Heißer Herbst in Sirmione

...

Die 13. Fee

Am nächsten Morgen lief alles nach Plan. Gemeinsames Frühstück, dann stürzte sich jeder auf seiner Arbeit. Für Lynn bestand sie in erster

Linie daraus, die Vorhänge zuzuschneiden, zu nähen und auf den Metallstangen anzubringen. Zumindest die beiden Fenster im Wohnraum

wurden so weit fertig, dass nur noch irgendwann die Scheibengardinen gehäkelt werden mussten.

Pünktlich um 12 Uhr fand sich Lynn am Hafen ein. Sie hatte Geldkarte, Ausweis und Handy in der Jackentasche verstaut, weil Nick sowieso immer bezahlte. Ihre kleine Kamera baumelte am Handgelenk. Nick war schon da. Er hatte die Bootsplane bereits zusammengelegt. Aber über irgendetwas schien er zu grübeln, denn er bemerkte Lynn erst, als sie ihn ansprach.

„Gibt es Probleme?“, fragte sie.

„Ich weiß nicht. Ich bin sicher, dass ich das Boot anders vertäut hatte. Auch der Reifen, der verhindern soll, dass es an die Mauer schlägt, ist nicht meiner. Dieser hier ist viel größer und vor allem breiter. Es ist aber mein gemieteter Liegeplatz, daran besteht gar kein Zweifel. Ach, was soll es! Es wird sich schon noch aufklären, warum heute alles anders ist.“ Er reichte Lynn die Hand, um ihr ins Boot zu helfen.

Der Motor summte und Nick steuerte die Fahrrinne an. Die Ampel, die regelte, dass keine Wasserfahrzeuge innerhalb des schmalen Burggrabens kollidierten, sprang auch sofort auf Grün. Ein Schwan schwamm in unmittelbarer Nähe. Lynn beugte sich hinaus, um ihn zu fotografieren. Etwas Längliches, Rotes am Boot, unterhalb der Wasserlinie weckte ihre Neugier. Weil sie es nicht genau erkennen konnte, hielt sie die Kamera hinaus, in der Hoffnung es auf Bild bannen zu könne.

Nick wurde aufmerksam. „Was machst du denn für wilde Spiele?“

„Da unten ist was“, murmelte sie, es erneut probierend.

„Welcher Art?“, fragte Nick irritiert.

„Kannst mich für verrückt erklären, aber es sieht aus wie ein Dynamitpäckchen aus einem alten Western. Ich wüsste nicht, wie ich es sonst beschreiben sollte.“

Nick stoppte und schaute selber nach. „Oh, mein Gott“, hauchte er, sichtlich erbleichend. Im Bruchteil einer Sekunde sprang er auf, packte Lynn, warf sie auf der anderen Seite ins Wasser, schrie: „Schwimm!“, und hechtete ihr hinterher. „Weg hier! Schnell!“ Er nahm die völlig geschockte Lynn in den Rettungsgriff, mit aller Kraft Richtung Ufer paddelnd.

Auf halber Strecke gab es einen ohrenbetäubenden Knall, eine Stichflamme, und ihnen flogen Trümmerteile um die Ohren. Zwei Touristenboote wechselten sofort die Richtung, um zum Unglücksort zu eilen. Innerhalb weniger Minuten zog man die beiden aus dem kalten Wasser, hängte ihnen Decken um und nahm Kurs auf den Hafen.

„Rufen Sie Polizei und Rettungdienst“, bat Nick, der Mühe hatte, die vor Kälte und Schock zitternde Lynn zu beruhigen, die noch immer krampfhaft ihre Pocketkamera umklammert hielt.

Polizei und Rettungswagen kamen fast zur selben Zeit an, wie das Boot. Nick stieg zuerst an Land, dann nahm er Lynn in Empfang, die von zwei Männern gestützt werden musste. Einer der Polizisten fasste sofort mit zu. Zuerst wurde Lynn im Rettungswagen durchgecheckt und bekam ein Beruhigungsmittel gespritzt, wobei Nick keine Sekunde von ihrer Seite wich, weil er auch übersetzen musste. Ihre Kamera hatte er an sich genommen. Dagegen, in ein Krankenhaus gebracht zu werden, wehrte sich Lynn so vehement, dass Nick versprach, sich um sie zu kümmern und gegebenenfalls seinen Hausarzt zu Rate zu ziehen.

Man fuhr beide mit dem Polizeiwagen nach Hause, damit sie endlich in trockene Kleidung kamen. Und dort sollten dann auch ganz in Ruhe die Befragung durchgeführt und die Anzeige aufgenommen werden. Nick brachte Lynn in ihre Wohnung, damit sie sich umziehen konnte, führte die beiden Beamten nach oben, wechselte ebenfalls rasch die Kleidung und holte Lynn. Inzwischen hatten die Polizisten die Ausweise gesichtet und die relevanten Daten aufgenommen. Sie wunderten sich auch nicht, dass Herr Tozzi, alias Herr Feretti, seinen Anwalt per Videokonferenz zuschaltete. Und der glaubte, genau wie die Polizisten, seinen Ohren nicht trauen zu können, als er die Geschichte zu hören bekam.

„Ist Frau Wolff verletzt?“, fragte Herr De Luca, weil Lynn kaum reagierte.

„Nicht körperlich. Sie steht noch unter Schock und einem starken Beruhigungsmittel“, erklärte Nick. „Ihre Wissbegier hat uns jedenfalls wiedermal das Leben gerettet.“

Einer der Polizisten hatte von dem verworrenen Fall Feretti gehört und unterrichtete seinen Kollegen flüsternd über die wichtigsten Eckdaten. Nick bekam ein Protokoll ausgehändigt, mit dem er sich nun auch an seine Versicherung wenden konnte, bezüglich des Bootes.

„Sie sprachen von einer Kamera und Aufnahmen“, sagte der Anwalt nachdenklich. „In welcher Tiefe wird sie wohl liegen?“

„Etwa fünf Zentimeter unterhalb des Eingriffs meiner Jackentasche“, erwiderte Nick. „Frau Wolff hatte ihre Kamera mit der Schlaufe am Handgelenk hängen und hat sie auch nicht losgelassen. Einen Moment, ich hole sie und probiere, ob der Chip freiwillig Auskünfte hergibt.“

„Hervorragend“, freute sich der Jurist und die Polizisten schauten sich bedeutsam an. Das versprach, noch richtig interessant zu werden.

Nick brachte die nasse Kamera herein, ein Handtuch und einen Fön. „Mal schauen, ob ich etwas retten kann.“ Er öffnete das Fach der Speicherkarte. „Erstaunlich. Nur leicht feucht.“ Er pustete warme Luft auf niedrigster Stufe über die Karte, um sie sofort in den Slot seines Laptops zu schieben. Sie wurde nicht erkannt. „Keine Panik. Ich versuche es noch Mal“, murmelte er, etwas wärmere Luft über den Chip blasend. Beim vierten Versuch gab der Speicher endlich Daten frei, auch jene, wo Lynn mehrfach versucht hatte, das Ding unter Wasser sichtbar zu machen.

„Einmal bitte zu mir!“, rief De Luca, sich die Hände reibend und bekam die sieben Bilder sofort per Mail. „Frau Wolff, Sie sind einsame Spitze!“, lobte er Lynn, die endlich wieder lächeln konnte.

Für die Herren von der Polizei brannte Nick die Bilder auf CD. Eine halbe Stunde später kehrte endlich wieder Ruhe ein. Nick rief bei Massimo an, um nachzufragen, ob er ihnen eventuell zwei Mal Essen ins Haus liefern könne. Er ahnte ja nicht, dass sich die Explosion seines Bootes schon in der ganzen Altstadt herumgesprochen hatte.

Massimo sagte sofort zu und stand kurz darauf selber auf der Matte, um für beide ein Festmahl zu bringen. „Was macht ihr nur für Sachen?“, sagte er, Nick umarmend und Lynns Hand streichelnd. Auf Nicks erstaunten Blick, weil er ja wirklich keinen Grund genannt hatte, winkte er ab: „Was hast du wohl geglaubt, wie lange es hier dauert, bis solch ein Unglück die Spatzen von den Dächern pfeifen? Und wenn ein Polizeiauto länger als zwei Minuten vor einem Haus steht, dann muss man nur noch eins und eins zusammenzählen, wen das Ungemach getroffen hat. Und vergiss nicht die Bootsführer, die dich ziemlich gut kennen.“

„Diesmal hat es die böse Fee mit Sprengstoff versucht“, seufzte Nick. „Und wieder hat mein Schutzengel Lynn dafür gesorgt, dass wir gerade noch rechtzeitig aus der Gefahrenzone kamen.“

„Sie sind schon dabei, die Trümmer zu bergen“, verriet Massimo.

„Ich rühre mich heute keinen Meter mehr aus dem Haus“, erwiderte Nick. „Mein Bedarf an Abenteuern ist gedeckt.“

Massimo atmete tief durch. „Kann ich mir lebhaft vorstellen. Lasst es euch trotzdem schmecken, ich muss zurück ins Lokal.“

Lynn spießte eine schwarze Olive auf die Gabel, betrachtete sie kritisch. „Jetzt weißt du jedenfalls, warum der Fender größer war – damit das Sprengstoffpaket nicht an der Hafenmauer abgerieben wurde. Wer weiß, wie lange das schon da im Wasser auf dich gewartet hat?“

„Mit der Zündung habe ich vermutlich eine Zeitschaltung aktiviert, damit das Boot erst außerhalb der Mauern in die Luft flog“, spann Nick den Faden weiter. „Ein echt teuflischer Plan.“ Er schüttelte angewidert den Kopf. „Wie geht es dir im Augenblick?“

„Etwas besser. Ich bin nur sehr müde.“

„Leg dich nach dem Essen ein bisschen hin. Ich passe auf dich auf, obwohl ich das Gefühl habe, dass das Spiel bei uns andersherum läuft.“

„Hättest du nicht sofort reagiert, wären wir jetzt beide tot. Auch im Wasser warst du der, der die Lage voll im Griff hatte. Ich wäre an Ort und Stelle ertrunken, weil ich vor Schreck völlig paralysiert war.“ Lynn bettete ihren Kopf an seine Schulter.

Das Telefonklingeln schreckte beide auf.

„Mein Vater“, sagte Nick nach einem Blick auf das Display. Er nahm das Gespräch sofort an und schaltete nach den ersten Worten den Fernseher ein. In den regionalen Nachrichten lief der Newsticker über die Explosion seines Bootes über den Bildschirm und dass man einen Mordanschlag vermute.

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