Die religiöse Literatur zeigt öfters Entstellungen, die von Einfügung, Ausmerzung und Übersetzung herrühren. Wenn diese Fehler absichtlich begangen worden sind, stehen wir vor dem Fall der Verfälschung vergangener Situationen, die durch den «Eifer» gerechtfertigt werden, den die dem Geschichtsschreiber eigene Landschaft aufzwingt. Wenn die Fehler sich einfach aus irgendeinem anderen Grund eingeschlichen haben, geht das für uns gleichermaßen auf Kosten von Tatsachen, die nur durch historiologische Techniken aufzuklären sind. (6)
(6) Hier ist ein Beispiel dafür. In der Enzyklika Divino Afflante Spiritu von Pius XII. wird in Bezug auf das Buch Daniel auf „die Schwierigkeiten des Textes, die noch nicht gelöst sind“ hingewiesen. Auch wenn diese Schwierigkeiten nicht aufgeführt sind, können wir einige von ihnen selbst hervorheben. Das Buch ist in drei Sprachen überliefert: Hebräisch, Aramäisch und Griechisch. Der hebräische und der aramäische Teil gehen in den jüdischen Kanon der Heiligen Schrift ein. Der griechische Teil wurde von der katholischen Kirche anerkannt, die ihn zusammen mit der LXX-Version von den Aposteln als Teil ihrer Heiligen Schrift erhalten hat. Die Juden ihrerseits zählen Daniel nicht zu den Propheten, sondern zu den Hagiographen. Andererseits finden einige Christen, die sich an den von den Vereinigten Bibelgesellschaften herausgegebenen Schriften orientieren (basierend auf der Version von Casiodoro de Reina aus dem Jahr 1569), einen Daniel, der sich stark von dem der Katholiken unterscheidet, zum Beispiel die Version von Eloíno Nácar Fúster und A. Colunga. Und das scheint kein einfacher Fehler zu sein, denn die Version von C. de Reina wurde von Cipriano de Valera (1602) überarbeitet, gefolgt von den Überarbeitungen von 1862, 1908 und 1960. In der katholischen Version gibt es lange Abschnitte, die in der protestantischen Version nicht vorkommen, wie die Deuterokanoniker (Gr. 3, 24-90) und der Anhang (Gr. 13-14). Aber die größten Schwierigkeiten liegen nicht in dem, was bisher gesagt wurde, sondern im Text selbst, der die Geschichte von Daniels Verschleppung in den Königspalast in Babylon nach dem dritten Jahr Jojakims (also 605 v. Chr.) nachzeichnet. Und das geschah bei einer Deportation, die vor den beiden historisch bekannten Deportationen von 598 und 587 v. Chr. stattfand.
In einer Anmerkung zu Die Bibel (Hrsg. 23. Paulines) weist der Gelehrte M. Revuelta Sañudo darauf hin: „Die historischen Bezüge der ersten sechs Kapitel stimmen nicht mit dem überein, was uns die Geschichte über sie erzählt. Dem Text zufolge ist Balthasar der Sohn und unmittelbare Nachfolger von Nebukadnezar und der letzte König der Dynastie. In Wirklichkeit hatte Nebukadnezar als Nachfolger seinen Sohn Evil-Merodach (Avil-Marduk, 562-560) und als vierten, nicht-dynastischen Nachfolger Nabonid (Nabu-na'id 556-539), der seinen Sohn Balthasar (Bel-Shazar) auf den Thron brachte. Babylon fiel endgültig an Kyros und nicht an Darius den Meder, den die Geschichte nicht kennt“. Dieser historische Fehler kann nicht als böswillige Fälschung interpretiert werden, aber er ist ein weiteres Element, das sich in der Verzerrung des Textes ansammelt.
Andererseits erzählt Daniels prophetische Vision von der Abfolge der Königreiche, die unter Allegorien den Hörnern des Tieres entsprechen und die keine anderen sind als die Königreiche von Alexander dem Großen, Seleukos I. Nikator, Antiochus Soter, Antiochus II. Callinicus, Seleukos III. Während diese Allegorien frei interpretiert werden, könnte man meinen, dass der prophetische Geist Daniels ihnen um ein paar Jahrhunderte voraus ist, aber schon beim Lesen der Erklärung tauchen Wendungen auf, die mehr als dreihundert Jahre später liegen. So sagt er: „Der Widder mit zwei Hörnern, den du gesehen hast, ist der König von Medien und Persien; der Bock ist der König von Griechenland, und das große Horn zwischen seinen Augen ist der erste König; wenn es abgebrochen ist und andere Hörner an seiner Stelle aufkommen, werden vier Könige in der Nation aufstehen, aber nicht so stark wie dieser eine. Er bezieht sich offensichtlich auf den Kampf des persischen Reiches gegen Makedonien (334-331 v. Chr.) und das Auseinanderbrechen des neuen Reiches nach dem Tod Alexanders. Daniel scheint Ereignisse zu prophezeien, die 250 Jahre später stattfanden, während die Einschübe in Wirklichkeit wahrscheinlich aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. unter dem Einfluss der Makkabäer oder vielleicht etwas später, unter christlichem Einfluss hinzugefügt wurden. In 11,1-5 lesen wir: „...Es wird noch drei Könige in Persien geben, und der vierte wird mehr Reichtum anhäufen als die anderen; wenn er durch seinen Reichtum mächtig geworden ist, wird er sich gegen das Königreich Griechenland erheben. Aber in diesem wird ein tapferer König aufstehen, der mit großer Macht regieren und tun wird, was er will. Und wenn er auf der Höhe ist, wird sein Reich zerbrechen und in alle vier Winde zerstreut werden; es wird nicht mehr seinen Nachkommen gehören und nicht mehr so mächtig sein, wie es war, denn es wird geteilt werden und an andere als sie selbst übergehen. Tatsächlich wurde es bei Alexanders Tod (323 v. Chr.) unter seinen Generälen (nicht seinen Nachkommen) in vier Königreiche aufgeteilt: Ägypten, Syrien, Kleinasien und Makedonien. In den Makkabäern werden diese historischen Tatsachen ungeschminkt wiedergegeben. Aber die Makkabäer, die auf Hebräisch geschrieben sind, wurden wahrscheinlich zwischen 100 und 60 v. Chr. verfasst. Schließlich sind die Bedeutungsunterschiede zwischen den verschiedenen Übersetzungen bemerkenswert, wie im Fall der jüdischen und der katholischen Übersetzung, von denen die erstere in Daniel 12-4 sagt: „Viele werden vergehen und die Weisheit wird zunehmen“ (aus dem hebräischen Text, überarbeitet von M. H. Leteris. Übersetzt von A. Usque. Ed. Estrellas, Bs. As., 1945) und in der zweiten heißt es: „Viele werden in die Irre gehen und die Ungerechtigkeit wird zunehmen“. Die historische Entstellung von Daniel führt dazu, dass das Buch eine große prophetische Autorität erhält. Aus diesem Grund greift Johannes von Patmos sein System der Allegorisierung in der Apokalypse auf (vor allem in 17, 1-16) und stärkt damit das alte Modell und verleiht dem neuen Werk Ansehen.
in: "Historiologische Diskussionen", Silo
Kapitel I. Die Vergangenheit aus der Sicht der Gegenwart, 1. Die Entstellung der mittelbaren Geschichte
Daniels Buch ist im Tanach (in der jüdischen Bibel) Teil der Ketuvim (Hagiographen).
Daniels Buch befindet sich in der christlichen Bibel unter den Prophetenbüchern, in denen die Botschaften von Propheten enthalten sind, die durch Visionen und göttliche Eingebungen entstanden und von den Propheten selbst oder ihren Schülern aufgeschrieben wurden. Daniel zählt nach Jesaja, Jeremia, Ezechiel zu den ´Großen Propheten´.
Die Authentizität des Buches ist aus dem Gesichtspunkt des Historikers mehr als umstritten. Gründe dafür sind u.a. die drei Sprachen (Hebräisch, Aramäisch, Griechisch), in denen Daniels Buch verfasst wurde, die umstrittene Entstehungszeit (6. Jh. bzw. 2. Jh. v.Chr.) die inhaltlichen und historischen Unstimmigkeiten, der prophetische Charakter, die Wortschatzwahl, die Namensänderungen und die wechselnde Erzählperspektive.
Der Bezug zu DIVINO AFFLANTE SPIRITU (1943)
Das erste päpstliche Dokument, in welchem die Kirche auf die Herausforderungen des 19. Jahrhunderts, insbesondere auf die rationalistische Kritik reagiert, ist Providentissimus Deus von Leo XIII. aus dem Jahr 1893.
In diesem Dokument betont und verteidigt zwar die Kirche die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift und fordert weiterhin die traditionelle Exegese, erkennt aber die Bedeutung der Textkritik an, um Kopistenfehler zu identifizieren.
Die nächste päpstliche Enzyklika aus dem Jahr 1943, Divino afflante Spiritu von Pius XII. reagiert auf die neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts (u.a. historisch-kritische Methode, archäologische, Sprachen- und Religionsgeschichtliche Erkenntnisse) und markiert den Beginn einer neuen Ära in der katholischen Bibelauslegung. Damit leitet sie eine vorsichtige Öffnung gegenüber modernen exegetischen Methoden ein und ermutigt katholische Gelehrte, sich mit den modernsten wissenschaftlichen Methoden der Bibelforschung auseinanderzusetzen.
Daniels Buch, wie das in der Fußnote (6) genau beschrieben wird, steht als Beispiel für die Verzerrung durch Interpolation (spätere Änderungen am Text).