Wolfgang Schäuble - Erinnerungen -

Wolfgang Schäuble – Erinnerungen

Kurz vor seinem Tode im Dezember 2023 hatte Wolfgang Schäuble seine „Erinnerungen – Mein Leben in der Politik“ vollendet. Wie so viele, wollte er seine Erfahrungen zunächst vor allem für seine Kinder aufschreiben – aber es ist ein Opus daraus geworden, das zeigt, wie bedeutend sein Leben für die Bundesrepublik Deutschland war.

Rezensenten, die das Buch vorab lesen durften, stürzten sich gleich auf die feine Ironie und die Sottisen, mit denen Schäuble seine politischen Mitstreiter und Gegner gleichermaßen hinrichtet, so den kurzzeitigen Verteidigungsminister Theodor zu Guttenberg, der „vom Stern zur Sternschnuppe“ wurde. Doch das ist nicht der Kern von Schäubles Erinnerungen. Auch nicht die wachsende Kritik am System Merkel, in deren Kabinetten Schäuble (wie zuvor unter Bundeskanzler Helmut Kohl) trotz wachsender Distanz lange Jahre loyal diente, bevor er 2017 Bundestagspräsident wurde.

Schäubles Erinnerungen sind ein Geschichtsbuch, das aus seiner – zugegeben subjektiven – Sicht schildert, wie Deutschland und Europa den kalten Krieg erlebten und dann überwanden, und dann die Lehren daraus vergaßen. Schäuble schreibt von einem privilegierten Standpunkt aus: erst als Teil der Opposition im Parlament, dann nahe an Helmut Kohl als Chef des Kanzleramtes und später Innenminister. Faszinierend bleibt immer wieder die Erzählung vom Gelingen der Deutschen Einheit, die Bundeskanzler Kohl mit Willenskraft und Glück gelang und zu der Wolfgang Schäuble als Unterhändler (mit Günther Krause auf Seiten der DDR) des Einigungsvertrages maßgeblich beigetragen hat.

Die „Deutschlandpolitik“ war ein zentrales und umstrittenes Thema der Politik der Bundesrepublik Deutschland. Auf meinem ersten Auslandsposten in Moskau stritten wir monatelang verbissen über „Berlin-Klauseln“, um die „Teilnahme von Bildern aus Berlin (West)“ an einer Kunstausstellung möglich zu machen – heute fällt es schwer jemandem zu erklären, was das denn eigentlich bedeutete. Schäuble hat damals entscheidend die Deutschlandpolitik mitgestaltet – vor allem aber auch unzählige persönliche Schicksale im Rahmen der Freikäufe von Gefangenen aus der DDR zum Besseren gewendet.

Wolfgang Schäuble gehörte zu der Minderheit in der CDU/CSU, die sehr früh erkannte, dass Willy Brandts „Ostpolitik“ eine notwendige und sinnvolle Ergänzung von Adenauers Politik der Westbindung war. Er schätzte die Standfestigkeit von Helmut Schmidt gegenüber der Herausforderung des Terrorismus ebenso wie in der Frage der „Nachrüstung“. Für mich war es damals das erste Mal, dass ich mich im Gegensatz zu einer Mehrheit meiner eigenen Partei, der SPD, befand – denn meine Moskauer Erfahrung ließ mich zu einem klaren Befürworter des von Helmut Schmidt unterstützten NATO-Doppelbeschlusses werden, den Helmut Kohl dann nach dem Koalitions- und Kanzlerwechsel von 1982 durchsetzen konnte.

Im Sommer 2005 wurde ich von Außenminister Joschka Fischer zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes berufen. Kurz darauf fanden vorgezogene Neuwahlen statt und Frank-Walter Steinmeier wurde neuer Chef des Auswärtigen Amtes. In der großen Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel wurde Wolfgang Schäuble wieder Innenminister. Mit seinem Staatssekretär August Hanning hatte ich sofort ein sehr enges Arbeitsverhältnis hergestellt. Als Vertreter des Auswärtigen Amtes nahm ich an den ersten Runden der von Innenminister Wolfgang Schäuble initiierten „Islamkonferenz“ teil, der er in seinem Buch einen großen Stellenwert einräumt.

Obwohl eigentlich mein Staatssekretärskollege Reinhard Silberberg die wöchentlichen Lagebesprechungen im Kanzleramt wahrnahm, habe ich ihn dort sehr häufig vertreten. Die von Schäuble geschilderten Fälle der Kofferbomber in den Zügen vom Kölner Hauptbahnhof nach Hamm und nach Bonn, sowie der Terroristen der sogenannten „Sauerlandgruppe“ habe ich dort monatelang aus nächster Nähe mitverfolgt. Schäuble schreibt, dass der Innenminister eigentlich ständig den Telefonanruf fürchtete, der eine Katastrophe meldet. Wer angesichts dieser Bedrohungen Verantwortung für die Bevölkerung trägt, schläft nicht ruhig.

Als Schäuble 2009 Finanzminister wurde, hatte er auf ruhigere Nächte gehofft. Doch die Finanzkrise von 2008 war noch nicht überwunden und die Krise im Euroraum beschäftigte den Minister noch lange Zeit.

Das Schäuble-Lamers-Papier zur Zukunft Europas traf schon 1994 einen wunden Punkt der Politik der europäischen Integration. Übrigens habe ich eine Aufzeichnung eines Gesprächs, das Willy Brandt am 10.September 1975, eineinhalb Jahre nach seinem Rücktritt, mit uns jungen Attachés (den Berufsanfängern) in der Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amtes führte:

Brandt erläuterte noch einmal sein Konzept von der "abgestuften Integration" in Europa, das das System des "Geleitzuges" ablösen müsse, in dem das Integrationstempo sich nach dem Langsamsten richte. England und Italien könnten zur Zeit ganz einfach nicht weitergehen. Deshalb müssten Deutschland und Frankreich als Rückgrat der Gemeinschaft vorangehen; daß die Beneluxstaaten dabei eingeschlossen wären, setzte Brandt voraus.

…  Er selbst habe übrigens in der Zeit als Berliner Bürgermeister häufiger mit de Gaulle gesprochen als später als Außenminister, wo die „Etage" nicht mehr stimmte. Er, Brandt, sei fest überzeugt, daß das deutsch-französiche Verhältnis in Europa die erste und wichtigste Priorität haben müßte. Er habe etwas andere Gründe als Adenauer dafür, aber in der Konsequenz stimme er darin voll mit Adenauer überein.

Das hätte Schäuble jederzeit unterschreiben können. Gerade weil er immer ein überzeugter Europäer war, hielt er eine abgestufte Integration für notwendig. Wir haben heute schon unterschiedliche Geometrien (géométrie variable) und verschiedene Geschwindigkeiten (velocité variable) in Europa. Mir scheint das Konzept schlüssig – allerdings ist es nicht leicht, sicherzustellen, dass daraus weder ein Zerfall resultiert, noch ein „cherry-picking“, wie es die Briten in Zusammenhang mit dem Brexit forderten.

Zugleich ließ Schäuble sich nicht auf den künstlichen Gegensatz ein, der in den sechziger Jahren zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ in seiner Partei aufgekommen war – und der in der CDU/CSU immer noch in einigen Köpfen spukte: Schäuble war ein Freund Frankreichs, aber er wusste sehr genau, dass nur der enge transatlantische Schulterschluss mit den USA die Sicherheit Europas und damit auch die politischen Spielräume deutscher Politik garantieren konnte. Die seit der Amtszeit von Donald Trump entstandenen Risse im Bündnis sind für Schäuble allerdings ein Anlass, auf der europäischen Seite des Atlantiks enger zusammenzuarbeiten.

Die Finanzkrise forderte ihr erstes Opfer in Deutschland im Juli 2007 als die Industriekreditbank (IKB) zusammenbrach. Ich erfuhr als einer der ersten davon, als in einer nächtlichen Telefonkonferenz angekündigt wurde, dass die Bankenaufsicht die Bank schließen müsse, wenn nicht sofort etwas geschah. Als stellvertretendes Mitglied des KfW-Verwaltungsrates nahm ich anschließend an den Krisensitzungen unter Vorsitz von Finanzminister Steinbrück teil. Schäuble war froh, dass sein Vorgänger in der Frage, was zu tun sei weitgehend übereinstimmte – auch wenn die Zustimmung offenbar nicht für Stilfragen im Umgang mit anderen Finanzministern galt.

Im Sommer 2008 traf ich Wolfgang Schäuble in Klagenfurt auf der Ehrentribüne beim Spiel Deutschland-Polen bei der Fußball-EM. Er bot mir an, in seinem Flugzeug mit zurückzufliegen. Das Gespräch auf dem Flug beeindruckte mich sehr.

Als Schäuble 2009 in der schwarz-gelben Koalition das Finanzministerium übernahm, war die globale Finanzkrise, die mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 detoniert war, noch lange nicht überwunden. Mehrere überschuldete Länder der Eurozone gerieten in Schwierigkeiten. Spekulanten, darunter Londoner Hedge Fonds, trieben die „spreads“, den Unterschied im Zinsniveau zwischen den Euroländern, in die Höhe. Spanien, Portugal, Irland und Italien konnten das mit drastischen Reformprogrammen abwehren, Griechenland blieb das Sorgenland.

Schäuble schildert ausführlich seinen Umgang mit der Griechenlandkrise, in der er von vielen Seiten unter Beschuss geraten war. Keynesianer aus den USA wie Stieglitz, Krugman und vor allem Larry Summers warfen Schäuble vor, zu wenig „deficit spending“ zu wagen, in Griechenland wurden Merkel und Schäuble als Zuchtmeister Europas und Nazis dargestellt, was den Minister angeblich wenig berührte – nach meinem Gefühl aber doch sehr verletzte. Ich hatte damals nicht nur als loyaler Beamter seine Politik in London gegenüber der britischen Regierung und Öffentlichkeit zu vertreten, sondern war auch davon überzeugt, dass Schäuble recht hatte. Mich hat damals schon verwundert, dass Bundeskanzlerin Merkel sich sehr mit der Unterstützung ihres Finanzministers zurückhielt.

Die Finanzmärkte sprechen Englisch. Damit entsteht aber zugleich eine „Blase“ der Kommunikation, in der angelsächsische Medien sich gegenseitig in ihrem Deutschlandbild bestätigen. Ich riet damals dem deutschen Finanzminister am Rande eines Besuchs in London, Presseerklärungen auch auf Englisch herauszugeben (obwohl ich sonst sehr für die Förderung der deutschen Sprache eintrat). Sonst erreichten deutsche Standpunkte die „Märkte“ nicht – die schließlich auch Menschen aus Fleisch und Blut waren. Schäuble folgte diesem Rat.

Der größte Teil der Erinnerungen von Wolfgang Schäuble handelt von deutscher Innenpolitik, oder noch enger: von den inneren Verhältnissen und der Entwicklung der CDU/CSU in Regierung und Opposition. Dieser Teil zeigt, wie wichtig die innerparteiliche Dynamik für das Verständnis der deutschen Politik ist.

Wolfgang Schäuble hatte noch eine lebendige Erinnerung an den CSU-Vorsitzenden und bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß und dessen Drohung in Wildbad Kreuth, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzulösen. So stand Schäuble dann auch klar an der Seite Merkels, als Spannungen mit der CSU unter Seehofer das Verhältnis erneut belasteten.

Besonders aufschlussreich fand ich Schäubles Schilderung der ständigen Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern – gleich welcher parteipolitischer Konstellation - und zwischen den Rivalen aus verschiedenen Flügeln der Christdemokratie. Offenbar war es manchmal leichter, mit der Opposition zu Kompromissen zu kommen als mit den Parteifreunden. Am Ende geht es aber immer wieder darum, Wahlen zu gewinnen.

Sehr ernst sollte man zwei Warnungen nehmen, die in Schäubles Erinnerungen mehrmals auftauchen: zum einen seine Feststellung, dass wir uns in Deutschland in einer überbordenden Bürokratie festgefahren haben, zum anderen, dass die Grenze zwischen dem, was im Parlament politisch legitimiert entschieden werden muss, und dem, was die Justiz, insbesondere auch das Bundesverfassungsgericht entscheidet, sich zu sehr zugunsten der Gerichte verschoben hat. Schäuble betreibt keine Gerichtsschelte, aber er bedauert, wie sehr in Fragen der Asyl- und Migrationspolitik, aber auch beim Parlamentsvorbehalt bei Militäreinsätzen, die gerichtlichen Festlegungen politische Entscheidungen blockieren, die in neuen Situationen eigentlich flexibel reagieren müssen.

Doch Schäuble erhebt kein Lamento. Er akzeptiert, dass Demokratie schwierig ist, ständig Kompromisse und auch Niederlagen einschließt und nie perfekt ist – für ihn ist Demokratie ein so hoher Wert, dass dafür auch solche Frustrationen in Kauf genommen werden müssen.


Wolfgang Schäuble wurde 1972 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. Meine diplomatische Karriere begann 1974. Seit 11 Jahren bin ich als „Beamter auf Lebenszeit“ pensioniert, also „außer Dienst“. Schäuble blieb bis zu seinem Lebensende „im Dienst“ als Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Ich erwähne dies, weil ich Wolfgang Schäuble persönlich und politisch als Zeitgenossen empfinde (auch wenn er fast sechs Jahre älter war als ich). Damit erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten, doch bei den Begegnungen mit ihm, auf seinen Dienstreisen im Ausland, in Bundestagsausschüssen, bei der Islamkonferenz, in Zusammenhang mit der Finanzkrise oder bei formellen Anlässen, hat mich dieser Politiker tief beeindruckt. Wolfgang Schäubles Erinnerungen sind lesenswert und bedenkenswert.