Verlangen, Sex & Abenteuer

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Goslar für Wiederholungstäter

Hier war für den Nachmittag individuelle Freizeit angesagt, weil erst am nächsten Morgen Stadtrundfahrt und Führung stattfinden sollten.

Absolut perfekt, freute sich Maja und tigerte los. Die paar Regentropfen, die sich aus den Wolken wagten, konnten ihr die Laune nicht wirklich vermiesen. Auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt fotografierte sie, was sie im Vorjahr nicht scharf ins Bild bekommen hatte, las in Ruhe die Erklärungstafeln, schnüffelte hier, schnüffelte da und kaufte sich eine Tüte Quarkgebäck, das so verführerisch duftete, dass sie gar nicht vorbeigehen konnte. Abendbrot im Hotel hin oder her.

Holst du dir heute gar keinen Glühwein? Die Gedankenfalter sahen Maja ungläubig an.

Nein, heute wird Gebäck genascht. Ich werde mir aber auf den wundervollen Tag ein Glas Rotwein im Hotel genehmigen. Ich halte eher nach einem Drachen aus Holz, Keramik oder oder Glas Ausschau.

Am ehesten, so war sie sicher, werde sie im oder um das Haus Des Großen Heiligen Kreuzes fündig werden, denn da gab es Kunsthandwerker und ein Glasstudio. Sie begann damit, sich die Verkaufsstände im Handwerkerhof anzuschauen, und wechselte dann zum Glasstudio hinüber.

Oha! Es gab Drachen. Es gab sogar ganz wundervolle Drachen, sowohl aus Holz als auch aus Glas. Maja schlich ewig um die Vitrinen, dann gab sie auf. Das, was sie hätte von ganzem Herzen haben wollen, war zu groß, um es auf einer Busreise im Handgepäck mitzunehmen.

Wer weiß, wozu es gut ist, wisperte der Schwalbenschwanz und Maja gab ihm recht.

Dann kaufe ich mir im anderen Gebäude doch noch ein paar Ohrringe, gab Maja bekannt, den Weg zum Handwerkerhof einschlagend.

Aber auch dazu sollte es nicht kommen. Sie erspähte nämlich plötzlich ein Museum, das geöffnet hatte. Auf der allerersten Stufe der steilen Holztreppe fuhr Maja plötzlich ein Schmerz ins Hüftgelenk, der sie wie eine alte Frau hinauf kraxeln ließ.

Hexenschuss kann es nicht sein, konstatierte der Schwalbenschwanz mit todernster Stimme. Die schießen nicht auf ihre eigenen Leute.

Von oben wurde sie auch mit einem halb amüsierten, halb mitleidigen Grinsen beobachtet. „Na, junge Frau, das habe ich auch schon schneller gesehen!“, schmunzelte der Museumswärter.

„Glaub ich gern“, feixte Maja. „So alt, wie ich mich im Augenblick fühle, werde ich bestimmt nicht. Ein Wunder, dass ich es überhaupt hier hoch geschafft habe. Aber für den Gnadenschuss sind Sie ja bestens ausgerüstet.“

Kein Wunder! Schließlich befand sie sich in der Erinnerungsstätte der Goslarer Jäger, wo seit 1989 militärhistorische Exponate ausgestellt werden. 200 Jahre hannoversch-englische und deutsche Wehrgeschichte sind hier am Beispiel des Jägerbataillons nachzuverfolgen. Viele bekannte militärische Persönlichkeiten hatten bei den Goslarer Jägern gedient und sich Majas Besuch hier wirklich gelohnt. In vielerlei Hinsicht. Denn das kleine Wortgeplänkel bei der Begrüßung hatte den Effekt, dass Maja am Ende eine Tasche voll Infomaterial mit sich trug, um noch einmal ganz in Ruhe über alles nachlesen zu können.

Die Treppe kam sie leichter hinunter, als hinauf, wobei das eher der Tatsache zu verdanken war, dass sie die Zähne zusammenbiss.

Der Kirchturm hat sich ja dann wohl erledigt, murmelte der Distelfalter, weil Maja ganz erhebliche Schmerzen zu haben schien. Zumindest wies das deutliche Hinken darauf hin. Der Gedankenschmetterling meinte den 66 Meter hohen Nordturm der Marktkirche, den man über 232 Stufen besteigen konnte. Maja hatte sich eigentlich darauf gefreut, denn es gab hier viel zu bestaunen, aber auch das sollte wohl heute wieder ausfallen.

Es geht einfach nicht, grummelte Maja, die nicht wusste, ob sich irgendwohin setzen oder lieber weiterlaufen sollte, bis der Schmerz nachließ. Ich schleiche jetzt zum Parkplatz und dann sehen wir weiter.

Vielleicht musst du doch mal für ein paar Tage nach Goslar fahren, schlug der Zitronenfalter vor.

Ja, dann könnte ich auch ganz in Ruhe die Ausstellungen in der Kaiserpfalz besichtigen, seufzte Maja. Für jetzt ist mir die Zeit zu kurz. Ich werde nur einen kurzen Blick hinein werfen und schauen, was es an Informationen zu erhaschen gibt.

Das imposante Gebäude an sich lockte Maja. Aber vielleicht war es ja auch das Reiterstandbild von Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, über den sie immer wieder bei ihren Streifzügen stolperte.

Der Distelfalter seufzte. Hättest sein Haus- und Hofdichter bleiben sollen, Knappe Maximilian.

Ja, dann wäre einiges anders gekommen, bestätigte Maja, aber nicht unbedingt zu meinem Vorteil.

Sie betrachtete das Gesamtensemble der Kaiserpfalz sehr nachdenklich. Sie konnte sich vorstellen, wie beeindruckt die Menschen des 11. Jahrhunderts von diesem gewaltigen Bauwerk gewesen sein mussten, wenn sie schon kaum aus dem Staunen heraus kam.

Die Ersten steigen in den Bus, gab der Zitronenfalter plötzlich bekannt.

Das sollte ich auch tun, erwiderte Maja. Morgen früh ist doch großer Stadtrundgang, da möchte ich wieder fit sein.

Diesmal konnte sie auf der Strecke nach Goslar-Hahnenklee, wo das Hotel auf die Reisenden wartete, auch mehr sehen, als meterhohe geschlossene Schneedecke wie ein Jahr zuvor. Das machte neugierig auf die Rückfahrt am nächsten Tag, denn die Dunkelheit verschluckte langsam auch die Details.

Im Hotel kannte sie sich aus, wusste, dass Selbstbedienung am Buffet herrschte und man im Notfall improvisieren musste. So nahm sie es nicht tragisch, dass es plötzlich keine Weingläser mehr gab. Der Rotwein schmeckte auch aus einem großen Saftglas.

Am Tisch staunten alle, was sie denn für wundersamen Saft habe. Als sie das Geheimnis verriet, sprangen einige auf und taten es ihr gleich. Sie hatten alle die Weingläser vermisst. Man war sich rasch einig, dass es ausschließlich auf den Inhalt ankam, zumal man ja nicht in einem 5-Sterne-Haus war. Maja brachte mit ihrer unbekümmerten Art so einige zum Lachen. Und irgendwann lüftete sie auch noch das Geheimnis um ihre Bücher und verteilte ein paar Visitenkarten, die wirklich rein zufällig in einer ihrer vielen kleinen Außentaschen der Handtasche steckten.

Ich dachte, du hast gar keine mit, staunte der Schwalbenschwanz.

Da sind wir schon zwei, lachte Maja. In irgendeinem Winkel schlummert wohl immer irgendwas, zumal ich ja die Tasche nie völlig ausleere.

Nach dem heißen Duschen kroch Maja ins Bett und schlief auch schnell ein, zumal diesmal kein Sturm in den Schächten der Lüftungsanlagen jammerte.

Morgens wurde sie vom Wasserrauschen in den umliegenden Zimmern munter und wunderte sich, weil sie ja sonst immer als Erste auf den Beinen war. Ein Blick auf den Handywecker, ließ sie hellauf lachen. Sie hatte Sonntag eingestellt, es war aber Montag. Alles kein Problem, sie hatte am Vorabend schon gepackt und konzentrierte sich jetzt ausschließlich auf die Körperpflege vor dem Frühstück.

Immer noch kreuzlahm? Der Schwalbenschwanz hockte auf der Kulturtasche und beobachtete besorgt Majas vergebliche Versuche, ein herabgefallenes Wattestäbchen aufzuheben.

Als sie es endlich in der Hand hielt, war sie schweißüberströmt. Ich glaube, mich hat es richtig blöd erwischt. Das hielt sie aber nicht davon ab, die Treppe zu nehmen, um in den Speisesaal zu gelangen. Irgendwann muss sich das doch mal wieder einrenken!

Das tat es auch. Als sie später beim Auschecken mit dem Koffer in der Hand eine Stufe verfehlte und sich gerade noch so abfangen konnte. Ein kurzer stechender Schmerz, dann hätte Maja wieder Bäume ausreißen können. Auf alle Fälle hätte es für vier Tage alte Setzlinge gereicht, wie der Schwalbenschwanz feixend verkündete.

Du wirst noch so lange machen, bis sie dich mit der erstbesten Fliegenklatsche erlegt, oder sie dich an ihre Carnivoren verfüttert, mahnte der Distelfalter. Die Kannenpflanze schluckt auch größere Brocken.

Der Schwalbenschwanz lachte herzlich. Wäre Maja wirklich sauer, dann hätte sie ihn in eine Distel verwandelt. Aber das war schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Man war aufeinander angewiesen.

Maja bekam von dem Wortgeplänkel nichts mit, die stand am Bus Schlange, um ihren Koffer für die Heimfahrt im richtigen Frachtfach verstauen zu lassen. Dann nahm sie ihren Platz ein und freute sich auf Goslar.

Wieder wurden die Reisenden in zwei Gruppen geteilt und Maja strahlte schon beim Aussteigen über das ganze Gesicht. Hier hatte sie den gleichen Stadtführer wie im Jahr zuvor, der mit lustigen Sprüchen aufgetrumpft hatte, und der sich auch noch gut an die neugierige Schriftstellerin erinnern konnte. Wenn ein Tag so begann, dann musste er umwerfend schön werden.

Erster Programmpunkt war die Kaiserpfalz mit all ihren Geheimnissen und Schönheiten. Zu den beiden Reiterstandbildern der Kaiser Barbarossa und Wilhelm I. fiel Maja der Spruch ein, den sie irgendwo einmal gelesen hatte: „Der Weißbart auf des Rotbarts Thron.“ Nicht umsonst findet man auch beide auf dem Kyffhäuser vereint.

Mit Barbarossa verband man stets das wahre deutsche Kaisertum und wartete, der Legende nach, darauf, dass er wieder erwachte. Sogar der ewig witzelnde Schwalbenschwanz lauschte den Erklärungen.

Peter Schenning, ein Goslarer Unternehmer und Kunstliebhaber hatte die Idee, wie man das Mittelalter und die Neuzeit zusammenführen könne. Er gründete ein Verein, der die moderne Kunst fördern, und einen internationalen Preis vergeben sollte, den Kaiserring. In dieses begehrte Kleinod aus Gold und Aquamarin ist das Siegel Heinrichs IV. eingraviert.

Woran denkst du? Die Gedankenfalter scharten sicht um Maja, die langsam der Gruppe folgte, sich aber immer wieder zur Kaiserpfalz umdrehte.

Ich habe gerade das Gefühl, als dringe der Hauch einer alten Zeit durch einen Türspalt.

Lass das Tor, bettelten die Schmetterlinge. Wir spüren es auch, es fühlt sich aber gar nicht gut an.

Genau deshalb zögere ich ja. Maja schloss zur Gruppe auf.

Die meisten Gebäude und Verzierungen begrüßte sie schon als alte Bekannte. So auch den Dukatenkacker an der Fassade am Marktplatz. Durch den Weihnachtswald, der jedes Jahr künstlich aus Fichten angelegt wird, gelangten sie schließlich auch zur Münzgasse, wo sich zwei Dachfirste der Fachwerkgebäude fast berühren.

Da kann man gut fensterln, grinste der Schwalbenschwanz, bevor der Stadtführer einen ähnlichen Spruch zum Besten gab.

Das lohnt sich aber nur, wenn die Nachbarin hübsch ist, warf der Distelfalter ein.

Der Trauermantel schüttelte pikiert den Kopf.

Maja schmunzelte still vergnügt in sich hinein, als der Schwalbenschwanz wisperte: Wäre das nicht die ideale Konstellation für dich und Nico?

Sie verstaute die Kamera in der Manteltasche. Ich wäre ja schon glücklich, ihn jeden Monat wenigstens ein Mal sehen zu können.

Vorbei am Großen Heiligen Kreuz ging es zurück zum Parkplatz, um die Rundfahrt bis zum Bergwerk am Rammelsberg mit dem Bus zu machen. Die riesige Anlage beeindruckte Maja immer wieder. Sie liebte es, in Stollen und Höhlen herumzuwandern. Wie gern wäre sie einmal zu Barbarossahöhle gefahren, nur dazu reichte bisher nie die Zeit.

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