Aufrechter Gang
Veränderungen der Umweltbedingungen
Vor ca. 6 Mio Jahren begann allmählich eine globale Veränderung des Klimas. Dies wurde u.a. durch Oszillationen in der Erdumlaufbahn hervorgerufen (sog. Milankovic-Zyklen). Das globale Klima wurde allmählich kühler, aber auch zunehmend unstabiler. Kühl-trockene und feucht-warme Phasen wechselten sich ab.
Hebungen im Ostafrikanischen Grabenbruch führten außerdem dazu, dass sich das Klima und die Landschaft in Ost-Afrika besonders stark veränderten. Es entstand eine mosaikartige Landschaft aus Seen, Bergen, Tälern und Baumsavannen.
Veränderungen des Klimas in der Vergangenheit können Forscher mithilfe von Meeressedimenten untersuchen.
Im linken Diagramm zeigen hohe Werte eine wärmere Erdtemperatur und niedrige Wert eine kühlere Erdtemperatur an.
Die Veränderung des Klimas führte zu Veränderungen der Landschaft. Dichter Regenwald verwandelte sich allmählich zu einer Baum- und Strauchsavanne.
Wenn sich die biotischen und abiotischen Umweltbedingungen ändern, ändern sich auch die Vor- und Nachteile, die bestimmte Verhaltensweisen und andere Merkmale für das Überleben von Organismen haben. Man spricht von der Funktion oder Auswirkung von Merkmalen: Welche Funktionen oder Auswirkungen hat ein Merkmal unter gegebenen Umweltbedingungen für das Überleben und die Fortpflanzung eines Organismus?
Je nach Umweltbedingungen sind zum Beispiel bestimmte Ernährungsweisen vorteilhafter als andere. Je nach Umweltbedingungen sind auch bestimmte Fortbewegungsarten vorteilhafter als andere. Viele Lebewesen können ihr Verhalten zwar schnell ändern und sind mehr oder weniger flexibel. Lebewesen können jedoch im Laufe ihres Lebens nicht ihren Körperbau oder andere morphologische und physiologische Merkmale verändern. Die Veränderung dieser Merkmale geschieht nur auf der Ebene einer Population - diejenigen, deren Merkmale bewirken, dass sie besser überleben und sich fortpflanzen können als andere, werden mehr Nachkommen haben, und das Merkmal wird so vermehrt in der Population auftreten.
Das Zusammenspiel zwischen Umweltbedingungen, Verhalten, körperlichen Merkmalen, und deren Vor-/Nachteile für das Überleben und die Fortpflanzung, kann über viele Generationen dazu führen, dass sich bestimmte Fortbewegungsarten in einer Population ausbreiten.
Ursache-Wirkungs-Diagramm zur natürlichen Selektion des Merkmals "Aufrechter Gang"
Vor ca. 6 Mio Jahren begannen die Umweltbedingungen, unter denen unsere Vorfahren lebten, sich zu verändern. Die Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt veränderten sich allmählich und über viele Generationen, von einem tropischen Regenwald, hin zu einer Baum- und Strauchsavanne.
Die Umweltbedingungen der Savanne bewirkten, dass ein aufrechter Gang viele Vorteile für das Überleben und den Fortpflanzungserfolg (Fitnessvorteil) hatte.
So wirkten diese Bedingungen als Selektionsdruck für den aufrechten Gang. Hominide, die aufrecht gingen (unabhängig davon, ob sie sich der Vorteile "bewusst" waren oder dieses Verhalten "mit Absicht" ausführten), würden einen Fitnessvorteil gegenüber denjenigen in ihrer Population haben, welche dieses Verhalten nicht ausführten. Unter denen, die vermehrt aufrecht gingen, hatten wiederum diejenigen einen Fitnessvorteil, deren Körper dieses Verhalten ermöglichte, erleichterte, oder effizienter machte. Unter denen, die die besten körperlichen Voraussetzungen für den aufrechten Gang hatten, hatten diejenigen wiederum einen Fitnessvorteil, deren unterschiedliche genetische Veranlagung diesen Vorteil ermöglichte. Ihre Merkmale würden an ihre Nachkommen vererbt werden, welche ebenfalls einen Fitnessvorteil aufgrund der verbesserten Fähigkeit für den aufrechten Gang erfahren würden.
All dies bewirkte die natürliche Selektion des Verhaltens "aufrechter Gang", der Körperstrukturen, die den aufrechten Gang ermöglichen, und der Gene, die an der Ausbildung dieser Körperstrukturen beteiligt sind, in den Populationen unserer Vorfahren. Wir haben diese Merkmale von ihnen geerbt.
Wenn wir ein Merkmal in einer Population vorfinden, weil es den Überlebens- und Fortpflanzungserfolg erhöht und durch natürliche Selektion entstanden ist, spricht man von einer Anpassung. Das Merkmal trägt dazu bei, dass ein Lebewesen oder eine Population an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst ist.
Die Rolle der sozialen Umwelt in der Entwicklung des Merkmals "aufrechter Gang"
Das aufrechte Gehen lernen wir erst im Laufe unseres ersten Lebensjahres. Unsere soziale Umwelt hilft uns hierbei - Eltern und andere Menschen, die uns Halt geben und uns anspornen.
Würden wir als Baby genauso gut und schnell aufrecht laufen lernen, wenn nicht alle anderen Menschen in unserem sozialen Umwelt aufrecht liefen und uns beim Lernen dieses Verhaltens unterstützten?
Wie könnte das oben dargestellte Ursache-Wirkungs-Diagramm erweitert werden, um auch die Rolle der sozialen Umwelt in der Entwicklung des Merkmals "aufrechter Gang" abzubilden?
Ursache-Wirkungs-Diagramm, welches die zusätzliche Rolle der sozialen Umwelt in der Entwicklung des Merkmals "aufrechter Gang" abbildet.
Ein Weg, die Rolle des sozialen kulturellen Umfelds bei der Entwicklung des aufrechten Gehens zu verstehen, besteht darin, Babys in verschiedenen Kulturen zu untersuchen. Wissenschaftler stellen fest, dass die Entwicklung von motorischen Fähigkeiten von Kindern unterschiedlicher Kulturen in der Tat sehr unterschiedlich ist - mehr als bisher angenommen - , und dies scheint mit kulturellen Unterschieden in Bezug auf Erziehungspraktiken, Gewohnheiten und Überzeugungen der Eltern zu tun zu haben.
Menschen, die auf allen Vieren laufen?
In den letzten zehn Jahren sind Wissenschaftler auf Menschen aufmerksam geworden, die nicht die Fähigkeit entwickelt haben, aufrecht zu gehen, sondern gewohnheitsmäßig auf Händen und Füßen gehen. Dieses Phänomen ist als Uner-Tan-Syndrom bekannt geworden, benannt nach dem Wissenschaftler, der es erstmals in einer türkischen Familie dokumentiert hat.
Wissenschaftler haben diese Fälle untersucht, um zu verstehen, warum diese Personen diese Form der Fortbewegung entwickelten. Dieses Phänomen bietet einzigartige Möglichkeiten, um über die Ursachen und Einflussfaktoren in der Entwicklung der menschlichen Fortbewegung im Unterricht nachzudenken.
Auf Youtube gibt es verschiedene Videos zu diesem Phänomen, darunter:
eine BBC-Dokumentation "The Family that Walks on All Fours", in deutsch erschienen als "Ein Leben auf allen Vieren".
Literaturangaben
Academy of Pediatric Physical Therapy (2018). Motor Development Variations Across Cultures Implications for Culturally Competent and Family-Centered Pediatric Care. Academy of Pediatric Physical Therapy Fact Sheet/Resource. Retrieved from http://www.apta.org/CulturalCompetence/Vision/
Carvalho, S., Biro, D., Cunha, E., Hockings, K., McGrew, W. C., Richmond, B. G., & Matsuzawa, T. (2012). Chimpanzee carrying behaviour and the origins of human bipedality. Current Biology, 22(6), R180–R181. https://doi.org/10.1016/j.cub.2012.01.052
Gupta, S. (2019). Culture helps shape when babies learn to walk. Motor development models based on Western standards are too narrow. Science News. https://www.sciencenews.org/article/culture-helps-shape-when-babies-learn-walk?fbclid=IwAR0uZEVwnC_BiUIbPhBU6adNIXL-HD4oGDTyzh1QnBB8M0QBLH9YDg-qLj4
Humphrey, N., Skoyles, J. R., & Keynes, R. (2005). Human Hand-Walkers: Five Siblings Who Never Stood Up. CPNSS Discussion Paper. https://doi.org/10.1111/j.0006-341X.2005.171_1.x
Karasik, L. B., Adolph, K. E., Tamis-Lemonda, C. S., & Bornstein, M. H. (2010). WEIRD walking: Cross-cultural research on motor development. Behavioral and Brain Sciences, 33(2–3), 95–96. https://doi.org/10.1017/S0140525X10000117
Rachwani, J., Hoch, J. E., & Adolph, K. E. (in press). Action in development: Variability, flexibility, and plasticity. In Tamis-LeMonda, C. S., & Lockman, J. J. (Eds.). Handbook of infant development. Cambridge University Press.