Verschollen in Ben Abu

„Fremder, du solltest die Nacht nicht unter freiem Himmel verbringen.“ Yussuf blieb stehen, sich erstaunt umwendend. Er begegnete dem ehrlichen Blick des schwarzen Augenpaares in einem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht. Yussuf glaubte so etwas wie Sorge zu erkennen und den unausgesprochenen Rat, die Oase lieber vor Anbruch der Dunkelheit zu verlassen. Bevor er eine Frage stellen konnte, war der alte Mann im Getümmel des Basars verschwunden. Er hatte schnell und leise gesprochen. Yussuf wurde aufmerksam. Die ganze Zeit über hatte er schon das seltsame Gefühl gehabt, dass irgendetwas in dieser Stadt nicht stimmte. Der Marktplatz war voller Händler, die mit ihren Kunden feilschten, die Sonne schien, keine einzige Wolke war zu sehen und trotzdem fror Yussuf. Die Kälte kam von innen. Sie hielt ihn wie eine Stahlklammer umfangen, um ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Schon als er heute Morgen durch das südliche Tor die Stadt betreten hatte, fühlte er eine unbestimmte Beklemmung in sich aufsteigen. Reisenden schien man hier nicht sonderlich gewogen zu sein. Er vermisste die orientalische Gastfreundschaft, die ihm allerorten auf seinem langen Weg zuteil geworden war. Einzig der seltsame Alte hatte ihm für eine antike Silbermünze Proviant für die Weiterreise verkauft. Yussuf ahnte, dass der gut gemeinte Rat offenbar mehr wert war, als alles Geld dieser Welt. Er nahm sich vor, auf der Hut zu sein, vor was auch immer. Nur, wo sollte er bleiben, wenn ihm hier jeder buchstäblich die Tür vor der Nase zuschlug? Nachdenklich setzte er sich in den Schatten einer Palme. Alles hier war seltsam. Eigentlich auch, dass es diese Oase überhaupt gab. Das Navigationssystem seines Geländewagens hatte keinen Ort in diesem Teil der Wüste angezeigt. Selbst der Name dieses ungastlichen Fleckens brachte ihn jetzt nicht weiter – Ben Abu. Die Elektrik seines Fahrzeuges war, von einem Augenblick zum anderen, komplett ausgestiegen. Nicht nur die, sein Handy und sogar seine digitale Armbanduhr sagten keinen Mucks mehr. Yussuf hatte mit den Schultern gezuckt, war zu Fuß in die Oasensiedlung gelaufen, die er am Horizont erkennen konnte und hatte gehofft Hilfe zu finden. Ihm, dem Fremden, der ohne Pferd oder Kamel daherkam, begegnete man mit Misstrauen. Als er gar nach einer Autowerkstatt oder einem Elektriker fragte, Worte, die hier keiner verstand, hielt man ihn offenbar für völlig verrückt. Yussuf seufzte. Er nahm seine Tasche auf, warf einen letzten Blick über den Basar, dann machte er sich, eingedenk der Worte des gütigen Greises, zu seinem Auto auf, das irgendwo das draußen in der weiten Wüste stand. Er wollte die Nacht lieber gleich außerhalb der Stadtmauern verbringen. Der knallrote Lack des Geländewagens war im Gelb des Sandes kaum zu übersehen. Yussuf beeilte sich, denn die Sonne sank schnell. Eilends riss er die Fahrertür auf, kaum dass er den Nissan erreichte hatte und genau so rasch zog er sie hinter sich zu. Sofort versuchte er noch einmal den Wagen zu starten. Vergeblich. Vorsichtshalber verriegelte er alle Türen mit der Hand, um möglichst ungestört schlafen zu können. Yussuf grübelte, wovor ihn der alte Mann wohl hatte warnen wollen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die beiden Torwächter mit Lanzen und Säbeln bewaffnet gewesen waren. Lanzen im einundzwanzigsten Jahrhundert! Andererseits – die ganze Oase hatte ganz den Eindruck bei ihm hinterlassen, aus einem völlig anderen Jahrhundert zu stammen. Er schob seinen Autositz etwas mehr nach hinten, klappte die Lehne zurück, wobei sein Blick zufällig die Silhouette der fernen Palmen streifte. Wie von einer Stahlfeder getrieben beugte er sich nach vorn. „Ich bin doch nicht verrückt oder doch?“ Die Palmen verschwanden. Nein, nicht etwa wegen der einsetzenden Dunkelheit, sie verschwanden irgendwo im Boden. Mit offenem Mund starrte Yussuf auf die Stelle, wo Augenblicke zuvor eine blühende Oase gewesen war. Ein paar Mal rieb er sich die Augen, die Bäume waren und blieben verschwunden und mit ihnen die ganze Stadt. Schwer atmend blieb er einfach sitzen. Nach einer Weile löste sich der Schock langsam, das Gehirn begann wieder zu arbeiten. Nun nahm er auch das leise Kratzen unter seinem Fahrzeug war. Yussufs Herz fing an zu rasen. Nicht, dass er jetzt auch irgendwo im Boden verschwand! Ein paar Minuten später beruhigte er sich endlich. Der Nissan stand wie ein Fels in der Brandung. Nur dieses schleifende Geräusch blieb. Yussuf kletterte ins Heck des Autos, drückte vorsichtig die Kofferraumklappe auf, beugte sich noch vorsichtiger hinaus, um einen Blick unter das Auto zu werfen. Er sah gerade noch, wie zwei kleine Füße verschwinden wollten. Ohne weiter nachzudenken packte er blitzschnell zu. Ein erschrecktes Jammern erklang, ehe er Zentimeter für Zentimeter ein etwa zwölfjähriges Kind hervorzog. Yussuf hatte mit heftiger Gegenwehr gerechnet und damit, dass der ertappte Störenfried sofort türmen würde. Stattdessen klammerte sich der schwarzhaarige Junge fest an seinen Arm, wobei er kaum hörbar immer wieder flüsterte: „Nimm mich mit. Bitte, bitte, nimm mich mit.“ Yussuf war viel zu überrascht, um zu antworten. Er blieb einfach liegen und taxierte den Knaben, der sich langsam aufrappelte, ohne dabei seinen Arm auch nur eine Sekunde loszulassen. Dann versuchte Yussuf dessen Klammergriff zu lösen.

„Nein, nein, nein!“, flehte der Kleine.

„Na gut.“ Der Geologe setzte sich auf die Kante und musterte weiter den seltsamen Gast, der wie eine Klette an ihm hing. Gefährlich sah er ja nicht aus, eher völlig verängstigt, verzweifelt und – ja, und ganz anders als die Leute in der Oase. Das heißt, seine Kleidung war irgendwie anders, eher wie das, was er von Kindern dieses Alters in seinem Umfeld gewöhnt war. „Komm rein.“ Yussuf half ihm beim Erklimmen der Ladeklappe, dann schloss er sie schnell. Erst jetzt ließ der Knabe los, warf sich ihm vor die Füße und rief:

„Danke, tausend Mal Danke. Ich werde dir mein ganzes Leben lang dankbar sein!“

„Na, mach halblang. Setz dich. Jetzt erzählst du mir erst einmal wer du bist, wo du wohnst und weshalb du solche Angst hast. Doch nicht etwa vor deinen Eltern, weil sie dir verboten haben, mit einem Fremden zu sprechen?“

Der Junge verneinte, während er sich auf den Beifahrersitz drückte. Seine Hände streichelten dabei das Armaturenbrett und ein glückliches Leuchten zog in sein Gesicht. Yussuf beschloss sich vorzusehen. Immerhin wäre es doch denkbar, dass der Kleine da ein Lockvogel für Autodiebe oder Schlimmeres war. Das laute Magenknurren des Jungen riss Yussuf aus seinen Gedanken. Er jetzt fielen ihm die abgemagerten Beine auf, die unter der Dreiviertelhose hervorlugten. Yussuf schüttelte unwillig den Kopf. Dann langte er nach hinten, wo die Tasche mit dem Essen lag. Der Kleine hatte womöglich den ganzen Tag noch nichts bekommen. Augenblicke später ging in einem Kindergesicht die Sonne auf.

„Greif zu, sonst verhungerst du mir noch. Erzählen kannst du später“, schmunzelte Yussuf.

„Wurst und richtiges Brot!“, strahlte der Kleine, als er genüsslich kauend wieder auf seinem Platz hockte.

Yussuf beobachtete jede Regung des Knaben, der offensichtlich schon besser Tage gesehen hatte und dessen Gesichtszüge ihm irgendwie bekannt vorkamen. Er konnte sich nur nicht erinnern, wo er dieses Kind schon einmal gesehen haben könnte. Dann fiel ihm die verschwundene Oase wieder ein. Dort hatte er ihn jedenfalls nicht gesehen, so viel war sicher. Seltsam. Alles war hier seltsam.

„Dein Auto ist wohl auch einfach stehengeblieben?“, fragte der Junge plötzlich.

„Ja, einfach so.“

„Unseres auch.“

„Ach wirklich?“, Yussuf beugte sich dem Kind entgegen. „Und wo ist es jetzt?“

„Weiß nicht.“ Der Kleine schaute wehmütig aus dem Fenster und wischte sich heimlich ein paar Tränen ab.

„Und deine Eltern?“

Der Junge zuckte hilflos mit den Schultern. Yussuf überlegte. „Pass auf, du erzählst mir jetzt ganz der Reihe nach, was passiert ist, als euer Auto stehen blieb. Aber zu allererst sagst du mir, wie du heißt. Okay?“

„Okay. Ich bin Hakim al Kassim und mein Papa ist der Juwelier am großen Basar in Kairo.“

Yussuf machte eine überraschte Bewegung. Er kannte das Geschäft und den Inhaber persönlich. Er wusste auch um die seltsame Geschichte, die man sich hinter vorgehaltener Hand über ihn seit Jahren erzählte. Seine Kinder sollen entführt worden sein, ohne dass jemals eine Lösegeldforderung gestellt worden wäre. Man soll nicht die kleinste Spur von ihnen gefunden haben, hieß es. Eine Zeitlang verdächtigte man den Vater sogar, er habe seine beiden Kinder umgebracht. „Hakim warte einen Augenblick, ich möchte dir etwas zeigen.“ Er zog einen vergilbten Briefumschlag mit Fotos aus seinem Aktenkoffer. Schnell hatte er gefunden, wonach er suchte. Er hielt ihm drei Bilder hin.

Mit zitternden Fingern strich Hakim über die Gesichter. „Das hier ist mein Papa und der andere Mann ist Yussuf, der studiert Geologie“, sagte er leise.

„Ja du hast Recht, der andere Mann ist Yussuf.“

„Woher hast du die Bilder?“

„Von dem, der sie gemacht hat.“

Der Junge zuckte zusammen. Mit übernatürlich geweiteten Augen schaute er den Mann vor sich an. „Die habe ich gemacht. Aber dann – dann – dann…“ Plötzlich sprang er auf, um mit wenigen Handgriffen den linken Ärmel seines Gegenübers hochzuschieben. Eine lange Narbe, vom Ellebogen bis fast an die Schulter kam zum Vorschein. „Yussuf! Du bist Yussuf! Du musst Yussuf sein!“ Er fiel ihm um den Hals und lachte und weinte gleichzeitig.

„Hakim, mein Kleiner.“ Yussuf nahm den schmächtigen Köper liebevoll in die Arme. „Was ist nur mit dir geschehen? Du bist noch immer der Junge von damals, während sich unsere Uhr ganze zehn Jahre weiter gedreht hat.“

„Zehn Jahre???“ Hakim wand sich aus Yussufs Armen. „Hast du gerade zehn Jahre gesagt?“...