OpenMind

Unsere moralischen Intuitionen

Warum sind Menschen gerade zu ethisch-moralischen Themen so gespalten?

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt ist Mitbegründer von OpenMind. Er erforscht die Facetten der menschlichen Moral. Eine bedeutende Erkenntnis von Haidt und seinen Kollegen ist, dass auch moralisches Urteil vor allem auf schnellen und automatischen Prozessen basiert, statt auf langsamem, bewusstem und rationellem Denken. Menschen neigen dazu, durch Intuitionen geleitet schnell zu entscheiden, was moralisch “richtig” und “falsch” ist, und erst danach durch bewusstes, rationalisierendes Denken Gründe zu finden, die ihre anfänglichen intuitiven Reaktionen unterstützen. 

Durch eine Vielzahl von Studien stellten Jonathan Haidt und Kollegen fest, dass Menschen egal welcher Herkunft eine Reihe von moralischen Intuitionen gemeinsam haben. Demnach haben Menschen ähnliche Fähigkeiten, auf bestimmte soziale Situationen emotional und intuitiv zu reagieren.  Jede Kultur oder Gemeinschaft bildet jedoch ihr eigenes "moralisches Grundgerüst" aus diesen moralischen Intuitionen, geprägt durch (oder gar als Anpassung an) geschichtliche und sozial-ökologische Gegebenheiten. So unterscheiden sich Menschen und Menschengruppen darin, auf welche bestimmten sozialen Reize sie wie stark reagieren. 

Jonathan Haidt

Die folgenden sechs moralischen Intuitionen wurden bisher identifiziert: 

Man kann sicherlich noch andere moralische Intuitionen identifizieren, je nachdem wie eng oder weit gefasst man sie definiert. So wurden z.B. auch moralische Intuitionen für "Wahrheit, "Ehrlichkeit" und "Eigentum" vorgeschlagen (mehr dazu hier).

Wer zur "Gruppe" gehört ist dabei höchst variabel und kann sich je nach Gegebenheit schnell ändern. Denn Menschen gehören in der Regel vielen verschiedenen Gruppen an. Je nach Situation kann die Gruppe z.B. die eigene Familie, der Stamm oder die Gemeinde, der Freundeskreis, die Nation, die religiöse Gemeinde, die Fangruppe, die politische Bewegung, die Berufsgruppe, alle Menschen, alle Lebewesen/die "Natur", alle ähnlich Handelnden und Denkenden sein. 

Gerechtigkeitssinn

Gerechtigkeitssinn ist einer unserer menschlichen "moralischen Intuitionen".  So gut wie alle Menschen, egal welcher Kultur und sozialer Herkunft sie angehören, scheinen einen Gerechtigkeitssinn zu haben, auch wenn sich dieser in ganz unterschiedlichen Situationen bemerkbar macht und unterschiedlich stark ausgeprägt ist. 

Was "gerecht" erscheint, ist oft vom Kontext, den Betroffenen und der eigenen Rolle in der Situation abhängig - soll zum Beispiel jeder bedingungslos gleich behandelt werden, sollen diejenigen bevorzugt behandelt werden, die es "verdient haben" indem sie selbst viel beigetragen haben, oder sollen diejenigen bevorzugt behandelt werden, die dies aufgrund ihrer Situation benötigen? Diese Mehrdeutigkeit von "Gerechtigkeit" führt oft zu Meinungsverschiedenheiten, und so kommt unser Gerechtigkeitssinn bei vielen Auseinandersetzungen im Alltag und in der Gesellschaft zum Tragen. Die sozial-emotionalen Ansätze dieses Gerechtigkeitssinns finden wir auch in anderen Tierarten, welche in Gruppen leben. 

Wölfe mit Gerechtigkeitssinn? Biologen untersuchen, inwieweit eine Wahrnehmung und aggressive Reaktion auf ungleiche Verteilung von Ressourcen auch in anderen sozial lebenden Tierarten vorhanden ist.

Warum haben wir diese moralischen Intuitionen?

Woher kommen unsere moralischen Intuitionen, und warum haben wir sie? Diese Fragen nach dem warum und woher können wir auf verschiedene Art und Weise beantworten: 

Aufgrund unserer Evolutionsgeschichte sind wir Menschen hochsoziale Wesen, und unsere sozialen Intuitionen und Emotionen sind Teil unseres evolutionären Erbes.  Sie halfen unseren Vorfahren,  in ihrer sozialen Umwelt zu navigieren, das Sozialverhalten anderer zu bewerten und gegebenenfalls darauf zu reagieren, und so das Zusammenleben zu regeln. Will uns diese Person böses antun? Geht es meinem Kind gut? Habe ich genug abbekommen? Ist das ungerecht? Ist das Verrat? Gehört dieser Mensch einer gefährlichen Gruppe an? Verhalten sich alle nach den Regeln? Bin ich gut genug für meine Gruppe? Sind die anderen gut genug für unsere Gruppe? Gefährdet jemand das Zusammenleben? Nutzt uns jemand aus? Wer hat Schuld? usw. 

Auch die moralischen Intuitionen erfüllten und erfüllen also wichtige Funktionen für das gesellschaftliche Zusammenleben und Fortbestehen der Gruppe.  Doch sie können, ähnlich wie andere kognitive Verzerrungen, unter bestimmten Bedingungen auch "fehlzünden" und zu negativen Konsequenzen führen. 

In diesem Video werden die moralischen Intuitionen, ihre Funktionen und ihr evolutionärer Ursprung anschaulich dargestellt und zusammengefasst (auf englisch).

Transkript Englisch, Deutsch

Forschung mit Kleinkindern geht der Frage nach, inwieweit ein Sinn für "gut" und "schlecht", eine Unterscheidung zwischen "wir" und "die anderen" angeboren sind.

Transkript Englisch, Deutsch

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"Morality binds and blinds" - Moralität verbindet uns, und macht uns blind!

Unsere sozialen und moralischen Intuitionen scheinen also wichtige Funktionen für das Zusammenleben unserer Vorfahren gespielt zu haben. Gemeinsame Überzeugungen darüber, was "wahr" und "wichtig" ist, und welche Verhaltensweisen "normal" und welche "unnormal" sind, sorgen dafür, dass Gruppenmitglieder eine gemeinsame Identität entwickeln, ihr Zusammenleben regeln, gemeinsam auf Ziele hinarbeiten, Probleme lösen und sich füreinander einsetzen. So finden sich Menschen auch heute leicht in Gruppen von Gleichgesinnten zusammen, welche allmählich ihre eigenen Sitten, Sprachen, Verhaltensweisen und Regeln entwickeln. 

Die eigene Gruppe, ihre Sitten und ihre Überzeugungen erscheinen dabei als "gut", "normal" und "gerechtfertigt", und unter Umständen als "überlegen" und moralisch auf der "richtigen" Seite. Doch die Schattenseite davon ist, dass  Außenstehende um so mehr als "anders", "schlecht", "gefährlich", "ignorant" und "moralisch verwerflich" erscheinen können.  Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der Eindruck ensteht, dass sie für die eigene Gruppe eine Gefahr darstellen.

In der Psychologie wird diese verzerrte Wahrnehmung und Bewertung der eigenen und der anderen Gruppen Ethnozentrismus genannt. Ethnozentrismus prägt die Geschichte der Menschheit und auch heutige menschliche Gesellschaften.  In Zeiten der Unsicherheit, des Mangels oder der Vernachlässigung sind Menschen besonders anfällig auf Botschaften und Hinweise, dass Außenstehende oder Andersdenkende eine Gefahr darstellen bzw. die Verursacher der wahrgenommenen Probleme sind.

“Morality binds and blinds. It binds us into ideological teams that fight each other as though the fate of the world depended on our side winning each battle. It blinds us to the fact that each team is composed of good people who have something important to say.”


Jonathan Haidt (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. 

Unterrichtsidee: SchülerInnen suchen in den Medien (oder in historischen Quellen) nach Texten oder Bildern, in welchen der Autor diese menschliche Eigenschaft ausnutzen und Angst oder Aggression gegenüber einer bestimmten Gruppe schüren will (politische Reden, Blog Posts, Demo-Schilder, etc.). Welche Worte, Phrasen oder Bilder werden verwendet? Welche Wirkungen werden bei den Hörern/Lesern/Zuschauern erzeugt?

"Moralische Geschmacksnerven"

Jonathan Haidt vergleicht die sechs moralischen Intuitionen mit unseren Geschmacksnerven. Diese Analogie kann helfen, den evolutionären Ursprung und die individuelle Entwicklung der moralischen Intuitionen, und die Variation in "moralischen Geschmäckern" zu verstehen.

"Wir Menschen haben alle die gleichen fünf Geschmacksrezeptoren, aber wir mögen nicht alle die gleichen Nahrungsmittel ... Die Tatsache, dass jeder einen Rezeptor für “Süß” hat, kann uns nichts darüber sagen, warum eine Person thailändisches Essen bevorzugt. Es ist das gleiche für das moralische Urteilen. Um zu verstehen, warum Menschen durch moralische Probleme so gespalten sind, können wir mit der Erforschung unseres gemeinsamen evolutionären Erbes beginnen, aber wir müssen auch die Geschichte jeder Kultur und die Sozialisierung der Kindheit jedes Einzelnen in dieser Kultur untersuchen. (...)

In dieser Analogie ist Moral wie Küche: Sie ist eine kulturelle Konstruktion, die von mehr oder weniger zufälligen Gegebenheiten der Umwelt und der Geschichte beeinflusst ist, aber sie ist nicht so flexibel, dass alles möglich ist. Man kann keine Küche auf der Basis von Baumrinde haben, noch kann man eine basierend auf bitterem Geschmack haben. Die Küche von Regionen und Kulturen variiert, aber sie alle müssen den Zungen schmecken, die mit den gleichen fünf Geschmacksrezeptoren ausgestattet sind. Moralische Grundlagen variieren, aber sie alle müssen moralisch-sozialen Köpfen gefallen, die mit den gleichen sechs moralischen “Rezeptoren” ausgestattet sind. " 


Quelle: Haidt (2012). The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. S. 113, 114, übersetzt aus dem Englischen Original.

Literaturangaben