Und nun zum Abschluss: Wir werden öfters den Begriff «Historiologie» anstelle der Begriffe «Historiographie» bzw. «Geschichtsschreibung» verwenden, da die beiden letzteren von so vielen Verfassern und mit so verschiedenen Bedeutungsinhalten verwendet worden sind, dass ihre Bedeutungen heute nicht mehr eindeutig sind. Was den ersten Begriff —«Historiologie»— betrifft, so werden wir ihn in dem Sinne verwenden, in dem Ortega ihn geprägt hat (1). Der Ausdruck «Geschichte» wird sich wiederum auf das geschichtliche Geschehen und nicht auf die umstrittene Wissenschaft beziehen.
(1) «Das Wort ‹Historiologie› tritt hier, soviel ich weiss, zum erstenmal auf…» Und ferner: «In der gegenwärtigen Geschichtsschreibung und Philologie herrscht ein unerträglicher Niveauunterschied zwischen der auf das Finden und Behandeln der Tatsachen verwandten Präzision und der Verschwommenheit, ja dem kläglichen Versagen in der Anwendung konstruktiver Ideen. Gegen diesen Zustand der Dinge im Reich der Geschichtswissenschaft erhebt sich die Historiologie. Sie wird getrieben von der Überzeugung, dass die Geschichte wie jede Erfahrungswissenschaft in erster Linie Konstruktion sein soll und kein ‹Aggregat› — um das Wort zu benutzen, das Hegel immer wieder den Historikern seiner Zeit entgegenhält. Sie mögen Recht haben gegen Hegel, wenn sie sich einer unmittelbaren Konstruktion des historischen Ablaufs durch die Philosophie widersetzen, aber das rechtfertigt nicht die im vorigen Jahrhundert immer deutlicher hervortretende Tendenz, sich an einer Anhäufung von Faktizitäten genügen zu lassen. Mit dem hundertsten Teil dessen, was längst gesammelt und gesichtet ist, liesse sich ein Gebäude von weit echterem und gehaltvollerem wissenschaftlichen Charakter zustande bringen als all das, was uns die heutigen Geschichtswerke bieten.» José Ortega y Gasset, «Hegels Philosophie der Geschichte und die Historiologie» in Buch des Betrachters, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, 1952, S. 257 und 273.
in: "Historiologische Diskussionen", Silo
Vorwort
Auch wenn das Thema der Generationen von verschiedenen Autoren (Dromel, Lorenz, Petersen, Wechssler, Pinder, Drerup, Mannheim, usw.) behandelt worden ist, haben wir es Ortega zu verdanken, in seiner Theorie der Generationen den Anhaltspunkt zum Verständnis der inneren Bewegung des geschichtlichen Prozesses aufgestellt zu haben. (30)
(30) Wie es möglich gewesen ist, dass eine solche Auffassung für die Welt der Historiologie fast unbemerkt geblieben ist, ist eins von diesen grossen Geheimnissen —oder, besser gesagt, Tragödien—, die sich durch die Wirkung von Vorprädikaten einer Epoche, die auf den Kulturbereich Druck ausüben, erklären lassen. In der Zeit der ideologischen Vorherrschaft deutscher, französischer und angelsächsischer Prägung wurden die Ideen von Ortega mit einem Spanien in Zusammenhang gebracht, das im Unterschied zum heutigen entgegengesetzt dem geschichtlichen Prozess ging. Zu allem Überdruss führten manche seiner Kommentatoren eine kleine und interessierte Interpretation jenes fruchtbaren Werkes durch. Von einem anderen Blickwinkel aus gesehen zahlte Ortega teuer für sein Bemühen, wichtige Themen der Philosophie auf eine zugängliche, ja fast journalistische Sprache zu übersetzen. Das wurde ihm von den Mandarinen der akademischen Kleinkrämerei der letzten Jahrzehnte nie verziehen.
in: "Historiologische Diskussionen", Silo
Kapitel III. Geschichte und Zeitlichkeit, 2. Horizont und zeitliche Landschaft
Schriftsteller und Philosoph
1883 Geboren am 9.5. in Madrid
1897-98 Studium an der Universität von Deusto in Bilbao
1898 Fakultät für Philosophie und Schrifttum der Zentraluniversität Madrid
1904 Doktortitel der Philosophie /Madrid
1905-07 Studium in Deutschland: in Leipzig, Nürnberg, Köln, Berlin und vor allem in Marburg.
1909 Rückkehr nach Spanien
1910 Lehrstuhl für Metaphysik an der Zentraluniversität.
1910-36 Professuren für Metaphysik, Logik und Ethik an der Universität Complutense Madrid
1929 Veröffentlichung von "Der Aufstand der Massen"
1931 Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung Spaniens
1936 verurteilt er als Mitunterzeichner des Manifests "Adhesiones de intelectuales" gemeinsam mit anderen Intellektuellen den Putsch der Militärs und erklärte die Loyalität mit der demokratisch gewählten Volksfront-Regierung der Zweiten Spanischen Republik.
1936-45 Exil in Frankreich, Argentinien und Portugal
1945 Rückkehr nach Spanien
1948 Gründung des Instituto de Humanidades mit Julián Marías
1955 Gestorben am 18.10. in Madrid, Spanien
Themen
Das Leben als radikale Realität: Ortega betrachtet das Leben als die ursprüngliche Realität und als Ausgangspunkt für alle philosophischen Überlegungen. Er führt das Konzept "Ich bin ich und mein Umstand" ein und betont die Bedeutung des Kontextes für die menschliche Existenz.
Vitale Vernunft und historische Vernunft: Er entwickelt das Konzept des "Raciovitalismus", der Vernunft und Leben zu integrieren sucht. Ortega schlägt vor, sowohl den reinen Rationalismus als auch den extremen Vitalismus zu überwinden, indem er argumentiert, dass die Vernunft im Dienst des Lebens stehen und den historischen Kontext berücksichtigen sollte.
Kritik am Idealismus: Ortega distanziert sich vom kartesianischen und phänomenologischen "reinen Ich" und schlägt eine neue Art des Wirklichkeitsverständnisses vor, das sich nicht auf die reine Abstraktion beschränkt.
Perspektivismus: Behauptet, dass jedes Individuum eine einzigartige Perspektive auf die Realität hat und dass die Wahrheit aus der Integration mehrerer Perspektiven entsteht.
Engagement für die Umstände: Ortega wendet seine Philosophie auf die konkreten Probleme seiner Zeit an und betrachtet Spanien und Europa als philosophische Probleme, die es zu lösen gilt.
Soziale und politische Analyse: In Werken wie "Der Aufstand der Massen" reflektiert Ortega die moderne Gesellschaft, Kultur und Politik, und analysiert die Krisen seiner Zeit.
Hauptwerke
Meditationen über Don Quijote (1914): Eines seiner ersten wichtigen Werke, in dem er beginnt, seine philosophischen Ideen zu entwickeln.
Spanien ohne Rückgrat (1921): Eine historische und soziologische Analyse von Spanien.
Das Thema unserer Zeit (1923): Ein Werk, in dem er seine Philosophie der vitalen Vernunft darlegt.
Die Revolte der Massen (1930): Möglicherweise sein bekanntestes Werk, in dem er die moderne Gesellschaft und das Phänomen des "Massenmenschen" analysiert.
Ideen und Überzeugungen (1940): Aufsatz, der die Beziehung zwischen Denken und Realität untersucht.
Geschichte als System (1935/1941): Ein Werk, das sein Konzept der historischen Vernunft entwickelt.
Einfluß
Spanische und iberoamerikanische Philosophie:
Ortega y Gasset gilt als einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts in der hispanischen Welt. Sein Fokus auf die "vitale Vernunft" und den "Perspektivismus" hat Generationen von Denkern beeinflusst und eine Brücke zwischen der europäischen und lateinamerikanischen Philosophie geschlagen. Sein Werk war für die Herausbildung des zeitgenössischen Denkens in Lateinamerika von grundlegender Bedeutung und wird an verschiedenen Universitäten studiert und diskutiert.
Sozialkritik und politische Kritik:
In Werken wie Der Aufstand der Massen analysierte Ortega den Wandel der modernen Gesellschaft und die Entstehung des "Massenmenschen", was eine Debatte über Demokratie und Kultur im Kontext des 20. Jahrhunderts auslöste. Seine Kritik am Mangel an intellektuellem und kulturellem Engagement in der Gesellschaft hat in späteren politischen Kontexten Widerhall gefunden und ist für Diskussionen über die Rolle des Individuums in der heutigen Gesellschaft relevant.
Literarischer Stil und Zugänglichkeit:
Ortegas literarischer Stil hat es ermöglicht, dass seine Ideen ein breiteres Publikum erreichen. Seine Fähigkeit, Philosophie und Literatur miteinander zu verbinden, hat seine Werke nicht nur Akademikern, sondern auch einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht und zur Popularisierung des philosophischen Denkens in der spanischen Kultur beigetragen.
Kulturelle Verbreitung:
Mit seiner Zeitschrift Revista de Occidente förderte Ortega das zeitgenössische Denken und die Übersetzung deutscher und französischer philosophischer Werke und trug dazu bei, die intellektuelle Isolation Spaniens zu überwinden. Diese redaktionelle Arbeit war entscheidend für die Einführung neuer Ideen und philosophischer Strömungen in der spanischsprachigen Welt.
Einfluss auf den Existentialismus:
Ortega gilt als Wegbereiter des Existenzialismus und beeinflusste Denker wie Jean-Paul Sartre. Seine Idee, dass der Mensch durch seine Entscheidungen und Umstände konstruiert wird, hat in der existenzialistischen Philosophie Widerhall gefunden und zu einem breiteren Dialog über Freiheit und individuelle Verantwortung beigetragen.
Pädagogisches Erbe:
Ortegas Einfluss zeigt sich auch im Bildungswesen, wo seine philosophischen Konzepte in die Lehrpläne verschiedener Einrichtungen aufgenommen wurden. Seine Betonung der Bedeutung des Lebens als einer radikalen Realität hat pädagogische Ansätze inspiriert, die Erfahrung und Kontext beim Lernen schätzen.
Silo betont zunächst, dass der Begriff "Geschichtswissenschaft" zuerst von Ortega y Gasset verwendet wurde. Der Satz „Esta palabra –historiología– se usa aquí, según creo, por vez primera“ stammt aus José Ortega y Gassets Werk „El tema de nuestro tiempo“ („Das Thema unserer Zeit“), veröffentlicht 1923. In diesem Buch führt Ortega y Gasset den Begriff „Historiologie“ ein, um eine Reflexion über die Wissenschaft der Geschichte zu beschreiben.
Andererseits misst Silo den Ausführungen Ortegas über die Rolle der Generationen in der Geschichte große Bedeutung bei. Dank seiner Beschreibung der Generationen als "Motor der Geschichte" lässt sich die Bewegung der Geschichte verstehen.
Ortegas Gedanken zur Rolle der Generationen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Ortega y Gasset definiert eine Generation nicht nur durch das Geburtsjahr, sondern durch gemeinsame Erfahrungen, Einstellungen und Reaktionen auf gesellschaftliche Herausforderungen. Eine Generation ist eine Gruppe von Menschen, die in einem ähnlichen historischen Kontext aufgewachsen sind und daher ähnliche Perspektiven und Werte teilen.
Er argumentiert, dass die Geschichte nicht nur durch große Persönlichkeiten oder einzelne Ereignisse bestimmt wird, sondern durch den ständigen Wechsel der Generationen. Jede Generation bringt neue Ideen, Werte und Ziele in die Gesellschaft ein und stellt damit die bestehende Ordnung in Frage.
Ortega y Gasset betrachtet den Generationswechsel als einen zyklischen Prozess, der etwa alle 15 bis 20 Jahre stattfindet. In dieser Zeit tritt eine neue Generation ins Erwachsenenalter ein und beginnt, die vorherrschenden Ideen und Werte der vorherigen Generation in Frage zu stellen. Dies führt häufig zu Konflikten und Veränderungen, die die Entwicklung der Gesellschaft prägen. Im Mittelpunkt seiner Theorie steht der Konflikt zwischen den Generationen. Dieser Konflikt ist unvermeidlich, da jede neue Generation dazu neigt, die Errungenschaften und Werte der vorangegangenen Generation in Frage zu stellen oder abzulehnen. Dieser Konflikt führt zu einem Bruch mit der Vergangenheit und öffnet die Tür für neue Entwicklungen.
Obwohl Generationen als kollektive Einheiten betrachtet werden, betont Ortega y Gasset auch die Rolle des Einzelnen innerhalb der Generation. Nicht alle Mitglieder einer Generation handeln auf die gleiche Weise; einige Personen können eine führende Rolle übernehmen und die Richtung, die eine Generation einschlägt, stark beeinflussen. Ortega y Gasset betont, dass jede Generation die Verantwortung hat, sich den Herausforderungen ihrer Zeit zu stellen und zur Entwicklung der Gesellschaft beizutragen. Wenn eine Generation diese Verantwortung ignoriert, kann sie eine Krise auslösen, die die Zukunft der Gesellschaft gefährdet.
Und schließlich nutzt Silo in einer langen Fußnote die Gelegenheit, nicht nur die Ignoranz der westlichen Historiker gegenüber diesen wichtigen Beiträgen Ortegas zu kritisieren, sondern auch zu erklären, wie es zu diesem tragischen Fall "epochaler Anteprädikative" kommen konnte - man könnte es auch mit epochaler Gedankenlosigkeit beschreiben.