Mark Braet in translation

07-07-1925 / 6-02-2003

committed poet, translator, essayist, peace activist

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☼ Deutsch ☼



Titelseite, Illustration, Inhalt, Kolophonn Info Rezension

Nachwort von Mark Braet :

Im Rückblick : Der gebrochene Spiegel eines Stroms voller Erinnerungen.

Blickpunkte : 1937. Mutter verstorben, als man zwölf Jahre alt ist. Knapp. Und draußen? Der Bürgerkrieg in Spanien. Zum Beispiel. War es nicht im Jahr meiner Geburt, im Zeichen des Krebses, daß Ortega y Gasset sein Großartiges Werk "La deshumanización del arte" (Die Enthumanisierung der Kunst) publizierte? Und General Primo de Rivera? Der hatte in dem Augenblick alle Hände voll zu tun. Vermutlich. Faschist spielen ist auch nicht alles. Und 1925 wurde Miguel Hernandez vierzehn. Ein Hirtenjunge mit einer Nase wie eine Kartoffel. Schrieb er damals schon Gedichte? Auch er Wußte nicht, daß er siebzehn Jahre später im Gefängnis von Alicante mit den Worten sterben würde: "Ich weiß, wohin die Prozession geht..." Ob ihm jemand erzählt hat, als er - zum Tode verurteilt - in seiner Zelle Blut spie und an Josefa dachte, daß zu eben dieser Zeit in Stalingrad ein Kampf auf Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein der Menscheit ausgefochten wurde? Rubén, der damals fiel. Sie wissen wohl: der Sohn von Dolores Ibárruri.

Und 1924, ein Jahr vor meiner Geburt, Lenins Schwerer tod. Nun, wer ist das? Von Hitler können wir heute in bestimmten Schulbüchern lesen, daß Deutschland ihm den Bau von so und so vielen Autobahnen zu verdanken hat. Und von Mussolini? Offenkundig sorgte er dafür, daß die Züge pünktlich auf die Minute ankamen und abfuhren. Ist das nicht schön?

Erinnerung an Farben und Gerüche von dem kleinen, nahe gelegenen Fischereihafen. Von Nieuwpoort bis zur Nordsee sind es knapp drei Kilometer. Ein enormes, magnetisches Feld, auf das man unablässig hinausschauen, dem man ständig lauschen kann, dessen wechselnde Farben beinahe greifbar werden, dessen Brandung man schmeckt, und dazu das Geschrei der Möwen - eine Metapher.

Mutter aus einer katholischen Bauernfamilie mit zwölf Kindern, von denen die meisten im Laufe der zwanziger Jahre nach Frankreich gehen, um dort ihr Glück zu versuchen. Vater ein typisches Produkt der jungen, ungestümen, aufkommenden liberalen Bourgeoisie. Und progressiv. Aber alles hat seine Grenzen.

Schule, Abendkurse in Zeichnen, Architektur. Malen. Lesen. Dutzende, Hunderte, Tausende von Büchern. Der Kultus des gedruckten Wortes. Macht und Souveränität der Sprache. Der ersten Gedichte.


10 Mai 1940 : es ist Krieg! Keine Schule, keine zähen Unterrichtsstunden, keine unlösbaren Aufgaben mehr. Endlich gibt es etwas zu erleben! Fliegeralarm, marschierende Soldaten, schreckhafte Pferde, vorbeidröhnende Geschütze, Luftkämpfe; Häuser, die plötzlich zu existieren aufhören, unbescheiden ihre Geheimnisse preisgeben, wie geöffnete Sardinenbüchsen.

Siebzehn Tage später, gegen acht Uhr. Der Himmel ist knallblau, und der Tag beginnt, wie gewöhnlich, mit Sonne und der Musik gellender Sirenen. Kaum vierhundert Meter weiter fallen die ersten Bomben, singend vor Glück (Warscheinlich addiert Herr Krupp nun einige Sümmchen).

Wir liegen - noch nicht ganz wach - auf dem Boden und lauschen dem anschwellenden Brummen in der Ferne. Beim Einschlagen der ersten Bomben: mein vier Jahre älterer Bruder stürzt verzweifelt in eine Ecke des Zimmers; mein Vater übt plötzlich Verrat - erstaunt, betroffen, verletzt und mit einiger Verachtung sehe ich ign das Kreuzzeichen schlagen. (Später sehe und erkenne ich ihn und auf einmal mich selbst in einer anderen Situation: Hart, unnahbar, bleich und mit verzerrtem Gesicht steht er vor einigen uniformierten Repräsentanten der übrlegenen arischen Rasse, weigert sich, für sie zu arbeiten, weigert sich, in ihre Dienste zu treten, weigert sich, ihnen zu willfahren, ein reich bezahlter Sklave, nicht mehr er selbst zu sein.)

Die Bomben fallen nun ziemlich nahe. Sagen wir, gut zwanzig Meter enfernt. Ich drehe mich um.

Das Haus macht einen Satz, sinkt dann zusammen und verschwindet in einer Staubwolke, begleitet von ohrenbetäubendem Getöse. Danach sehe ich zwischen den Trümmern und zersplitterten Balken mein Nikolauspferd hängen, schwer mitgenommen, ein häßliches Loch im Rücken. Aber es fließt kein Blut. Eine Tür fällt auf mich. Und plötzlich unser Hund, schwer keuchend, ein Bündel Angst und Nerven.


Blickpunkte : Wir wohnen nun in Brugge. Sie wissen ja, die Hauptstadt der Provinz Wesflandern. Das "Venedig des Nordens". Des Mitelalter. Gott, wie schön.

Und wieder Schule. Trotz allem. Und der Krieg? Der kann mir gestohlen bleiben. Damit habe ich nichts zu schaffen. Ich schreibe nämlich Gedichte, stellen Sie sich vor. Voller Spleen und Tränen. Je mehr Wasser, um su besser.

Und wir schreiben bereits Mai 1942. Vater lauscht Abend für Abend den (verbotenen) Sendungen von Radio London. Die Karte von Europa. Fähnchen deuten die Frontlinie an. Es scheint, daß die "Deutschen" nun irgendwo in 'Rußland" kämpfen. Aber "Rußland" ist weit weg. Was habe ich damit zu Schaffen?


Ach, wenn ich mir überlege, daß ich vielleicht so weitergelebt hätte? Nie erfahren hätte, wie und wo man die Brücken zwischen den zeiten schlagen muß?

Nie begriffen hätte, wie man die Geheimsprache der Ökonomie zu deuten hat.

Nie Marx gelesen hätte. Oder Hegel und Feuerbach. Und Gramsci. Nichts vom dialektischen Materialismus gewußt hätte. Geschweige denn vom "Histomat".

Und nie mit Brecht gesprochen hätte. Und mit Nazim Hikmet. Und Simonow. Und Marcos Ana. Und Elsa Triolet. Und Carlos Levi. Und Vercors. Und mit Herrn Jean-Paul Sartre. Und Frans Masereel. Und...

O ja, mit Patrice Lumumba, dem Feuerkopf, und mit Kasa-Vubu, der schweigenden Sphinx, und mit Mobutu, der damals bereits für den belgischen Geheimdienst arbeitete und ein fleißiger Zuträger war. Und...

Nie die Erste-Mai-Demonstration in Warschau erlebt hätte. Und die Begegnung mit Gierek in Katowice.

Nie durch die "unruhigen Gewässer des Klassenkampfes" gewatet wäre. Nie das geniale, dialektische Denken Lenins begriffen hätte.

Nie die Trümmer von Berlin gesehen hätte. Und den Afbau.

Nie die Larve des Faschismus vor Augen gehabt und das System erkannt hätte, das solch ein Scheusal hervorbringt.

Nie mit dem gedruckten und gesprochenen Wort vor Fabriktoren gestanden hätte.

Nie irgendwo in Kiew gelacht hätte.

Nicht durch Taschkent gestreift wäre. Durch Moskau. Madrid. Bern. Paris. Amsterdam. Baku. Prag. Zagreb. Nicht an den Ufern der Newa entlanggeschlendert wäre.

Nie in Oświęcim geweint hätte.

Nie Nachrichten gleich goldenen Schlüsseln weitergereicht hätte in Barcelona. In Athen. Auf das im Mai 1969 Generale den Schatten des Todes projiziert hatten. Aber das Orakel von Delphi hatte mir die Verszeilen von Ritsos zugeflüstert: "Das Licht wird seine Bäume finden und der Baum seine Frucht."

Nie auf dem Platz gestanden hätte, wo Neruda sagte, Tbilissi gliche einem See, der Tausende von Sternen reflektiere.

Nie Gusta Fučíková umarmt hätte und mit ihr: Julius, aus den edelsten Metallen zusammengestellt. Nie in Güstrow Sekt getrunken und einem noch nicht geborenen Kind zur ewigen Freude der glücklichen Eltern den Namen "Marco" mit auf den Weg gegeben hätte.

Nie gespürt hätte: die warme Umarmung von allem, was menschlich ist und von Menschen hervorgebracht wurde.


Doch zurück zum Mai 1942.

Knapp einen Monat später kehrte die Welt, meine Welt, sich um. Mein Bruder wurde irgendwo in Frankreich verhaftet. Auf dem Weg via Spanien nach England. Zum erstenmal die Gestapo im Haus; so elegant, so freundlich.

Und dann der August 1942, der Wendepunkt. Die drei Tage währende Diskussion mit "Michel". Und das Gefühl, die Gewißheit, daß es hier um eine Wahl ging, die mein ruhiges, nutzloses Leben ein für allemal durcheinanderschütteln sollte. Es ging nicht allein um die Frage, mitzuarbeiten in dem illegalen Apparat, Flugblätter zu verteilen, eine breite Organisation aufbauen zu helfen, die Besatzer mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen. Es handelte sich in erster Linie um eine ideologische, eine politische Entscheidung, denn hinter "Michel" stand die kämpferische Kraft der Partei, die wenige Jahre nach dem Oktober 1917 in meinem Land entstanden war.


Die Befreiung von Brugge fand im Laufe des 12. September 1944 statt. Kurz darauf arbeitete ich bei meinem Vater. Würde ich später nicht doch sein Nachfolger werden? Aber es ging mir wie jenem in dem Gedicht von Brecht. Ich erkannte nun, daß mein Vater zu einer anderen Klasse gehörte. Er mochte sich freilich während der Besetzung mutig verhalten, das Lob der Roten Armee gesungen haben, doch das Bürgertum hatte auch hier einem Verräter erzogen, und der trug meinen Namen. Einer, der gesehen und gelernt hatte, wie Maße und Gewichte verfälscht, Unterdrückte betrogen wurden. Und ich verließ endgültig dieze Klasse.


Im Laufe des Jahres 1950 erschien mein erster Gedichtband "Achttien stappen in de storm" (Achtzehn Schritte im sturm). Zum Erstaunen meiner Freunde und ach zu meiner eigenen Verwunderung war die Kritik im allgemeinen günstig, sogar ausgezeichnet. Willem Elsschot, der unbestrittene Großmeister der flämischen Literatur, schrieb: "...dieser junge Dichter gibt seiner Wut und Empörung über das Unheil, das sinnlose Kriege uns periodisch bringen, mit der Geschicklichkeit eines Meisters Ausdruck." Und in der katholischen Kulturzeitschrift "STREVEN" konnte man lesen: "Diese Sammlung ist aus der Partisanenzeit gewachsen, und sie ist eine der wenigen, die wir aus diesem Umkreis kennen, in der das Menschliche, der tiefe Ton der Erfahrung und das Persönliche vor dem Programmatischen Vorrang haben..."

Die Veröffentlichung fiel mit dem Aufkommen jener literarischen Strömung zusammen, die man die der "Fünfziger" genannt hat. In den Niederlanden wurde sie durch Lucebert und Andreus "experimentell" ausgerichtet, in Flandern durch Claus, Van de Kerckhove und Bontridder als "modern" betitelt. Ich selbst gehörte irgendwie dazu und stand doch außerhalb. Man hat mich einmal einen "Einzelgänger" genannt, der sich durch Tendenzen, Modeerscheinungen, Schulen nicht beirren lasse. Doch uns allen war gemeinsam, daß wir es nach dem schrecklichen Schlachten des zweiten Weltkrieges und nach dem Atompilz von Hiroshima für undenkbar hielten, Poesie nach klassischer Rezeptur zu machen.

Neu war diese Auffassung eigentlich nicht. Begriffe wie "traditionell", "modern" oder "experimentell" sind alsbald ebenso alt wie die Poesie selbst. Unbestreitbar gibt es in der Poesie eine Polarität zwischen Tradition und dem Experimentieren mit neuen Formen, neuen Ausdruckmitteln.


Und die Welt drehte sich weiter. Nach einem mißlungenen Versuch, mich durch den Verkauf von Büchern über Wasser zu halten, gesellte ich mich zu den Arbeitslosen, und erst 1954 gelang es mir, in einem Warenhaus eine Beschäftigung als Dekorateur zu finden.

1952 waren meine "Bagatellen" erschienen, und drei Jahre später "Tussen gisteren en vandaag" (Zwischen gestern und heute). Als 1956 die "Variaties op een gegeven thema" (Variationen zu einem vorgegebenen Thema) veröffentlicht wurden, schrieb der Pfarrer-Dichter Remi van de Moortel: "Es hat uns getroffen, daß sein irdisches Lied so voll ist von Vertrauen in die Zukunft. Wo eine ganze Generation keinen Ausweg mehr sieht und in Verzweiflung unterzugehen droht, steht Marc Braet als ein Idealist vor uns, der sich gegen allen Pessimismus zur Wehr setzt und dem Traum vom irdischen Glück nachjagt... Seine Verse haben den festen Gang des mannhaften Schritts. Ihre Bildsprache ist äußerst maßvoll..." Weniger maßvoll klang der Aufruf, den ein neofaschistisches Blättchen in den Tagen der tragischen Ungarn-Ereignisse an seine Leser richtete. Ein namenloser Autor schrieb dort, "daß Marc Braet an dem höchsten Baum in Flandern aufgehängt werden müßte", was selbst meine offenkundigen Feinde den Kopf schütteln ließ. Meine zweite Gedichtsammlung löste unterschiedlichere Reaktionen aus. Ein Genosse, der geraume Zeit im KZ Buchenwald verbracht hatte, wies mich (zu Recht) auf das stets wiederkehrende Thema des Todes hin und meinte, ich sollte mich mehr auf die Zukunft, auf das Leben orientieren. Ein Leser schrieb mir einen Brief, in dem er mich erstaunt und offensichtlich schockiert fragte, warum ich nun ein "bürgerlicher Dichter" geworden sei, da ich doch mehrere Liebesgedichte verfaßt habe.

Woraus produziert der Künstler sich? Und weshalb? Für wen? Worin besteht die objektive Situation des Künstlers? Was sind seine Ideen in Verbindung mit seiner Situation? Engagiert ist Kunst immer, weil der schaffende Künstler auf diese oder jene Weise, bewußt oder nicht, Träger einer Ideologie ist. Aber der Künstler, der so vollendet wie möglich sein will, ist stets derjenige, der inmitten der Phänomene des wirklichen Lebens durch seine eigene und originelle Sicht einen Augenblick der menschlichen und sozialen Verhältnisse festhält und somit zum Realismus kommt. Zu einem Realismus, der keine Unterwerfung, keine vulgäre, durch und durch fotografische Abbildung sein darf, wie eine gewisse Kritik es wünscht, die ihn auf systematische Weise mit dem sogenannten Naturalismus verwechselt, der in seinem Wesen eine folgsame Kopie der Realität ist und deren Komplexität demnach verstümmelt.

Vasarely drückte dies ausgezeichnet mit dem Satz aus, daß "die elementare Dialektik jedes Erneuerers darin besteht, seinen existentiellen Inhalt aus einer untergehenden Gesellschaft zu beziehen, in der er lebt und deren Fall er vorbereiten hilft".


Es kam die Reise nach Moskau im Jahr 1957, im Rahmen der Weltfestspiele der demokratischen Jugend. Die Bekanntschaft mit Hikmet, Soerkow. Das Wiedersehen mit Fedin, den ich im Februar 1954 während einer halbwegs illegalen Zusammenkunft in Knokke kennengelernt hatte. Zusammen mit Brecht, Anna Seghers, Carlo Levi, Sartre, Vercors und anderen.

Mitte 1958 verließ ich meine Arbeit und stürzte mich in gesellschaftliche Aktivitäten, die mich unter anderem Ende 1959 nach Berlin führten, in jene Stadt, die ich danach noch oft wiedersehen sollte, und immer mit Freude. Es folgten lange Reisen durch die DDR, und 1963 eröffnete sich mir ein neues Kapitel: ich wurde zum Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Belgiens gewählt.

Zehn Jahre später stellte ich mich nicht mehr zur Wahl, weil meine literarische "Produktion" etwas ins Hintertreffen geraten war.

Es folgten die Gedichtsammlungen "Afscheid nemen" (Abschied nehmen) und "Onbewoonbaar verklaard" (Für unbewohnbar erklärt); ein Essay über die Entwicklung der spanischen Poesie nach dem zweiten Weltkrieg: "Ik leg mijn hand op Spanje" (Ich lege meine Hand auf Spanien); eine Gedichtanthologie aus der DDR in niederländischer Übersetzung, herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Dichter-Romancier Paul Vanderschaeghe unter dem Titel "De groene bomen" (Die grünen Bäume); die Nachdichtung eines Kapitels aus dem "Canto general" (Der Große Gesang) von Pablo Neruda, "Dat de houthakker ontwake" (Holzfäller, wach auf), und andere Werke.


So, wie ich an die Zukunft des Menschen glaube, so glaube ich auch mit Nazim Hikmet "an die Zukunft der Poesie". Auch die Poesie ist ein Werkzeug, um die Welt zu verändern. Es ist der am weitesten vorgeschobene Brückenkopf, der Laufgraben, über dem die Flagge mit dem gewohnten Text "Sterben oder Siegen" weht.

Es ist eine sublime Form der Befreiung, oder wie Hans Andreus es so schön schrieb, wie das "gerade Noch-Wandern über das Wasser".


Brugge, im Mai 1978

Marc Braet