Alpencross 2023 Sion - Locarno
Der Schweiz-Cross
24.06.-02.07.2023
320 km, 8.350 Höhenmeter
Der Alpencross quer durch die Schweiz. Wir haben festgestellt, dass wir auf unseren bisherigen Touren die Schweiz zwar schon oft tangiert haben, aber meist im Osten auf dem Weg nach Italien. Deshalb soll es in diesem Jahr einmal ein schweizerisch dominierter Alpencross sein, und zwar quer durch alle Sprachregionen (außer Romanisch). Wir starten in Sion, wo man Französisch parliert, kommen am vierten Tag in den deutschsprachigen Raum und enden schließlich in der italienischen Schweiz.
Wie immer gibt es im Zug Kuchen und Sekt zur Einstimmung auf die Tour.
Samstag, 24.06.2023
Die Anreise
Das Abenteuer beginnt, wie in jedem Jahr mit einer stundenlangen Fahrt mit der Bahn gen Alpen. In diesem Jahr früher am Morgen als sonst, nämlich ich bereits um 06.41 Uhr ab Düsseldorf, Tom sogar schon um 06.00 ab Bochum, Norbert steigt 40 Minuten später in Siegburg zu. Dafür erreichen wir am frühen Nachmittag unseren Zielbahnhof in Sion. Die Zugfahrt war echt entspannt. Wir mussten zwar dreimal umsteigen, aber kein Zug war zu spät, so dass wir alle Anschlüsse erreichen und um 14.33 Uhr pünktlich in Sion eintreffen. Haben wir vor zwei Tagen noch mit Streik, Unwetterschäden und Verspätungen gerechnet, wurden wir heute von der freundlichen Seite der Bahn beglückt, wobei ehrlicherweise ein Großteil der Strecke auf die Schweizer SBB entfallen ist. Und die Genauigkeit Schweizer Uhren ist ja bekannt, was offenbar auch für Schweizer Züge gilt. So wünscht man sich Bahnfahren.
In Sion wird erst einmal ein wenig Proviant erworben. Die „Selbstversorgerhütte“, die wir morgen Abend erreichen werden, bietet weder Abendessen noch Frühstück an. Wir müssen also vorsorgen, soweit noch nicht geschehen. Meine beiden Mitfahrer kommen mit einem Haufen Eßbaren wie kiloweise Oliven, Dauerwürsten, Bananen und ich weiß nicht, was noch alles, zurück. Ich selbst steuere Brot und Hummusaufstrich dazu.
Trotz langer Bahnfahrt müssen wir nun aber noch etwas strampeln. 10 Kilometer und 550 Höhenmeter sind zu bewältigen, um unsere Unterkunft zu erreichen. Hört sich erstmal nicht nach Tour de France an. Doch bei weit über 30 Grad und nach 8 Stunden Bahnfahrt quälen wir uns den durchaus anspruchsvollen Anstieg nach Les Agilettes mit 7 bis 9, teilweise mehr Prozent Steigung hinauf. Das Städtchen Sion im Tal wird zunehmend kleiner und der Ausblick umso phänomenaler. Um etwa 16.30 Uhr erreichen wir unser heutiges Ziel, das Café de la Poste, einen wirklich netten, kleinen Gasthof. Nach einer erfrischenden Dusche verziehen wir uns in den angeschlossenen Biergarten, wo wir später auch unser Abendessen einnehmen. Schweizer Preise, aber lecker.
Sion Bahnhof - Les Agettes
Entfernung: 6,66 km
Fahrzeit: 0:51:56 Std.
Höhenmeter: 433 m
Unterkunft: B&B Café De La Poste, Les Agettes
Sonntag, 25.06.2023
Erster Tourtag: Zum großen Stausee
Heute startet unsere Tour so richtig. Nach einem reichlichen Frühstück mit Kaffee, O-Saft, Ei, Wurst, Käse wahlweise Konfitüre und für jeden ein Croissant sitzen wir kurz nach 9.00 Uhr auf unseren Rädern. Die Sonne gibt schon ordentlich Gas und kein Wölkchen kann ihre Strahlkraft mindern. Super-Wetter, aber schweißtreibend.
Der Weg führt direkt nach oben. Erst Straße mit passabler Steigung geht es bald ab auf einen Feld- und Wiesenweg, der eine ordentliche Steigung aufweist. Die erste kleine Schiebestrecke. Zum Glück nicht lang, dann haben wir die ersten 400 Höhenmeter überwunden. In einem Dörfchen halten wir kurz an einer Epicerie, einem kleinen Lebensmittelladen, an, um unsere Getränkevorräte aufzustocken.
Ehrlicherweise muss ich allerdings zugeben, dass der eigentliche Grund des Stopps meine Schusseligkeit ist, weil ich meine Zahnbürste zu Hause vergessen habe und eine neue brauche. Tatsächlich werde ich fündig: Elmex Junior von 6 bis 12 Jahre. Passt! Immer noch besser als weiter einen mit Zahnpasta beschmierten Finger zum Zähneputzen zu missbrauchen.
Weiter gehts. Nach einem schönen Singletrail kommen wir auf eine kleine, aber stark befahrene Straße, die direkt auf die gewaltige Staumauer des Lac de Dix zuführt. Die Straße wird immer steiler, Steigungen bis 14 Prozent. Nach gut 700 Höhenmetern erreichen wir dieses beeindruckende Bauwerk. Noch 50 Meter mehr und wir finden eine schöne Terrasse eines Hotels, das unmittelbar an dieser Mauer liegt. Dort legen wir ein Päuschen ein und genießen erst einmal alkoholfreies Bier oder auch einen Cappuccino. Frisch gestärkt bewältigen wir dann noch auf einem Schotterweg, auf dem Fahrradfahren seltsamerweise verboten ist, die letzten 200 Höhenmeter und stehen staunend auf der Staumauer. Der Blick zurück ins Tal ist ebenso überwältigend wie der auf der anderen Seite über den riesigen Stausee umgeben von höchsten Bergen. Der reine Wahnsinn.
Der Weg zu unserer Hütte ist nicht mehr weit. Am See entlang folgen wir - teilweise durch kleine Tunnel - einem schönen Weg. Nach 2-3 Kilometern biegen wir rechts ab, müssen nochmal eine kleine Anhöhe auf einem Feldweg erklimmen und erreichen um etwa 16.15 Uhr unsere Hütte auf einer Höhe von 2.400 Metern.
Es ist eine sog. Selbstversorgungshütte, zu der man sein Essen selbst mitbringen muss. Aber wir hatten ja vorgesorgt.
Das Glück ist uns hold. Von der Verwaltung der Hütte sind noch einige Leute da, die uns sage und schreibe 9 Fläschchen kühles Bier schenken. Wir hatten uns psychisch bereits auf plattes Wasser eingestellt. Ist ja wie Weihnachten. Okay, das Mindesthaltbarkeitsdatum ist seit 2 Monaten abgelaufen, aber das verdirbt uns keinesfalls die Stimmung. Ich frage beiläufig eine der freundlichen Damen, wie denn wohl unser morgiger Aufstieg auf den Col de Ridmatten zu bewältigen sei und erhalte die nüchterne Antwort „pas possible“, und schon garnicht mit Velo. Ein weiterer Einheimischer ergänzt, dass gerade jetzt die schlechteste Zeit für solche Späße sei, weil zum einen noch Schnee liege und zum anderen durch die Schmelze die Wege viel zu glatt seien. Keine Chance, da mit Fahrrad rüberzukommen.
Diese Antwort wollten wir natürlich gerade nicht bekommen. Glücklicherweise erhalten wir ergänzend aber einen sehr hilfreichen Tipp. Etwas weiter nördlich, wo die Berge nicht so hoch sind, soll sich der Bergrücken auf einem schönen und schneefreien Trail gut überwinden lassen. Das werden wir dann notgedrungen morgen so machen.
Vor der Hütte genießen wir noch unsere mitgebrachten Speisen und das geschenkte Bier in dieser tollen Gegend mit Blick auf den See.
Abgesehen von dieser einmaligen Lage ist die Hütte auch deshalb etwas Besonderes, weil es hier keine Dusche, kein Internet und keine Steckdose gibt. Waschen müssen wir uns in einem kleinen Becken unterhalb der Hütte, das von einem Bergbach gespeist wird. Sehr romantisch und „très froid“.
Les Agettes - Réfuge de la Barmaz
Entfernung: 28,04 km
Fahrzeit: 03:47:04 Std.
Höhenmeter: 1.431 m
Unterkunft: Réfuge de la Barmaz, Hérémence
Montag, 26.06.2023
Zweiter Tourtag: Die Planänderung
Wir nächtigen zu dritt in einem mit 12 Schlafplätzen ausgestatteten Lager. Zum Glück. Unsere Mit-Gäste schlafen im Erdgeschoss. Trotz einer frischen - man könnte auch sagen kalten - Nacht schlafe ich recht gut. Gegen 6.30 werde ich wach und bemerke, dass sich Tom leise anzieht und den Raum verlässt. Erst dachte ich, er geht mal zur Toilette, was einen größeren Spaziergang außerhalb der Hütte erfordert. Doch er kommt nicht zurück. Egal, ich knacke noch ein Stündchen weiter. Was ich noch nicht weiß, der Kerl hat in der Zeit tatsächlich Holz gehackt und unseren Küchenofen angeschmissen. Und Wasser auf dem Ofen heiß gemacht, damit wir zum Frühstück heißen Kaffee bekommen. Supereinsatz!
Unser Frühstück besteht aus den Resten von gestern, ist aber lecker und völlig ausreichend. Ein echtes Kontrastprogramm zu Hotelbüffets!
Kurz vor 9.00 starten wir dann bei strahlend blauem Himmel. Wir hatten uns ja am Vortag davon überzeugen lassen, den Col de Ridmatten wegen des noch reichlichen Restschnees auszulassen. Daher wollen wir nun den uns empfohlenen schönen Trail etwas weiter nördlich fahren. Die Wahl stellt sich als absolut richtig heraus. Zunächst geht es wieder zurück auf dem Weg, den wir gestern gekommen waren. Am Stausee vorbei und an der Staumauer den für Fahrräder gesperrten Weg runter. Am Hotel Ritz gönnen wir uns auf der Terrasse einen schnellen Zwischenkaffee, ehe es weiter abwärts ins Tal geht.
Wenig später biegen wir von der Talstraße rechts ab. Ein Sträßchen führt uns immer weiter bergauf. Am Ende der Asphaltstraße, nachdem wir schon rund 500 Meter gekraxelt sind, treffen wir auf ein nettes Bauernhof-Lokal, wo wir unseren Elektrolyt-Haushalt mit einem (selbstverständlich alkoholfreien) Bier auffüllen. Weiter gehts auf einem gut befahrbaren Feldweg. Immer weiter hoch bis auf 2.640 Meter. Dort genießen wir einen phantastischen Blick auf die umliegenden Berge und hinunter ins Tal bei immer noch strahlendem Sonnenschein. Dort oben sind wir ganz allein. Das sind die Momente, die einen Alpencross so einmalig machen.
Evolène, angeblich eines der schönsten Dörfer der Schweiz.
Eine technisch schwierige Trailpassage folgt, auf der Fahren nicht immer möglich ist. Einige Trage- und Schiebepassagen mindern die Ausblicke auf wunderschöne Landschaft aber nicht. Am Ende gehts wieder 700 Meter erst auf Schotter, dann auf Asphalt hinunter. Um 16.00 Uhr erreichen wir unsere B&B-Unterkunft in Evolène.
Réfuge de la Barmaz - Evolène
Entfernung: 35,78 km
Fahrzeit: 03:17:43 Std.
Höhenmeter: 773 m
Unterkunft: Bnb la Péniche, Evolène
Dienstag, 27.06.2023
Dritter Tourtag: Der Höhepunkt
Für unsere dritte Etappe ist wieder ein Anstieg bis auf knapp 3.000 Meter über den Col de Torrent geplant. Nach den Erfahrungen am Vortag haben wir noch am gestrigen Nachmittag beim Tourismusbüro von Evolène nach der Passierbarkeit dieses Passes nachgefragt. Von einer Bergführerin erhielten wir die Auskunft, dass der Pass zu Fuß gut passierbar sei. Mit Mtb hmmm… Gute Auskunft, was ein Fußgänger kann, können wir auch.
Nach einem für ein B&B recht ordentlichen Frühstück starten wir wieder um 9.00 Uhr. Erstmal auf der Straße bis zu einer kleinen Ortschaft oberhalb von Evolène. Die ersten 400 Höhenmeter. Dann geht es auf einen gut befahrbaren Schotterweg, der uns aber einige Energie abverlangt, da er meist 10-12% Steigung aufweist, in der Spitze sogar 16%.
Die Sonne scheint, der Schweiß rinnt, aber glücklicherweise ist es heute nicht so warm. Und je höher wir kommen, desto kühler wirds.
Der Schotterweg geht dann irgendwann in einen Feldweg über, bis bei einer Höhe von etwa 2.450 Meter nur noch ein alpiner Trail verläuft. Sehr, sehr steil, aber nicht sehr verblockt. Wir können unsere Räder immer noch gut schieben. Da haben wir schon ganz andere Wege bewältigt. Dennoch ist der Aufstieg sehr anstrengend und zieht sich gefühlte Ewigkeiten hin. Heute bietet uns keine Bauernwirtschaft ein kühles Getränk an.
Nicht viele andere Menschen sind hier unterwegs und solche mit einem Mountainbike schon gar nicht. Ich weiß nicht, ob uns die wenigen entgegenkommenden Wanderer für mutig, waaghalsig oder irre halten. Jedenfalls sind alle sehr freundlich und geben uns stets hilfreiche Infos zum weiteren Zustand des Weges.
Gegen Ende des Anstiegs wird es schwieriger und steiler. Aber da wir ja einmal da sind, gibt es kein Zurück. Um 15.30 Uhr erreichen wir den Pass. Ein erhebendes Gefühl in dieser tollen Bergregion. Deshalb kosten wir den Augenblick so richtig aus, futtern unsere mitgebrachten Brote und genießen das Panorama.
Dann gehts auf der anderen Seite bergab. Erst schiebend den kleinen, rutschigen Weg. Nach einiger Zeit gestaltet sich der Weg zu einem passablen Singletrail, der jedem Downhillpark zur Ehre reichen würde. Die Abfahrt macht richtig Spaß. Daher erreichen wir schon bald einen kleinen Bauernhof und von dort können wir auf einem schönen Schotterweg ins Tal rauschen.
Unser Weg führt vorbei an einem weiteren beeindruckenden Stausee, dem Lac de Moiry, der von einem Gletscher gespeist wird.
Wir passieren die Staumauer und kommen durch einen Tunnel auf die Straße nach Grimentz, unserem heutigen Zielort. Von nun an geht es nur noch bergab, so dass wir um 17.30 unser Hotel erreichen.
Evolène - Grimentz
Entfernung: 29,13 km
Fahrzeit: 03:52:49 Std.
Höhenmeter: 1.517 m
Unterkunft: Hotel Cristal Grimentz, Grimentz
Mittwoch, 28.06.2023
Vierter Tourtag: Über die Sprachgrenze
Heute verlassen wir das französisch sprechende Unterwallis und fahren ins deutschsprachige Oberwallis. Echt witzig, es scheint keine fließenden Übergänge zu geben. Entweder man spricht Französisch wie in Grimentz oder Deutsch wie in Brig, wo wir heute hinradeln.
Morgens plündern wir erst einmal das reichhaltige Frühstücksbüffet in unserem Hotel, selbstverständlich geschmierte Brote für den Mittag inbegriffen. Sehr zu empfehlen der hiesige Schinken, die Salami und vor allem der Schweizer Käse.
Vor der Tour müssen Tom und ich noch ein wenig an unseren Fahrrädern rumschrauben. Insbesondere bei mir hatte sich das Schaltauge gelockert und führte gestern zu Schaltproblemen.
Um Viertel vor Neun gehts dann bei frischen 17 Grad los. Erst ordentlich runter ins Tal und auf der anderen Seite wieder hoch. Und zwar ordentlich. Wir müssen rund 1.600 Meter aufsteigen. Unser höchster Punkt heute ist der Forclettapass auf einer Höhe von 2.874 Meter. Anfänglich rollen wir „gemütlich“ auf Asphalt mit 5-6% Steigung. Das ändert sich aber bald. Aus Asphalt wird Schotter, lässt sich aber gut befahren. Anstrengender ist schon der steigende Steigungsgrad von bis zu 12%.
Später geht der Weg dann in einen Feldweg über, anstrengend aber nach wie vor gut machbar. Immer höher schrauben wir uns hoch, bis wir an einem Bauernhof landen. Hier scheint das Ende der Welt zu sein, jedenfalls endet der befahrbare Weg. Wir legen ein Päuschen ein und quatschen ein wenig mit einem netten E-Biker, der es mit einem Kumpel bis hierhin geschafft hat. Als wir von unserem Plan berichten, mit den Fahrrädern den Forcletta-Pass zu passieren, fällt bei ihm das Wort „fou“ (= verrückt), allerdings nicht ohne eine Anmerkung der Bewunderung.
Von hier geht es nur noch durch alpines Gelände, und zwar noch rund 350 Meter nach oben. Es wird nur noch geschoben, gehoben und getragen. Sehr kräftezehrend. Der Weg ist schmal und steinig-verblockt. Jeder Höhenmeter wird zur Qual. Um psychisch nicht abzukacken, nehme ich mir vor, immer 10 Meter aufzusteigen und dann ein Päuschen einzulegen. Das sind die Momente, in denen man die Bemerkung des E-Bikers („fou“) für richtig hält. Aber - andererseits- wer es noch nicht gemacht hat, kann die Gefühle bei einer solchen Passüberquerung gar nicht nachempfinden. Wenn die Anstrengung in Begeisterung übergeht und die Endorphine tanzen. Um kurz vor 16.00 Uhr erreichen wir tatsächlich den Pass.
Es ist trotz Sonnenschein inzwischen nur noch 11 Grad, allerdings sehr windig. Deshalb halten wir uns nicht lange auf. Problem: Auf der anderen Seite blockiert ein fettes Restschneefeld unseren Abstieg. Wir quetschen uns die Räder tragend an einer Felswand vorbei und gelangen so tatsächlich auf den schmalen Trail, der nach unten führt. Fahren können wir allerdings nicht. Rund eine Stunde müssen wir noch Tragen und Schieben, ehe wir wieder auf einen Schotterweg treffen, der uns ins Tal führt.
Wer glaubt, ein Weg abwärts sei easy-peasy, irrt gewaltig. Es geht höllisch abwärts, man muss auf jeden Stein aufpassen und ständig bremsen. Die Finger werden vom Dauerbremsen steif und schmerzen. Mir tut irgendwann auch der Nacken weh, weil der Rucksack hoch rutscht und ich unwillkürlich eine verkrampfte Haltung einnehme.
Aber natürlich kommen wir gut unten an. Et hätt ja immer noch jootjejange. Jetzt heißt es, unser Ziel in Brig zu erreichen. Es ist bereits kurz vor 18.00 Uhr und wir haben noch über 40 km vor uns. Zunächst geht es 20 km abwärts durch das Tal, um zur Rhone, die hier Rotten heißt, zu gelangen.
Plötzlich merke ich, dass mein Hinterrad unangenehm flackert. Die genaue Beschau meines Rades ergibt, dass sich wieder das Schaltauge gelockert hat. Glücklicherweise habe ich ein Ersatzauge dabei. Kurzerhand wird die Schraube, die das Schaltauge am Rahmen hält, ersetzt und es geht mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Am Rotten angekommen, führt uns ein 25 km langer Radweg am Fluss direkt nach Brig, wo uns ein durchaus beachtlicher Gegenwind noch einmal zu schaffen macht.
Auf der Fahrt geht mir ein Gedanke durch den Kopf: Warum heißt es der Rotten, aber die Rhone? Erfährt der Fluss bei Überschreiten der Sprachgrenze womöglich einer Geschlechtsumwandlung? Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Rhone auf Französisch "le Rhone" heißt, also durchaus männlichen Geschlechts ist. Nur im Deutschen verwendet man - aus welchen Gründen auch immer - das Femininum.
Verschwitzt und ausgelaugt kommen wir um 20.00 Uhr bei unserem Self-Checkin-Hotel an. Nach einer erfrischenden Dusche schlendern wir in die sehr schöne Innenstadt. Pizza und Pasta füllen unsere Kohlenhydratspeicher wieder auf.
Grimentz - Brig
Entfernung: 76,31 km
Fahrzeit: 06:12:11 Std.
Höhenmeter: 1.734 m
Unterkunft: Schlosshotel Brig, Brig
Das wunderschöne Schloss in Brig, mitten in der Innenstadt.
Donnerstag, 29.06.2023
Fünfter Tourtag: Nach Italien
Nach der anstrengenden Strecke gestern lassen wir es heute etwas ruhiger angehen. Wir passieren die Grenze zwischen der Schweiz und Italien erst einmal mit der Bahn und steigen in dem Dörfchen Varzo aus. Es ist kurz vor 10.
Kleine Begebenheit mit dem Schweizer Schaffner. Er will uns sehr freundlich in Schwitzerdütsch etwas erzählen, aber wir verstehen kein Wort. Noch ehe wir etwas sagen können, fragt er uns, ob wir denn kein Deutsch verstehen. Wir: „Doch, aber deutsches Deutsch.“ Alle lachen und der Schaffner spricht nun Hochdeutsch.
Wir kommen also in Varzo an und haben eine Strecke von nur rund 12 Kilometern, aber dafür auch 1.200 Höhenmetern vor uns. Klingt nach nicht viel. Der Weg ist aber echt steil. Meist 13, 14 % Steigung, einmal sogar 21%. Mehr Bergsteigen als Radeln. Da wir es heute nicht eilig haben, lassen wir uns Zeit - oder wie es ein italienischer Jogger, der uns begegnet, sagt - „piano“. Unsere bewährte Methode, nach 200 Höhenmetern eine Rekreationspause einzulegen, kommt uns wieder einmal zu Gute. Mit zunehmender Höhe wird es dann auch noch kühler. Waren es beim Start noch 21 Grad, sind es bald nur noch 17, 15, 13. Trotzdem sind unsere Shirts schweißnass ob der Anstrengung.
Um Viertel nach 2, also sehr früh am Nachmittag, erreichen wir das sehr urige Rifugio Pietro Crosta auf 1.750 Meter Höhe. Hier scheint die Welt stehengeblieben. Der super freundliche und engagierte Wirt redet unaufhörlich in einer Mischung aus Englisch, ganz wenig Deutsch und ganz viel Italienisch auf uns ein. Wir können nicht in der Haupthütte nächtigen, da dort eine nicht zu überhörende Gruppe italienischer Bambinis untergebracht ist. Deshalb führt er uns zu einem Nebengebäude, das bestimmt schon seine 100 Jahre auf dem Puckel hat. In der unmittelbaren Nachbarschaft leben glückliche Gänse, Enten und Hühner, dazwischen streunt der frei laufende Hofhund. Innen stehen auf 15 qm 4 Doppelstockbetten, die wohl nach dem 2. Weltkrieg von der italienischen Armee ausgemustert wurden. Aber sauber ist es hier. Duschen dürfen wir in der Hütte nur zwischen 15.30 und 16.30 („We have problems with the water.“)
Nach der Dusche mit einem geheimnisvollen Mechanismus für warmes Wasser genehmigen wir uns erst einmal ein Moretti-Bier, später noch einen echten italienischen Kaffee mit sehr leckerem selbst gebackenen Ricotta-Kuchen. Auch das 3-Gänge-Menu am Abend ist wirklich ausgezeichnet und reichlich. Wer es als verwöhnter Stadtmensch im Urlaub gern einmal einfach, sauber und lecker haben möchte, dem sei diese Hütte sehr empfohlen.
Morgen früh um 8.15 gibt es Frühstück. Ich bin gespannt.
Brig - Rifugio Pietro Crosta
Entfernung: 11,86 km
Fahrzeit: 02:28:05 Std.
Höhenmeter: 1.211 m
Unterkunft: Rifugio Pietro Crosta, Varzo
Freitag, 30.06.2023
Sechster Tourtag: Die nasse Etappe
Die 6. Etappe von unserem urigen Rifugio ins Formazza-Tal sollte anders verlaufen als geplant. Schon gestern haben wir im Wetterradar gesehen, dass es heute ein Regentag geben wird. Aber man hofft ja immer, dass es nicht so schlimm kommen wird. Es kam aber so schlimm. Als wir in unserem Hühnerstall-Militärbett-Schlafsaal aufwachen, ist von der Landschaft außer Wolken nichts zu sein.
Erst einmal wird gefrühstückt. Hüttenmäßig spärlich, aber okay. Weißbrot mit Butter und Marmelade, ein kleines Stück Zitronenkuchen und Plätzchen. Aber eine sehr große und leckere Tasse Cafè latte.
Draußen wurde es nicht besser, eher schlimmer. Unseren Plan, den Weg über einen steilen Abstieg ins Formazzatal zu nehmen, verwerfen wir aus Sicherheitsgründen sehr schnell. Auch unser Wirt rät dringend davon ab.
Die Räder werden im Lagerraum des Linienbusses verstaut.
Also entscheiden wir uns, zunächst den Weg, den wir gestern mühseelig heraufgefahren sind, wieder zurück zum Bahnhof in Varzo zu fahren, um mit dem Zug nach Domodossalla zu fahren. Von dort sehen wir weiter. Gesagt getan, wir rollen im Regen ganz vorsichtig hinunter. Als wir pitschnass in der Bahnhofshalle auf den Zug warten, schaut unser pfiffiger Norbert mal in die DB-App und stellt fest, dass vom Bahnhof in Domodossalla ein Bus bis in die Nähe unserer heutigen Unterkunft fährt. Und das etwa 15 Minuten nach Ankunft unseres Zuges. Das Glück ist uns tatsächlich hold. Diesen Bus gibt es und er nimmt auch Fahrräder mit. Wir müssen sie nur in dem Lagerraum unten im Bus verstauen. Ein Vorderrad musste abgeschraubt werden, aber sonst passte es.
Der Bus bringt uns bis Ponte Formazza. Dort angekommen schwingen wir uns auf die Räder. Inzwischen ist der Regen schwächer geworden. Auf 7 Kilometer müssen wir bei moderater Steigung 450 Höhenmeter hochstrampeln. Um Viertel vor 3 erreichen wir unser Hotel und sind froh, dass wir unser Regenproblem so gut gelöst haben.
Rifugio Pietro Crosta - Riale
Entfernung: 19,39 km
Fahrzeit: 01:38:27 Std.
Höhenmeter: 328 m
Unterkunft: Albergo Aalts Dorf, Val Formazza , Riale
Samstag, 01.07.2023
Siebter Tourtag: Die letzte und längste Etappe
Die letzte Strecke der Tour führt aus dem italienischen Formazza-Tal bis an den Lago Maggiore, sprich an unseren Zielort Locarno. Das Frühstück in dem sehr schönen Hotel fällt italienisch aus. Der Kaffee ist super, der Rest naja. Immerhin Croissants und etwas Brot, das wir für unser Mittagessen bunkern. Mit Kuchen zum Frühstück lassen sich die Italiener allerdings nicht lumpen. Kohlenhydrate kann man bei einer solchen Tour ja gut gebrauchen.
Wir treten in die Pedalen um kurz nach neun wie immer. Das Wetter ist heute wunderschön, strahlend blauer Himmel und schon 20 Grad. Haben wir uns am gestrigen Regentag noch gefragt, wie man am Ende dieses Tals Tourismus entwickeln kann, sehen wir uns heute eines besseren belehrt. Ein Fahrzeug nach dem anderen trifft ein. Wanderer, Mountainbiker und Spaziergänger tummeln sich hier schon am frühen Samstag Morgen.
Wir müssen direkt einen ordentlichen Anstieg bewältigen. Auf einer Schotterstraße mit heftiger Steigung. Erst einmal müssen wir 500 Meter nach oben. Wir erreichen wieder einmal einen Stausee, an dessen Ufer wir entlang radeln. Am Ende des Stausees ist auch Italien zu Ende, die Schweiz beginnt. Leider ohne befahrbare Wege. Wir müssen uns auf einem schmalen steilen Wanderweg 300 Meter nach unten hangeln. Die Räder schieben und tragen. Okay, kennen wir, ist aber ätzend.
Unten angekommen überlegen wir, wie es weitergeht.
Variante 1: über den nächsten, mindestens doppelt so hohen Berg, der zudem hinten steil hinabgeht. Dafür fehlt inzwischen etwas die Motivation.
Variante 2: wir fahren auf der Landstraße etwas weiter bis Airolo und dann mit dem Zug bis Locarno. Kommt gar nicht in Frage, nachdem wir gestern bereits notgedrungen „schummeln“ mussten.
Wir entscheiden uns schließlich für Variante 3. Wir fahren mit unseren Rädern über Airolo und Bellinzona nach Locarno. Kurz durchgerechnet, es sind von hier aus noch 100 km, das schaffen wir. Zugegebenermaßen geht es anfänglich runter. Allerdings fordert bald ein kräftiger Gegenwind unsere Kräfte ordentlich heraus. Außerdem ist es inzwischen 34 Grad warm. Es macht wirklich Spaß durch diese wunderschöne Region zu fahren, der Wind und die Hitze machen es aber anstrengend. Ein tolles Gefühl, als wir den Lago Maggiore erblicken.
Noch wenige Kilometer bis Locarno, das wir um etwa 18.00 Uhr verschwitzt, ermattet, aber sehr glücklich erreichen. Wir haben wieder einmal unsere Tour erfolgreich, ohne Stürze und Pannen beenden können. Ab in unser nettes Hostel mitten in der Innenstadt und nach der belebenden Dusche feiern wir den erfolgreichen Abschluss der Tour gebührend bei Pizza und ein, zwei, ... zehn Bierchen.
Riale - Locarno
Entfernung: 12,62 km
Fahrzeit: 06:48:06 Std.
Höhenmeter: 921 m
Unterkunft: Easyrooms Dell‘Angelo, Locarno
Sonntag, 02.07.2023
Die Abreise
Pünktlich um 9.35 Uhr verlässt der Schweizer Interregio den Bahnhof in Locarno. Er bringt uns nach Basel, wo Norbert zu seiner Verwandschaft nach Frankreich abbiegt. Tom und ich steigen in einen Eurocity und rutschen ohne weiteren Umstieg entspannt in die Heimat. Halb acht abends trifft der Zug in Düsseldorf ein; für die 15 km nach Hause bemühe ich noch einmal mein Radl.