Miasmenlehre Samuel Hahnemanns

Post date: 05.03.2011 06:56:13

Zur Standortbestimmung der Miasmenlehre

Samuel Hahnemanns zu Beginn des 21. Jahrhunderts

(Gekürzte Fassung eines Vortrags von Dr. med. Christa von der Planitz, Bayreuth, vor dem Homöopathischen

Weltkongress in Berlin 2005)

Die Miasmenlehre ist eine vom Begründer der klassischen Homöopathie, Samuel Hahnemann, entwickelte Theorie zur Entstehung chronischer Krankheiten. Sie gilt nach seiner eigenen Einschätzung als sein wichtigstes Lebenswerk.

Angesichts der Fortschritte der akademischen Medizin in den vergangenen zwei Jahrhunderten seit Hahnemann ist es an der Zeit, dass unsere Generation überprüft, ob seine Lehre einer kritischen Sicht noch Stand hält. Dabei sind folgende Fragen von Bedeutung:

• Welchen Anspruch hatte Hahnemann an seine Miasmenlehre?

• Ist die Miasmenlehre für uns lediglich von theoretischem Interesse oder ist sie praktisch umsetzbar in Arzneidiagnose und Fallstrategie?

• Ist es überhaupt nötig, neben dem Ähnlichkeitsprinzip eine weitere Theorie anzuwenden, zumal sie das Ähnlichkeitsprinzip teilweise in Frage zu stellen scheint?

1. Die historischen Wurzeln

Die Kernaussagen der Miasmenlehre Hahnemanns sind:

• Es gibt drei miasmatische Grundformen, die die gesamte Vielfalt der Erscheinungsformen chronischer Krankheiten abdecken, nämlich Psora, Sykosis und Syphilis.

• Chronische Krankheiten sind Folgen dieser Miasmen. Sie heilen niemals spontan aus.

• Miasmen bzw. chronische Krankheiten entstehen durch „Ansteckung“ und werden manifest durch Unterdrückung.

In die heutige Wissenschaftssprache übersetzt, bedeuten die beiden zentralen Begriffe „Ansteckung“ und „Unterdrückung“ Folgendes:

Chronische Krankheiten entstehen durch Übertragung einer krankmachenden Information und durch unzweckmäßige Eingriffe in die äußerst komplizierten und komplexen kybernetischen Vorgänge des Organismus, d. h. dessen Steuerungs- und Regelungsvorgänge.

2. Die historische Entwicklung

Bedeutende Homöopathen wie C. v. Boenninghausen, J. H. Allen und P S. Ortega haben sich der Weiterentwicklung der Miasmenlehre gewidmet. Ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen können hier im Einzelnen nicht dargelegt werden, doch führt eine klare Erbfolge von Hahnemann über v. Boeninghausen und Allen zu Ortega.

Während v. Boenninghausens Verdienst darin besteht, dass er die immense Bedeutung äußerer Krankheitszeichen für die Diagnose und Therapie des zugrunde liegenden Miasmas erkannte, ist Allens Bedeutung darin zu sehen, dass er zwischen latenten und aktiven miasmatischen Zustandsformen unterschied und in diesem Zusammenhang den sog. Symptomeninbegriff neu fasste. In erster Linie werden dabei die Symptome des aktiven Miasmas berücksichtigt - u. U. nur 3-4 Symptome - und das dazu am besten passende Mittel ausgewählt.

Ortega geht noch weiter: Für ihn dient die Miasmenlehre nicht nur dem Verständnis der körperlichen Krankheitsvorgänge, sie ist für ihn der Schlüssel zur Erkenntnis des menschlichen Wesens überhaupt, zur Erfassung der Einheit von Leib, Seele und Geist. Seine wichtigste Erkenntnis ist dabei die Formel:

Psora = Erkrankung des Mangels

Sykosis = Erkrankung des Überschusses

Syphilis = Erkrankung der Destruktion

3. Das heutige Bild der Miasmenlehre

Um die Miasmenlehre aus einer kritischen Distanz heraus überprüfen zu können, wäre es wünschenswert, wenn die moderne akademische Medizin ebenfalls Modellvorstellungen zum Verständnis chronischer Krankheiten entwickelt hätte. Leider ist bisher ein Vergleich wegen des Mangels ähnlicher kybernetischer Modelle in der akademischen Medizin nicht möglich. Immerhin wird der Theorieansatz Ortegas durch Veröffentlichungen des Erlanger Immunologen Prof. Dr. Baenkler gestützt. Er beschreibt drei Grundreaktionen immunologischer Erkrankungen:

• Erkrankungen, die durch eine Schwäche von Abwehrmechanismen charakterisiert sind = Psora,

• Erkrankungen, deren Kennzeichen eine überschießende Reaktion der Immunvorgänge ist = Sykose,

• Erkrankungen mit selbstzerstörischer Potenz = Syphilinie.

Dabei sind die Begriffe Psora, Sykose und Syphilinie selbstverständlich nicht identisch mit den jeweiligen klinischen Diagnosen, sondern werden vielmehr als eine Metapher gebraucht, um chronische Krankheiten beschreiben zu können, welche die Tendenz der Schwäche des Überschusses oder der Zerstörung aufweisen.

4. Klinische Aspekte zum Verständnis der Miasmen

4.1 Äußerungen der Psora

Psora, dieses aus Unvermögen und Mangel geborene Miasma, präsentiert sich heute klinisch besonders als „Krankheit ohne Ort“ mit ständigem Etagenwechsel - am häufigsten aktiviert durch Unterdrückung von Hautkrankheiten. So führt unterdrückter Hautausschlag zu Asthma, Unterdrückung von Schweiß kann hartnäckige Kopfschmerzen nach sich ziehen, etc.

Hahnemanns Konzept der Psora, alle psorischen Hautreaktionen auf eine Ansteckung mit der Krätzemilbe (Scabies) zurückzuführen, wurde m. E. häufig fehlinterpretiert. Sie ist aus heutiger Sicht so zu verstehen, dass chronische Krankheiten sich ursprünglich von außen – von der Haut aus – nach innen entwickeln. Dafür liefert uns die (zu seiner Zeit weit verbreitete) Krätze nur e i n Modell von mehreren.

Davon abgesehen mehren sich heute aber auch in der akademischen Medizin Belege für einen Zusammenhang zwischen Milbenerkrankungen und bestimmten funktionellen Störungen sowie Veränderungen bei der Reaktionsweise des Immunsystems (z. B. bei der Skabies norvegica).

4.2 Das klinische Bild der Sykose

Die Sykose ist das Miasma des Verlustes funktionsfähiger Substanz durch Ausuferung bzw. Überschuss einerseits und Verdichtung und Verschlackung andererseits. Die vererbte Sykose, durch die Vorfahren in das Erbgut gelangt, hat viele Gesichter. Eines davon, das der Gonokokkeninfektion (Ursache der Gonorrhoe) klinisch ähnelt, ist die Chlamydieninfektion. Sie führt nicht nur zu hartnäckigen chronischen Erkrankungen des Urogenitaltraktes, sondern typischerweise auch zu chronischen Gelenkerkrankungen und gedeiht in Organen, die als sichtbare Auswirkungen von Nahrungsüberschuss Einlagerungen von Lipiden bilden – besonders gefährlich in den Herzkranz- und Hirngefäßen.

4.3 Spielarten der Syphilinie

Die Syphilis ist eine durch schleichenden Verfall ohne Hoffnung auf Regeneration gekennzeichnete Krankheit. Diese kann sich auf körperliche Prozesse wie etwa degenerative Nervenkrankheiten erstrecken, sie kann sich aber auch auf der psychischen Ebene manifestieren. Solche syphilinischen Prozesse sind - ganz plakativ geschildert - vergleichbar mit einem Terrorakt, der unter größter Geheimhaltung vorbereitet wird und plötzlich und völlig unvermutet bei opportun erscheinenden Verhältnissen eskaliert.

5. Die antimiasmatische Behandlung

Die Behandlung miasmatischer Belastungen wirft eine Reihe grundsätzlicher therapeutischer Probleme auf, welche nur anhand einzelner Fallbeispiele erläutert werden können. Da hiervon abgesehen werden muss, seien abschließend die Schlussfolgerungen aus den vorliegenden therapeutischen Erfahrungen skizziert.

• Die Verschreibung auf die Gesamtheit der Symptome hin reicht nicht immer aus, um schwerwiegende miasmatische Pathologien zu beeinflussen.

• Die Miasmenlehre gibt uns die Möglichkeit, die Tiefe vererbter Pathologien richtig einzuschätzen und folgerichtig zu behandeln.

• Die Miasmenlehre steht keinesfalls im Widerspruch zu der Verschreibung auf die Essenz oder den Geist der Arznei - im Gegenteil, sie ist eine ideale Ergänzung.

Die Miasmenlehre stellt eine Ganzheitssicht chronischer Krankheiten dar, indem sie sowohl erbliche Belastung und Konstitution als auch den individuellen psychosomatischen Hintergrund berücksichtigt und gleichzeitig die zeitliche Reihenfolge pathologischer Entwicklungen beachtet und therapeutisch umsetzt.

Dennoch gibt es noch viel zu tun:

• Es muss noch mehr Sicherheit in der Diagnostik nicht nur der aktiven, sondern auch der latenten Miasmen erworben werden.

• Das Verzeichnis miasmatischer Symptome muss verlässlich ausgebaut werden.

• Besonders aber gilt es, die miasmatischen Verschiebungen und Verflechtungen noch besser zu verstehen, um sie mit der Zeit in der richtigen Reihenfolge abtragen zu können.

Dr. med. Christa von der Planitz