdet wurden, die unverantwortlichen Meldungen über ungeschützte elektronische Kommunikation der Russen haben dazu geführt, dass russische Truppen ihre Kommunikation jetzt besser schützen – zum Nachteil der ukrainischen Truppen. Wenn Teile der Presse die (falsche) Auffassung vertreten wir seien längst Teil des Krieges, dann sollten sie sich auf Militärzensur einstellen. Wenn sie das nicht wollen, dann wäre mehr Selbstverantwortung angezeigt.

Für größere Kriege unterscheidet Herfried Münkler im zwanzigsten Jahrhundert den offensiven Blitzkrieg, die defensive Maginotdoktrin und das indirekte Vorgehen. Putin hatte offenbar zunächst eine Strategie des Blitzkrieges verfolgt, ist damit aber am unerwartet effizienten Widerstand der Ukrainer gescheitert. Die Ukraine hat nicht auf eine Maginotstrategie gesetzt, sondern auf flexible Antworten und vor allem Angriffe auf die Nachschublinien der Russen. Die schlechte Moral der Angreifer war ein weiterer Grund, warum der erste Angriff scheiterte und Putin auf andere Taktiken auswich. Die westliche Unterstützung mit Abwehrwaffen und Informationen hat dazu beigetragen.

Die USA und die NATO haben mit den Sanktionen den indirekten Weg gewählt. Anders als bei früheren Sanktionen, die oft nicht zielführend waren, treffen sie diesmal entscheidende Schwächen des russischen Staates und seiner Wirtschaft. Das erhöht den Preis der Aggression erheblich. Doch es kommt jetzt auch zu einer „Materialschlacht“.

Dabei wird es darauf ankommen, zum einen jegliche Ausdehung des Krieges so weit wie möglich abzuschrecken. Das gilt für das NATO-Territorium absolut (jeder Zentimeter, jeder inch…), aber auch für alle EU-Staaten wie Finnland und Schweden, die von Putin ausdrücklich bedroht worden waren und die genau deshalb bald der NATO beitreten könnten. Ein Risiko bleibt die Lage in der Republik Moldau mit den Separatisten und russischen Truppen in Transnistrien im Norden des Landes. Wenn Russland Moldau angreift, gibt es aber gute Gründe, Transnistrien sofort wieder in den moldauischen Staatverband voll einzugliedern.

Schon in den beiden Weltkriegen war entscheidend, dass das Produktionspotenzial der USA dem Deutschlands und seiner Verbündeten haushoch überlegen war. Das gilt jetzt auch für die Länder der NATO. Es sollte aber rechtzeitig an den (vorübergehenden) Ausbau der Rüstungsproduktion gedacht werden, damit jedem Aufwuchs von russischem Material dauerhaft und jederzeit mehr Material für die Ukraine und die NATO entgegengestellt werden kann.

Kriege sind hoch emotionale Momente, Abscheu gegenüber den Grausamkeiten, Mitleid mit dem Elend der Zivilbevölkerung, Bewunderung für den Mut der Verteidiger, alles das trägt nicht nur in der Ukraine selbst, sondern auch bei ihren Freunden dazu bei, Unterstützung zu mobilisieren.

 Doch Mobilisierung ist nicht alles. Die Politik muss zugleich nüchtern die Lage und die Risiken einschätzen – und dann so rational wie irgend möglich entscheiden und das auch kommunizieren. Es muss um Drittstaaten geworben werden. Das kann nur gelingen, wenn deren Interessen sich mit den unseren verbinden lassen.

Wie kann der Krieg enden?

Ob durch eine dauerhafte Waffenruhe, einen vereinbarten Waffenstillstand oder durch einen vertraglich gesicherten Friedensschluss – Verhandlungen sind notwendig. Wie diese aussehen, bestimmen die Ukrainer und die Russen. Der Westen hat jedes Interesse daran, dass die Ukrainer eine starke Verhandlungsposition haben. 

Anders als gegenüber Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg gibt es aber die Option einer „bedingungslosen Kapitulation“ gegenüber einer Atommacht nicht. Russlands Aggression darf keinen Erfolg haben, aber Russland wird gebraucht für eine dauerhafte Friedensordnung in Europa, die Russland selbst gerade zerbrochen hat. Nur kann diese Friedensordnung nicht zu den Bedingungen Putins bestehen, denn das wäre keine Ordnung, sondern die Unordnung von Beherrschung und Unterdrückung.

Die Sowjetunion sprach lange von der „friedlichen Koexistenz“ – und meinte damit den status quo des Kalten Krieges und der Ordnung von Jalta. Wenn Russland bereit ist, die Realitäten des jetzigen status quo zu akzeptieren, wie sie nach dem Zusammenbruch der UdSSR entstanden sind, wird „friedliche Koexistenz“ auch unterschiedlicher Regierungssysteme wieder möglich – was geschehen ist, wird damit nicht ungeschehen, und die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen werden noch längere Zeit von Misstrauen geprägt sein – aber es wird sich zeigen, ob die Russen ein ineffizientes autokratisches System der Unfreiheit noch länger hinnehmen wollen, sich weiterhin isolieren und von Nationalismus und Imperialismus berauschen lassen wollen, oder aber mehr als 30 Jahre verspätet doch noch den Weg in eine wirkliche Demokratie zu wagen.