Hans Peter Schwarz
Die neue Völkerwanderung
Eine Rezension

VERÖFFENTLICHT 23. MÄRZ 2017

Rezension: Hans-Peter Schwarz – Die neue Völkerwanderung nach Europa – Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten. (Copyright DVA 2017)

Die deutsche und europäische Migrationspolitik seit dem September 2015 hat bereits erheblich zu einem Produktivitätszuwachs beigetragen, und zwar auf dem Sektor der Buchproduktion zu diesem Thema. Jetzt hat auch der Adenauer-und Kohl-Biograf Hans-Peter Schwarz ein Buch dazu veröffentlicht.

 Schon der Titel deutet Kontroversen an. Wer sich mit der Geschichte des Untergangs des römischen Reiches beschäftigt hat, kann die Parallelen der heutigen, und vor allem der uns vielleicht noch bevorstehenden Situation mit der Endphase der römischen Geschichte nicht übersehen. Hans-Peter Schwarz ist klug genug, gleich darauf hinzuweisen, dass es sich um ganz verschiedene historische Kontexte handelt, und dass daher ein solcher Vergleich mit Vorsicht zu genießen ist. 

Wer allerdings den Blick auf die Geschichte als politisch inkorrekt einfach verweigert, handelt grob fahrlässig. Ein Blick auf die letztlich vergeblichen Versuche des Imperium Romanum, seine Grenzen dadurch zu sichern, dass man Verbündete jenseits der Grenzen kaufte, oder die „Barbaren“ aus Germanien sogar als Söldner in den römischen Armeen eingesetzt hat, kann aufschlussreich sein. 

Die Völkerschaften, die in das Römische Reich eindrangen, waren in vielen Fällen selbst Flüchtlinge vor den nomadischen Steppenvölkern, die sie aus Osteuropa oder Zentralasien vertrieben hatten. Was heute stattfinde, sei eine „Völkerwanderung neuen Typs“, die wir vielleicht noch gar nicht richtig begriffen haben. Schwarz besteht jedenfalls auf dem Begriff der Völkerwanderung.

Er beschreibt dann in dem Kapitel: „Wie kam es zum Kontrollverlust?“, wie die Vision eines Europa ohne Grenzen und die Vereinbarung von Schengen den Kontrollverlust vorbereitet haben, indem die inneren Grenzen geöffnet wurden, ohne eine verlässliche Grenzsicherung nach außen hergestellt zu haben. Im Gegenteil: viele Idealisten hätten das als die Schaffung einer „Festung Europa“ verworfen. Der Hauptfehler ist aus seiner Sicht das EU-Flüchtlingsrecht, dass der jetzt eingetretenen historischen Entwicklung nicht gewachsen ist.

Die Entwicklung von September 2015 bis März 2016 beschreibt Hans-Peter Schwarz unter der Überschrift „Improvisierte Strategien“. Man spürt geradezu, wie dem 82-jährigen Konservativen beim Diktat dieses Kapitels die Lippen gebebt haben. 

Dieser Abschnitt seines Buchs ist im Zorn geschrieben. Es war seine Generation, die die Entwicklung von der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Union vorangetrieben hat. Schwarz will dieses Europa erhalten. Er fürchtet, dass die EU nicht aus ihren Fehlern lernt, sondern sich in einem selbstgeschaffenen Netzwerk eines viel zu weitgehenden Asylrechts verstrickt. 

Eine unverantwortlichen Justiz, die für den Erhalt ihrer Gesinnungsethik sogar den Bestand der EU aufs Spiel setzt, und eine Politik, die den Schutz des Gemeinwesens für sekundär gegenüber einem menschenrechtlichen Universalismus betrachtet, machten die Fehlkonstruktion der Freizügigkeit in Europa praktisch unreformierbar. Der Schutz der Außengrenzen gehöre zu den notwendigen Attributen eines Staates. Wenn dieser Schutz an andere delegiert werde, bewirke das ein hohes Risiko. Wenn andere ihre Verpflichtungen nicht einhalten wollen oder können, dann muss der Nationalstaat seine Grenzen wieder schützen, Schengen hin – Schengen her.

Die Völkerwanderung nach Europa wird weitergehen, die wachsende Diaspora wird ein immer stärkerer pull-Faktor, mit dem zu erwartenden Familiennachzug kommt es zu Bevölkerungsverschiebungen, die nicht mehr trivial sind und viele Staaten überfordern können. Wenn Marineverbände der EU-Länder im Mittelmeer Teil der Transportkette der Schlepperbanden werden, wenn die Krisenherde im Nahen und mittleren Osten und in Afrika weiter Flüchtlingsströme produzieren, dann werden auch die Spannungen innerhalb der Europäischen Union ansteigen. Die Ethik des Universalismus und das Ethos des demokratischen Staates geraten in Gegensatz zueinander. Der Dialog über pragmatische Lösungen geht dabei unter.

Hans-Peter Schwarz ist sich klar darüber, dass eine Lösung aller dieser Fragen nur angegangen wird, wenn der Problemdruck anders nicht mehr zu bewältigen ist, vielleicht erst, wenn es zu spät ist. 

Er tritt dafür ein das Tabu zu brechen und das europäische Asylrecht drastisch auf das zurückzuführen, was es einmal war: ein Recht der aufnehmenden Staaten, Asyl zu gewähren, und nicht ein Recht der Asylsuchenden aus der gesamten Welt, Asyl zu bekommen. Die humanitäre Flüchtlingshilfe solle deutlich verstärkt, aber auch intelligenter organisiert werden. Die Zuständigkeit für das Ausländerrecht müsse an die Mitgliedsstaaten der EU zurückgegeben werden, weil Brüssel dem nicht gewachsen sei. 

Ursachenbekämpfung sei richtig, werde aber oft nur vorgeschoben, um nichts zu tun. Die jetzigen Regeln für den Schengenraum hätten sich nicht bewährt, die Freizügigkeit dürfe nur für EU-Bürger gelten, nicht aber für Bürger aus Drittstaaten. Eine Art „Schengen-Light“ mit Grenzkontrollen, aber Sonderspuren für EU-Bürger die nur lasch kontrolliert würden, und ausführlichen Kontrollen für Personen aus Drittstaaten, werde die Sicherheit erhöhen ohne die Freizügigkeit zu sehr einzuschränken.

Das alles wäre aber keine allmähliche Veränderung der Rechtslage mehr, sondern eine Revolution. Schwarz relativiert das zwar und erklärt, dass er die EU für stark genug hält, auch diese Krise zu überleben, aber die Forderungen von Hans-Peter Schwarz sind im gegebenen Rechtsrahmen kaum umzusetzen. Der Schluss aus seiner Argumentation lässt nur die Alternative bestehen: Revolution im Asylrecht der EU oder Untergang der EU.

Das Buch von Hans-Peter Schwarz macht nachdenklich. Es geht um ein ernstes Anliegen. Als Anhänger eines gemeinsamen europäischen Hauses fürchtet Schwarz, dass die rundum offenstehende Türen so viele Besucher einladen, dass die ursprünglichen Bewohner sich nicht mehr zu Hause fühlen.

 Die Migrationskrise ist auch eine Krise der Europäischen Union, und es ist ein großer Fehler wenn Deutschland sich mit moralischem Hochmut dazu berufen fühlt, die anderen Mitgliedstaaten zu einer Politik zu zwingen, die sie nicht mittragen wollen und können. Das Buch leidet unter dem Zorn, mit dem es geschrieben wurde. Viele unnötige Seitenhiebe in alle Richtungen tragen nichts zur Debatte bei. Vielfältige Wiederholungen lassen vermuten, dass das Buch unter Zeitdruck verfasst wurde. Auch in seinen früheren Publikationen hat Hans-Peter Schwarz kein Blatt vor den Mund genommen und auch gerne einmal polemisiert. Aber er hat sorgfältiger formuliert. Man kann ihm abnehmen, dass er in seiner brennenden Sorge das Pamphlet schnell veröffentlichen wollte. Und als Pamphlet sollte man das Buch lesen – dann ist es auch lesenswert.

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