Domestizierung und Landwirtschaft
Über die meiste Zeit unserer Evolutionsgeschichte ernährte sich unserer Art durch das Jagen und Sammeln von Tieren und Pflanzen in der Umwelt. Eine Neuerung mit weitreichenden Folgen war die “Erfindung” von Landwirtschaft.
Landwirtschaft ist eine Art Ko-Evolution oder Symbiose von Menschen und anderen Lebewesen: Bestimmte Pflanzen- und Tierarten, die in der Umgebung vorhanden waren, wurden von Menschen bevorzugt gegessen, für Kleidung, Werkzeuge und andere Zwecke verarbeitet, oder Tiere wurden für Schutz und Arbeit eingesetzt. Diese bevorzugte Nutzung bestimmter Arten führte dazu, dass Menschen diese Arten wiederum bevorzugt behandelten, fütterten oder beschützen, oder dass sich die Samen und keimende Pflanzenteile von genutzten Pflanzenarten in ihrem Umfeld ansammelten und vermehrten. So begann die Domestizierung - die natürliche Selektion von Lebewesen, in der der Mensch Selektionsfaktor ist (auch “künstliche Selektion” genannt, besonders in der neuern Zeit, in der die Selektion von Merkmalen durch absichtlich durchgeführte, wissenschaftliche Zucht erfolgt).
Diese Koevolution veränderte die Gene sowohl von den domestizierten Pflanzen- und Tierarten, als auch von Menschen. Denn Landwirtschaft veränderte die Ernährungsweise von Menschen, welche sich durch biologische Evolution an diese Ernährungsweise anpassten. Ein Drittel der Menschen haben heute z.B. eine Laktose-Toleranz, d.h. sie vertragen Milch und Milchprodukte auch im Erwachsenenalter. Dies sind hauptsächlich Menschen, die aus Regionen kommen, in denen Tierhaltung und Milchverarbeitung eine lange Geschichte haben.
Koevolution zwischen Arten: eine Wechselbeziehung, in der die eine Art den Überlebens- und Fortpflanzungserfolg der anderen Art beeinflusst, und umgekehrt. So können in beiden Arten Merkmale entstehen, die sie voneinander abhängig machen.
Beispiel Laktose-Toleranz
Menschen fingen in einigen Regionen an, in Wechselwirkung mit Wiederkäuern in ihrer Umwelt zu treten: sie nutzten sie für verschiedene Zwecke, und boten den Wiederkäuern dafür Schutz und Nahrung. Diejenigen, die auch die nährreiche Milch der Wiederkäuer verwerten konnten, hatten höhere Überlebens- und Fortpflanzungschancen als andere. Unter denjenigen, welche eine Milchkultur betrieben, hatten diejenigen wiederum höhere Überlebens- und Fortpflanzungschancen als andere in ihrer Population, welche die nährreiche Milch auch im Erwachsenenalter vertrugen. Ein Gen, welches die Milchzuckerverdauung über die Stillzeit hinaus erlaubt, tauchte zufällig in diesen Populationen auf. Unter den kulturellen Umweltbedingungen der Milchkultur hatten die Träger dieses Gens einen Selektionsvorteil. Das Gen breitete sich so durch natürliche Selektion in den Populationen aus, die eine Milchkultur hatten.
Die Evolution von Laktose-Toleranz ist ein Beispiel für Gen-Kultur-Koevolution.
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Menschen sind nicht die einzigen Arten, die solch eine Symbiose mit anderen Arten eingegangen sind. Neben dem Menschen betreiben auch einige Insekten-Arten eine Züchtung und Kultivierung von anderen Arten: z.B. die Blattschneideameisen, welche seit 50 Millionen Jahren bestimmte Stämme von Pilzen in ihren Nestern züchten und kultivieren. Die Ameisen sind von diesen kultivierten Pilzstämmen abhängig, denn sie sind ihre einzige Nahrungsquelle. Die Pilzstämme sind wiederum von den Ameisen abhängig, denn sie genießen eine von den Ameisen für sie vorbereitete Umwelt, in der sie vor der Konkurrenz mit anderen Pilzstämmen geschützt sind.
Die Domestizierung von Arten ist also nicht an eine besondere "Intelligenz" oder eine "bewusste Absicht" gebunden. So können wir uns vorstellen, dass auch der Beginn der Domestizierung durch Menschen nicht unbedingt durch eine bewusste Absicht einiger Individuen entstanden ist. Vielmehr entstand sie aus einer Wechselwirkung zwischen Menschen und anderen Arten in ihrer biologischen Umwelt, die über viele Generationen dazu führte, dass die Arten ihre Evolution gegenseitig beeinflussten und schließlich in dauerhafter Wechselbeziehung koexistierten.
Cossins, D. (2015). Amazing animal farmers that grow their own food. BBC
Unterrichtsmaterial: "Landwirtschaft" von Menschen und Blattschneideameisen vergleichen (in Bearbeitung)
Verglichen mit der Pilz-Kultivierung der Blattschneideameisen ist die menschliche Landwirtschaft sehr jung - sie entstand vor ca. 10000 - 4000 Jahren parallel in mehreren Regionen der Welt. Durch die Ko-Evolution von Mensch und domestizierten Arten konnte mehr Nahrung, und nährstoffreichere Nahrung, aus der Umwelt gewonnen werden, als durch Jagen und Sammeln von "wilden" Arten, deren Evolution nicht von einer Wechselbeziehung mit Menschen beeinflusst wurde. So ist die Ernährung unserer Population zunehmend von der Landwirtschaft abhängig geworden.
Landwirtschaft trug erheblich zu einem Anstieg der Gruppengrößen und einem Anstieg der Population unserer Art bei. Darüber hinaus konnten oder mussten Nahrungsmittel zunehmend vorrätig gelagert werden, und domestizierte Tiere mussten versorgt werden. All dies wirkte sich auch auf die soziale Organisation unserer Art aus: es begann die Sesshaftigkeit, die Anreicherung von Besitztum, die Ausbildung von Hierarchien in menschlichen Gruppen, die Möglichkeit, anderen Vorräte und Besitz durch Gewalt zu entwenden, und die Notwendigkeit, Besitztum vor anderen zu schützen.
Carel von Schaik & Kai Michel (2016): Der Sündenfall. Als die Menschheit sesshaft wurde, handelte sie sich gewaltige Schwierigkeiten ein – und brachte die kulturelle Evolution auf Hochtouren. Die beste Quelle dafür ist ein Buch, das jeder kennt: Die Bibel. Die Zeit Nr. 39/2016. https://www.zeit.de/2016/39/anthropologie-bibel-sesshaftigkeit-evolution/komplettansicht
In dem Artikel geht es um die drastischen Veränderungen in den Lebensumständen unserer Vorfahren, die mit der Domestizierung und Sesshaftwerdung einhergingen und die kulturelle Evolution beschleunigten.
Die Ursprungszentren der Landwirtschaft: der fruchtbare Halbmond (vor 11.000 Jahren), Gebiet am Yangtze und Gelben Fluss (vor 9.000 Jahren), Neu-Guinea (vor 9.000–6.000 Jahren), Zentral Mexiko (vor 5.000–4.000 Jahren), Süd-Amerika (vor 5.000–4.000 Jahren), Sub-Sahara Afrika (vor 5.000–4.000 Jahren, genaue Region unbekannt), östliches Nord-Amerika (vor 4.000–3.000 Jahren)
Domestizierung von Hunden und anderen Haustieren
In diesem Video geht es um die Domestizierung - oder “Zähmung durch Züchtung” - von Füchsen, ein russisches Forschungsprojekt, das seit den 1950er Jahren durchgeführt wird. Es zeigt, welche Verhaltensmuster der Füchse bei der Züchtung selektiert wurden, was über die genetischen Anlagen für diese Verhaltensmuster herausgefunden wurde, und inwieweit die Züchtung von Füchsen mit der Züchtung von Hunden vergleichbar ist.
siehe auch: Volkart Wildermuth (2019). Zuchtexperiment in Sibirien. Wie Füchse zutraulich werden. Deutschlandfunk Kultur. https://www.deutschlandfunkkultur.de/zuchtexperiment-in-sibirien-wie-fuechse-zutraulich-werden.976.de.html?dram:article_id=418635
Mögliche Diskussionsfragen zum Video:
Welche Merkmale wurden selektiert bzw. waren für die Zucht von Füchsen (und auch Hunden) von Interesse?
Was bedeutet "hyper-sociability"? Welche Verhaltensmerkmale sind damit verbunden?
Beschreibe das einfache Experiment, das die Züchter durchführen, um die Geselligkeit (sociability) von Hunden, Füchsen und anderen domestizierten Tieren zu bewerten.
Wird zahmes und freundliches Temperament nur durch vererbte Gene bestimmt? Wenn nein, durch welche anderen Faktoren?
Warum erforschen Genetiker das Genom von gezüchteten Füchsen anstelle von gezüchteten Hunden, um zu verstehen, welche Bereiche des Genoms für ein zahmes, freundliches Temperament beeinflussen?
Welche äußeren Merkmale / Körpermerkmale sind noch mit Domestizierung verbunden, zusätzlich zu sozialem Temperament?