Desensibilisierung

Pferde sind Fluchttiere. Na klar! Deshalb haben sie vor vielen Dingen erst einmal Angst. Für diese Alltagssituationen und -gegenstände, denen unsere Pferde immer wieder ausgesetzt sind, sollten wir ihnen die Angst nehmen. Dann leben sie entspannter und wir genießen einen sicheren Umgang mit ihnen.

Warum macht man soetwas?

Warum denke ich, dass Desensibilisierung ein so unglaublich wichtiger Bestandteil der Ausbildung eines Pferdes ist?

Als Fluchttiere haben Pferde die Eigenart, vor unbekannten Dingen, die sie erschrecken, erst einmal ein Stück zu flüchten und sich dann aus gebührender Entfernung erst umzusehen, wovor sie da eigentlich weggelaufen sind. In unserem täglichen Umgang mit Pferden ist das immer wieder hinderlich oder sogar gefährlich. Dadurch geschehen die meisten Unfälle.

Stellen Sie sich einmal folgende Situation vor:

Sie befinden sich mit einigen anderen Pferden / Reitern auf einem Ausritt. Es ist Wochenende. Spaziergänger sind deshalb ebenfalls unterwegs. Als Sie losritten, zogen bereits Wolken auf. Nun beginnt es zu regnen. - Eigentlich nicht weiter schlimm, denn wir Reiter sind da ja nicht zimperlich. Ein wenig Regen löst uns nicht auf. Also weiter!

Da kommt Ihnen eine Familie entgegen. Die Mutter holt für das Kind einen Zellophan-Regenmantel heraus. Es knistert, die Pferde werden nervös. Dann lassen die Eltern ihre Automatik-Regenschirme aufspringen. Die Pferde stürmen wie auf Kommando Richtung Stall. Alle Reiter liegen auf dem Boden...

Das habe ich mir nur ausgedacht? - Ja, das stimmt. Oder eigentlich nicht: Ich habe es einfach nacherzählt. Denn so ist das nicht erst einmal passiert.

Ich möchte soetwas nicht erleben müssen. Deshalb zeige ich meinem Pferd nach und nach und immer wieder, dass es vor solchen Dingen keine Angst haben muss. Ich möchte neben und auf meinem Pferd einen Schirm aufspringen lassen können. Wenn uns ein Ball spielender Kinder entgegenrollt, soll mein Pferd seelenruhig weitergehen. Genauso, wenn eine Plastikfolie vom Wind vorbeigeweht wird oder ein Luftballon platzt.

Wenn ein Hund neben meinem Pferd austickt und sich die Kehle aus dem Hals bellt, möchte ich mich um den Hund kümmern können und nicht erst mein Pferd beruhigen müssen. Wenn wir an Rindern oder Schafen vorbeireiten, soll ihn das nicht weiter berühren. Ebenso möchte ich, dass wir gesund nach Hause kommen, nachdem wir von rücksichtslosen Motorrad- oder Autofahrern zu dicht, zu laut und zu schnell überholt wurden.

Wenn mir der Metallstriegel herunterfällt, soll mein Pferd nicht erschrecken. Auch nicht, wenn der Sattelgurt beim Satteln herunterrutscht und gegen das Bein schlägt. Ich möchte unter meinem Pferd hindurchkrabbeln und im Schlagbereich direkt hinter dem Pferd stehen können, wenn ich dort etwas zu tun habe. Auch mit der summenden Schermaschine in der Hand.

Das alles erreicht man am besten durch Desensibilisierung.

Desensibilisierung ist Anti-Schreck-Training!

Und das mache ich mit allen Pferden, mit denen ich Umgang habe:

Wie man das macht

Als Voraussetzung für solche Übungen sollte bereits ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen Mensch und Pferd bestehen. Andererseits festigen diese Übungen das Vertrauen des Pferdes in seinen Menschen und umgekehrt.

Durch solche Übungen lernen sich Mensch und Pferd in einem kontrollierbaren Umfeld besser kennen: Das Pferd lernt, dass die Dinge, die ihm sein Mensch präsentiert, keine Gefahr bedeuten. Der Mensch lernt, wie sein Pferd in solchen Situationen reagiert. Man lernt auch die Vorzeichen kennen, die einer Angstreaktion vorausgehen und kann sein Pferd deshalb immer besser einschätzen.

Toll! Und wie macht man das nun?

Sie erinnern sich sicher:

Die Desensibilisierung ist eine Kombination aus Habituation und Gegenkonditionierung. Der angstauslösende Reiz wird zunächst in abgeschwächter Form angewendet, so daß die Reaktion des Pferdes nur minimal ist. Das macht man solange, bis keine Angstreaktion mehr erfolgt. Dann steigert man den Reiz ein wenig und übt wieder solange, bis das Pferd keine Reaktion mehr zeigt.

Weicht das Pferd aus, geht man mit, bis die Ausweichbewegung aufhört. Erst dann nimmt man den Gegenstand vom Pferd weg.

Den Führstrick hält man dabei am besten in der Hand, so dass man die Ausweichbewegung in eine Drehung umwandeln kann.

Dann steigert man den Reiz ein wenig und übt wieder solange, bis das Pferd nicht mehr ausweicht.

Jedesmal, wenn das Pferd keine Angstreaktion mehr zeigt, wird es belohnt. Die kleine Belohnung zwischen den Steigerungen kann schon die Wegnahme des Reizes sein. Spätestens, wenn mein Pferd den Reiz in seiner vollen Stärke toleriert, stopfe ich Leckerlies ins Pferd hinein!

Nicht immer ist klar abgrenzbar, ob ich mit Habituation (Gewöhnung) oder Desensibilisierung arbeite. Die Grenzen verschwimmen hier, weil wir nicht immer wissen können, ob z.B. die Wegnahme des Reizes wirklich als Belohnung empfunden wird. Das macht aber nichts. Wichtig ist, daß die Methode in der Praxis funktioniert. Der Einfachheit halber spreche ich im Folgenden immer von Desensibilisierung.

Wichtig - Grundprinzipien

Je weniger Aufregung ich dabei erzeuge, desto stabiler wird für gewöhnlich der Erfolg.

* Auch, wenn es auf den Fotos so aussehen mag: Nein, das Pferd ist nicht angebunden. Der Führstrick ist nur um den Balken herumgelegt, so dass sich das Pferd im Panikfall lösen könnte. Manchmal ist es mir lieber, den Führstrick in der Hand zu behalten. Dabei umso mehr aufpassen, dass sich der Strick nicht um die Hand wickelt!