Die Magier von Tarronn

Band 5

Band 5

Spät in der Nacht ging das Begrüßungsfest für Horus und Darina zu Ende, ohne dass Sami eine passende Gelegenheit gefunden hatte, mit Leon über Lauras Sorgen zu sprechen. Er nahm sich vor, am nächsten Morgen die Augen und Ohren weit offen zu halten. Hilfe holte er sich bei Chima.

„Gibst du mir bitte sofort Bescheid, wenn irgendein neuer Gleiter hier landet?“, flüsterte er ihr zu.

„Versprochen!“

Drei Tage später war es so weit. Gleiter im Anflug, hörte Sami die telepathische Stimme des Drachenweibchens.

Danke! Ich revanchiere mich, gab er zurück, sich sofort auf den Weg zum Landeplatz machend. Hinter einem Felsblock beobachtete er ungesehen, was sich zutrug. Der Pilot, ein Mann aus Jamals Team im Palast, verriegelte von außen das Fluggerät.

Als Horus eintraf, übergab er es an Leon. „Alle Systeme gecheckt und flugbereit.“

Leon schaute ihn fragend an. Horus begann zu lachen.

„Reinkommen müsst ihr schon selber! Wie wollt ihr fliegen, wenn ihr nicht mal dazu in der Lage seid?“

Leon warf Ihi und Ariel verlegene Blicke zu.

Gib den telepathischen Code gelb-orange-blau-dreizehn an das System, hörte er plötzlich Samis Stimme in seinem Kopf.

Der Tipp funktionierte und Leon enterte die ausklappende Rampe. Seine Freunde folgten ihm mit Horus. Es dauerte nicht lange, da fragte Leon bei Sami nach dem Startcode an. Mit einem Kopfschütteln gab dieser Auskunft. Ein paar Minuten später hob der Gleiter im Normalflugmodus ab.

Sami schaute nachdenklich hinterher. Hier ging es wohl nicht mehr darum, mit Leon über Lauras Gedanken zu sprechen, sondern darum, zu verhindern, dass ihr ein Leid geschähe, wenn sie mit diesen drei Crashpiloten flöge. Bestärkt wurde er in dieser Annahme durch die vielen hilflosen Nachfragen ihres Bruders während des zwanzigminütigen Testfluges.

Sami gab Auskunft unter Anwendung jeglicher Abschirmung, sodass Horus zu der Überzeugung kommen musste und schließlich auch kam, dass Leon durchaus in der Lage sei, selbstständig diesen Gleiter zu fliegen. Soeben landete er wieder.

„Viel Spaß“, wünschte Horus, ehe er sich auf den Weg zu Darina machte.

„Ich hole Laura“, rief Ihi.

Ariel und Leon blieben neben dem Gleiter stehen, wobei Letzterer ziemlich nervös wirkte.

Ariel wandte sich ihm zu, kaum dass Horus außer Hörweite war. „Meine Güte! Du hast dir den ganzen Krempel gemerkt? Magier müsste man sein!“

„Eben nicht!“, gab Leon kleinlaut zu. „Sami war unser eigentlicher Pilot. Ich wäre weder in das Ding rein, noch damit klar gekommen. Wäre Sami nicht gewesen, dann hätte ich mich voll zum Idioten gemacht.“

„Dann sollten wir ihn bitten, mit uns zu fliegen“, riet Ariel.

„Geht nicht. Ist nur ein Viersitzer und Laura kann ich nicht hier lassen.“

„Pass auf! Klartext: Ich habe erstens das große Flattern, wenn keiner von uns den vollen Durchblick hat. Zweitens wollt ihr was aus der Vergangenheit eures Clans herausfinden, wo ich nicht unbedingt dabei sein muss. Drittens solltest du auf meinen Rat hören und auf der Stelle Sami als Pilot anheuern. Tust du es nicht, werde ich dich als Viertes bei Horus verpfeifen oder noch besser, bei deinem Vater. Alles klar?“

„Erpresser!“, grollte Leon, dabei klopfte er Ariel dankbar die Schulter.

Im nächsten Moment hörte Sami seine Bitte, sofort zum Landeplatz zu kommen. Solons Sohn hatte der gesamten Unterhaltung gelauscht. Nun ließ er sich Zeit. Nach zehn Minuten kam er gemächlich hinter seinem Felsem hervor, als wäre er gerade von der Schafweide über die Wiesen gelaufen.

„Wo brennt es denn?“, fragte er gespielt naiv.

Leon schluckte. „Ich brauche einen fähigen Piloten.“

„Und da kommst du zu mir?“ Sami setzte ein so ungläubig-staunendes Gesicht auf, dass ihm Leon das Theater problemlos abkaufte.

„Hast mir vorhin den Hintern gerettet“, gab der junge Magier unumwunden zu. „Würdest du bitte das Ding für uns fliegen?“

„Wenn es nicht zu vermeiden ist. Wo soll es denn hin gehen?“

„Zum Nordmeer.“

Sami blieb seiner Rolle treu. „Oh-ha!“

Leon winkte ab. „Mann! Ich bin ein Magier!“

Sich am Ohr kratzend, fragte Sami: „Mit Magie lässt sich der Silbervogel wohl nicht bedienen?“

Statt einer Antwort schnaufte Leon nur unwillig, denn Ihi tauchte soeben mit Laura auf.

Ariel klopfte Sami auf die Schulter. „Bring sie gut ans Ziel.“

„Ich werde mir Mühe geben.“ Sami betrat wortlos den Gleiter, um vor dem Start noch einmal die Instrumente zu checken.

„Habt ihr euch überworfen?“ Laura deutete auf den davoneilenden Ariel, der ihr im Vorbeihuschen zugewinkt hatte.

„Eigentlich nicht. Er wollte nur nicht mit Dilettanten fliegen und hat gemeint, ich solle lieber Sami mitnehmen, weil der etwas von der Sache versteht.“

„Horus hat euch doch aber sein Flugzeug gegeben, weil der Probeflug erfolgreich war“, murmelte Laura irritiert. Sie schaute unbewusst in die Richtung, in welche Ariel verschwunden war.

Leon grinste breit. „Wir hatten eine Fernsteuerung und die habe ich als Piloten angeheuert. Sami sitzt schon im Cockpit.“

„Wenigstens einer, der vernünftig ist“, seufzte die junge Frau, „Hoffentlich nimmt das hier ein gutes Ende.“

„Du immer mit deinen Befürchtungen. Vergiss nicht, ich bin ein Magier und nicht einmal ein schlechter.“

„Eindeutig größenwahnsinnig“, murmelte Laura und ging zu Sami hinein.

Ein kurzer Blickwechsel, dann wussten beide, dass Reden sinnlos war und man einfach das Beste aus der verfahrenen Situation machen musste.

„Es kann losgehen!“, rief Leon beim Betreten der kleinen Zentrale.

Sami nickte. „Systeme gecheckt, Luken geschlossen, Start in drei Sekunden.“

Sanft hob der Gleiter ab, drehte um 180 Grad und flog direkt auf das offene Meer hinaus.

„Genaue Zielkoordinaten…“

„Keine“, grinste Sami. „Geradeaus, dann links zum Nordmeer und einfach Spaß haben.“

„Sag mal, spinnst du?“ Laura funkelte Leon wütend an. „Wenn du einen Piloten brauchst, dann gib ihm gefälligst in ordentlichem Ton die nötigen Daten.“ Nach einem kurzen Blick auf den Monitor mit der Karte der nördlichen Regionen wandte sie sich an Sami. „Flieg bitte die Randsiedlung direkt an, dann fünf Grad nordwestlich, Kurs auf die letzte Messstation im Eis.“

„Danke.“ Sami programmierte um. „Automatisches Positionssignal alle fünf Minuten“, gab er bekannt.

„Warum denn das?“, fragte Leon überrascht und ziemlich unangenehm berührt.

„Weil das so Vorschrift ist.“ Sami drehte sich nicht einmal zu ihm um. „Hier gelten die Regeln für gesperrte und extrem gefährliche Gebiete.“ Seine Miene blieb völlig reglos und auch sein Energielevel auf kompletter Abschottung, seit er die Flugmaschine betreten hatte.

Laura versuchte, von der Seite in seinem Gesicht zu lesen – ohne Erfolg, was sie noch mehr erstaunte. Solche Beherrschung der Energien war eigentlich nur einem Magier möglich. Sami war bisher durch keinerlei besondere Fähigkeiten hervorgetreten. Sie beschloss, später mit ihm darüber zu reden.

„Wir erreichen die letzte Station in zehn Sekunden“, gab Sami bekannt.

Alle schauten aus dem gepanzerten Panoramafenster. Der Gleiter überflog das Nordmeer, genau an der Stelle, wo Zaids Mutter vor tausenden Jahren den tödlichen Unfall erlitten hatte.

„Keine Anomalien“, gab Ihi, nach einem kurzen Blick auf die Instrumente, bekannt.

„Mag sein, hier lauert trotzdem was“, murmelte Leon. „Ich kann es fühlen.“

Sami warf Laura einen schnellen Blick zu. Sie, die Enkelin Neris und mit fast den gleichen Gaben ausgestattet, hatte nur ihm von ihrer Vision erzählt, die sie für einen banalen Traum gehalten hatte. Sie war auf den letzten Kilometern immer stiller und in sich gekehrter geworden.

„Und ich wette, Laura geht es ebenso“, fügte Leon gerade noch hinzu.

„Zweifellos“, pflichtete ihm Sami bei. „Sie sie dir nur an! Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätten wir eine andere Flugroute eingeschlagen oder wenigstens einen der Drakonat gebeten, uns auf dem ersten eigenständigen Abenteuer zu begleiten.“

Ihi versuchte abzuwiegeln. „Noch ist ja nichts passiert.“

„Noch. Genau, wie du sagst.“ Sami ließ die Finger rasch über die Tasten des Steuerpultes gleiten. Tausende zusätzliche Scanns erstellten ein genaues Bild des Untergrundes, der hier löchrig wie Käse zu sein schien. Dabei drangen diese Öffnungen mehrere hundert Meter tief in den Boden des Planeten ein.

„Weiß eigentlich jemand, wie diese Kanäle entstanden sind?“, fragte Ihi plötzlich.

Allgemeines Kopfschütteln antwortete ihm.

„Wisst ihr es nicht oder weiß es keiner?“, präzisierte er grinsend.

Laura verdrehte die Augen. „Männer!“, schnaufte sie. „Ich schau einfach mal nach. Irgendwo in den Speichern muss es ja geologische und geschichtliche Daten geben.“ Ein paar Minuten verstrichen, in denen sie die Texte äußerst intensiv zu studieren schien. Dann hob sie langsam den Kopf. „Caiphas!“

„Oh, oh!“, die jungen Männer umringten sie, um mitzulesen. Ein unangenehmes Kribbeln im Nacken ließ Leon plötzlich herumkreiseln.

„Achtung! Hinlegen!“, schrie er und riss Laura zu Boden. Ob die anderen schnell genug waren, konnte er nicht sehen. Kunststoff splitterte, der Antrieb setzte immer wieder aus und das Geräusch zerreißenden Metalls malträtierte die Ohren.

„Aufschlag in etwa drei Sekunden“, schrie Sami und zählte an: „Eins – zwei…“

Bei drei bohrte sich der Rumpf des Fluggerätes in die Eisdecke des Ozeans. Die Abenteurer wurden wie Stoffpuppen herumgeschleudert, knallten gegen die Reste des Steuerpultes und rissen sich an den unzähligen Splittern der Panzerglasscheibe tiefe Wunden. Einer fluchte, der andere stöhnte. Sami biss die Zähne zusammen und robbte bäuchlings zu Laura, die mit geschlossenen Augen verkrümmt in der Ecke lag und keinerlei Lebenszeichen von sich gab.