Der Nixen-Clan (Band 5)

Freudenfeste

Seit fünf Jahre lebt Yín Lóng, der Silberne Drache, als Partnerin an der Seite von Draco, den der Meermann Ammon liebevoll aufgezogen hatte. Für Draco werden die Nixen und Meermänner immer Familie bleiben, denn er fühlt und lebt wie sie. Daran ändert auch nichts, dass ihn Lóng Mǔ und Dá Lóng, das Königspaar der Lóng, nun offiziell als Sohn anerkennen. Über diese Konstellation freut sich nicht nur das Meervolk. Es ist der Beginn einer neuen Ära im Leben der Meerdrachen, die bisher die männlichen königlichen Nachkommen töteten oder verstießen.

Doch auch auf der Erdoberfläche gibt es positive Veränderungen. Ab und zu kann die Sonne die Vulkanstaubwolken durchdringen und sichert einigen Landpflanzen ein kümmerliches Überleben. Endlich wächst auch der Tang in den Plantagen wieder zufriedenstellend und garantiert die Existenz der Clans des Meervolkes.

Die befreundeten Lóng aus dem Tiefseegraben kommen immer wieder gern zu den Drachenfesten des Meervolks, bewundern die Kunstfertigkeit der Wilson-Rakaa und Enga und lauschen den wundersamen Geschichten, die Tiku zu erzählen weiß. Inzwischen ist es ein fester Ritus, dass die Zusammenkünfte mit dem Königslied begonnen werden, wie in uralter Zeit.

Dank der Fürsorge umeinander sind die Meerwesen von Verlusten in den eigenen Reihen verschont geblieben. Triton und Nemo, die Söhne von Ammon und Tiku sind unzertrennlich. Seit ihrem Abenteuer mit den Nuoni haben sie keinerlei Unfug mehr angestellt, fleißig gelernt, und Kïa, die Königin der Enga-Nixen, hat ihnen sogar die Aufsicht über die kleinsten Kinder übertragen, weil auf beide höchster Verlass ist.

Tiku glaubte, sich verhört zu haben, als es ihm Kami ganz nebenbei mitteilte. „Bist du sicher, dass das nicht anders herum ist?“, fragte er erstaunt.

Kami lachte herzlich. „Irrtum ausgeschlossen. Die beiden sind nämlich die Söhne ihrer Väter und auf die können sich alle zu 100 Prozent verlassen.“

Yín Lóng sah das genau wie Kami. Sie war froh, die beiden Knaben als Helfer zu haben, denn die filigranen Enga-Babys huschten pfeilschnell von Ort zu Ort und waren buchstäblich überall. Das ganze Volk atmete auf, als die Kleinen schließlich alt genug waren, um von Kami, Tiku, Liana und Siria in allem ausgebildet zu werden, was man tief im Meer, aber auch in der Menschenwelt, wissen musste. Tiku übernahm den naturwissenschaftlichen Part. Natürlich standen Singen und Kreativität genau so auf dem Programm.

Yín Lóng liebte es, die Schüler und Lehrer bewachen zu dürfen, erfuhr sie doch so auch immer wieder nützliche Dinge, oder konnte Zusammenhänge herstellen, wo ihr bisher der Überblick gefehlt hatte. Kïas kleines Volk war stolz darauf, Teil dieser Gemeinschaft zu sein.

Am heutigen Morgen war alles anders. Amar und Auan kamen, statt der Lóng, in voller Bewaffnung herbei.

„Habe ich was verpasst?“, staunte Kami.

„Hast du“, blinzelte Tiku, der sich soeben einstellte, um mit dem Unterricht zu beginnen. „Die Lóng sind in der Nacht unruhig geworden und folgen wohl gerade ihrer Drachennatur.“

Kami strich sich den langen Bart. „Bei einem anderen Drachen wäre es erstaunlich. Nicht aber bei Draco, denn er ist ein Auserwählter, der selbst Lóng Mǔ immer wieder zum Staunen bringt. Dabei hätte ich in frühestens zehn Jahren mit dem Paarungstanz der beiden gerechnet. Drücken wir ihnen die Daumen, dass sie Erfolg haben.“

Die Lóng kamen erst zwei Tage später zurück, wobei sie für die Gemeinschaft einen riesigen Thunfisch mitbrachten. Sie hatten ihn in Tiefen erbeutet, die sie normalerweise nicht aufsuchten.

Die Pottwale erzählen, dass die Luft überm Meer in vielen Regionen nicht mehr so ätzend sei, berichtete Draco.

„Sie waren wirklich geneigt, mit euch zu reden?“, staunte Tiku.

Ja, waren sie, strahlte Yín Lóng. Wir haben nämlich jene Herde getroffen, deren Kalb wir vor Jahren gerettet haben. Sie spüren uns gegenüber keine Berührungsängste. Besonders nicht unser damaliges Sorgenkind. Es kam sofort heran und begrüßte uns mit einem herzerwärmenden Gesang.

Draco begann zu lachen. Wenn ich mir die Gesichter unserer Leute anschaue, und wie mühevoll sie ihre Gedanken abschirmen, denke ich, dass sie viel mehr interessiert, ob es bei uns bald was zu feiern gibt.

Tikus und Kamis breites Grinsen sagte genug und so kicherten alle amüsiert vor sich hin.

Yín Lóng blinzelte vergnügt. Unsere beiden jungen Helden, Triton und Nemo, dürfen uns gern bei der Suche nach Gestein für ein Nest ... Der Rest des Satzes ging im Jubel des Meervolks unter.

Yín Lóng beschrieb die Größe der gewünschten Steine, worauf Tiku grinste: „Also ein paar so groß wie ein Zweipfundbrot, der Rest wie ein Stück Butter.“

Alle, die an Land gelebt hatten, brachen daraufhin in schallendes Lachen aus.

Pero schüttelte amüsiert den Kopf. „Schade, dass wir es nicht erlebt haben. Ich bekomme bei Tikus Geschichten ja schon immer Sehnsucht nach dieser längst vergangenen Zeit. Und wenn er dann noch ganz nebenbei mit Begriffen um sich wirft, über die sich alle fast kringeln vor Lachen, noch viel mehr.“

„Sich vor Lachen kringeln, stammt auch von den Menschen!“, warf Siria kichernd ein.

Keiner wunderte sich wirklich, dass Pero beim nächsten Englisch-Unterricht mit im Steinkreis saß. Die Sprache der Wilson beherrschte er inzwischen perfekt, wie der ganze Enga-Clan. Sie war sogar zur Amtssprache erhoben worden, wie es die Menschen wohl bezeichnet hätten. Die Kleinen und auch viele Wilson-Rakaa lernten aber Enga als Zweit- und noch mehr Englisch als dritte Sprache. Man wusste nie, ob man sie nicht doch einmal brauchen werde.

Die Meerleute konnte man mit gutem Recht als polyglott bezeichnen. Besonders Tiku, Siria und die nordischen Nixen waren in einigen Sprachen bewandert, weil es das Zusammenleben mit den Menschen ganz einfach mit sich gebracht hatte. Bei ihrer schnellen Auffassungsgabe hatten die Mitglieder des Wilson-Clans auch die jeweils andere Sprache fast im Vorbeigehen mit gelernt.

Sogar Kirk, der von sich selbst sagte, denkfauler zu sein, als die anderen Meerleute, paukte Sprachen. Hin und wieder schüttete er Ammon sein Herz aus. „Klar kratzt es mich sehr an der Ehre, dass ich, als halber Rakaa, und meinem Vater optisch ähnlich, ihm nicht das Wasser reichen kann. Ich bemühe mich aber, nicht als völliger Versager in die Familienchronik einzugehen.“

Ammon legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich denke, der letzte Tanz hat gezeigt, dass du keiner bist.“

Kirks Augen glänzten verschmitzt. Ja, der letzte Tanz ... Auch in den Wohngrotten der einsamen Damen erklang schon bald Kinderlachen. „Danke“, seufzte er.

„Gerne. Sogar besonders gerne“, blinzelte Ammon, denn Siria war, seit sie ein wirklich eigenes Baby aufziehen konnte, eine der glücklichsten Nixen des großen weiten Meeres. Die Last des alten Erdenlebens schien sie erheblich weniger zu drücken, obwohl sie nie ganz abfallen würde. Wie einst auf Nui abgesprochen, trug die Kleine einen großen Namen: Adaia.

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