Sommer in Sirmione

Geheime Wünsche


Als Lynn das erste Mal Nick begegnete, stand sie mit einem riesigen Schlumpfeis in der Hand an der steinernen Brüstung des Wassergrabens der Scaligerburg in Sirmione. Auf die frechen Möwen achtend, die es zur Perfektion trieben, Besuchern im Sturzflug das Essen aus der Hand zu stehlen, schaute sie den Schwänen und Blesshühnern zu, die sich auf den Wellen tummelten, welche die Motoren der Touristenboote erzeugten.

Sie hatte plötzlich einen Blick auf sich ruhen gefühlt und war im Aufschauen an einem Augenpaar hängen geblieben, welches wohl schon eine ganze Weile amüsiert beobachtete, wie sie selbstvergessen, aber sehr genüsslich, am Eis leckte. Lynn grinste ertappt, blinzelte vergnügt und wandte sich wieder den Wasservögeln zu, wobei sich ein Lächeln in ihren Mundwinkeln festsetzte.

Ja, es war ein schöner Tag. Der soeben eine winzige Spur Romantik erhalten hatte, die eigentlich gar nicht zu einer Burg passte, die als Waffenarsenal gedient hatte. Lynn runzelte die Stirn. Warum musste sie nur immer alles so nüchtern kalt betrachten?

Sie hob den Kopf, um noch einmal einen Blick zu riskieren. Der Unbekannte war verschwunden und im Moment dieser Erkenntnis auch Lynns Lächeln.

Vielleicht hätte ja ein Bummel am Ufer entlang daraus werden können, oder wenigstens ein paar nette Worte? Hätte ... wäre ... wenn ... Lynn hätte sich ohrfeigen mögen. Konnte sie nicht ein Mal wenigstens ihre sehnlichsten Wünsche kundtun? Was war schon dabei? Hätte ihr der Fremde eine abschlägige Antwort gegeben, wäre das Leben auch weitergegangen.

Hätte ... hätte ... hätte ...

Verdammte Feigheit!

Nicht einmal der Rest der Waffel schmeckte ihr mehr, vor lauter Wut auf sich selbst, und so warf sie das Stück einer vorüberfliegenden Möwe zu, welche es geschickt auffing. Lynn zog sich ans Ufer zurück, wo abertausende Muschelschalen im flachen Wasser lagen. Von den Wellen bewegt, funkelten sie geheimnisvoll im Sonnenlicht. Manches Meer hatte nicht solch eine Vielfalt zu bieten.

Sie setzte sich auf die Betonplatten, ließ die Beine baumeln und hielt das Gesicht in die Sonne. Nur wenige Spaziergänger nutzten um diese Tageszeit den Weg und hatten Platz genug, ihr auszuweichen. Sie schaute zu jener Stelle im See, wo die heißen Quellen entsprangen. Ein Touristenboot dümpelte auf den Wellen. Der Kapitän gab sicher gerade Erklärungen.

Sie wäre gern jetzt auch irgendwo da draußen gewesen. Auf einem Boot. Aber nicht als Massentouristin. Vielleicht bestand ja eine Chance, mit dem Eigner eines kleineren Bootes einen Deal zu machen? Lynns Gedanken drehten sich weiter. Der Fremde vom Burggraben wäre als Begleiter genau der Richtige gewesen. Groß, schlank, dunkles, welliges Haar ... über die Augenfarbe war sie sich nicht ganz schlüssig ... vermutlich blau-grau, obwohl sie dunkler wirkten. Gepflegter Schnurrbart. Und ein Lächeln, das unter die Haut ging. Im Abendrot mit dem Boot hinausfahren, irgendwo anhalten und eine Flasche Champagner trinken.

„Ja, ja, Hollywood lässt grüßen“, murmelte sie halblaut und wunderte sich, dass ihr die Spiegelbilder der Spaziergänger aus dem Wasser merkwürdige Blicke zuwarfen.

Ob er wohl länger hier war? Oder nur Tagestourist? Vielleicht wohnte er aber auch direkt auf der Landzunge? Fragen über Fragen, die sie sogar noch bis in die Abendstunden verfolgen sollten. Der gut aussehende Fremde ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Im Augenblick klopfte sie sich gerade den Hosenboden sauber, um ihren Weg am Ufer fortzusetzen. Sie war allein in den Urlaub gefahren, niemand wartete auf sie. In dem winzigen Zimmerchen unterm Dach, das sie direkt am See ergattert hatte, herrschte bei den Tagestemperaturen brütende Hitze, selbst wenn sie das Fenster offen ließ. Dahin werde sie erst zurückkehren, wenn die Sonne sank und sie irgendwo einen Happen zu Abend gegessen hätte. Ein Fläschchen Sekt als Schlummertrunk steckte im Rucksack. Beim Gedanken daran musste sie grinsen. Erst ganz groß von Champagner träumen und dann am Rotkäppchen aus einem Pappbecher nuckeln. Direkt aus der Flasche wäre es aber auch nicht stilvoller gewesen.

Lynn zuckte amüsiert mit den Schultern. Wer konnte schon wissen, was der Urlaub bereit hielt? Es war schließlich der erste Tag an diesem zauberhaften See.

Dass sie sich den hochpreisigen Urlaub in einem der Thermenhotels nicht leisten konnte, störte sie wenig. Sie hatte ja vor, den ganzen Tag in der Gegend herumzuwandern. Da reichte das winzige Kämmerchen zum Schlafen. Badbenutzung war zugesichert und unterlag festen Zeiten. Für die Morgenwäsche reichte das Waschbecken im Zimmer.

Sie entschied sich soeben, durch den Garten eines Hotels in die Altstadt zurückzuwandern, wo sie Öffnungszeiten und Preise der kleinen Cafés und Restaurants unter die Lupe nehmen wollte. Weil kein Verbotsschild für Hotelfremde zu sehen war, tat sie es auch. Durch die Scheiben des ersten Lokals erspähte sie nichts und niemanden, außer gelangweilt schauende Kellner.

Wenn’s andere meiden, tu ich’s auch, dachte sie. Wird schon Gründe haben.

Ihr entging aber nicht das großformatige Bild an der Wand. Es zeigte einen wundervollen Sonnenaufgang in zarten Pastellfarben. Lynn schaute sogar zwei Mal hin, weil sie die eigenartige Stimmung tief berührte. Fakt: Es passte nicht zur übrigen Ausstattung des Raumes.

Sie wanderte weiter, blätterte in den ausgelegten Speisekarten und kam zu der Überzeugung, man müsse den Einkaufspreis eines gesamten Tisches aufgeschlagen haben. Mehrmals stieß sie auf Bilder, die an das im ersten Lokal erinnerten, obwohl sie völlig andere Landschaften und Tageszeiten zeigten. Aus lauter Neugier trank sie schließlich in einem der kleines Cafés einen Cappuccino, um das Kunstwerk ganz in Ruhe betrachten zu können.

„Das Bild ...“, wandte sie sich schließlich an den Ober.

„Ist ein Original von Feretti“, antwortete er fast ehrfürchtig.

„Ein Künstler von hier?“, fragte Lynn weiter, weil der gute Mann mit verklärtem Blick das etwa drei mal zwei Meter große Foto maß, welches perfekt die Nische zwischen zwei Säulen füllte.

„Ja, ja, ja. Von hier! Seeeehr bekannt. Überall. In ganz Italien.“

Aha, also deshalb in jedem Lokal, das etwas auf sich hielt. Ein Wettlauf um das größte Bild, die meisten Bilder oder wie auch immer. Aber die Arbeiten waren unbestritten sehr edel und berührend, wie Lynn erneut feststellte. Sie wirkten fast wie gemalt. Hier hatte man zwei große Pflanzengefäße so drapiert, dass die lebendigen Blätter dem Foto direkt zu entspringen schienen. Die perfekte Illusion eines Blickes von einer kleinen Terrasse.

Lynn suchte etwas Preiswertes in der Speisekarte. Worauf der Ober sofort erschien und erwartungsvoll schaute.

„Ich möchte gern heute Abend wiederkommen“, erklärte sie. „Muss ich reservieren oder wird sich ein Platz finden?“

„Ein Platz ist kein Problem“, erwiderte der Kellner im Brustton der Überzeugung.

Lynn zahlte, gab ordentlich Trinkgeld und nahm ihre Wanderung durch die mittelalterlichen Gässchen wieder auf. Nach fast zwei Stunden setzte sie sich ans Ufer und ließ die schmerzenden Füße ins Wasser hängen. Sie hatte es, wie immer, übertrieben. Die Altstadt lief nicht weg. Man musste ja nun wirklich nicht an einem Tag alles anschauen.

Der Strom der Tagestouristen ebbte langsam ab. Bus um Bus verließ den Parkplatz. Lynns Magen forderte lautstark feste Nahrung. Mit Eis und Cappuccino allein gab er sich nicht zufrieden. Sie schüttelte das Wasser ab und schlüpfte mit noch feuchten Füßen in die Trekking-Sandalen. Ein kurzes Überlegen, dann stand fest, dass sie sich nicht umziehen werde. Sie ging ja schließlich nicht zum Date. Also tigerte sie zielgerichtet zum Lokal ihrer Wahl, wie sie es amüsiert bezeichnete. Es war schon gut gefüllt. Sie fand gleich neben der Tür einen Tisch für zwei. Dafür aber mit bestem Blick auf das Bild, welchem sie es verdankte, wieder hier zu sein.

Der Ober vom Nachmittag hatte noch Dienst und begrüßte sie lächelnd mit: „Buonasera Signorina!“

Um den Geldbeutel zu schonen, bestellte Lynn eine große Flasche Wasser ohne Kohlensäure und Pasta mit Steinpilzen. Alle Gerichte wurden auch tatsächlich frisch zubereitet, wie sie durch den Türspalt sehen konnte, wenn der Ober Speisen aus der Küche holte. Das dauerte zwar, duftete und schmeckte aber vorzüglich. Die Wartezeit nutzte sie natürlich wieder, um das großformatige Foto akribisch zu betrachten. Blühende Kakteen und Palmen, zwischen denen eine tiefblaue Wasserfläche im Sonnenschein glitzerte, deren winzige Wellenkämme fast silbern wirkten. Erinnerungen stiegen auf. Langsam, einzelne Sequenzen ... Dann machte es buchstäblich „klick“. Genau an dieser Stelle, von wo aus das Bild entstanden war, hatte sie auch schon verweilt und mit ihrer Pocketkamera den Moment festgehalten.

„Das sind die Gärten von St. Martin in Monaco. Stimmt das?“, stellte sie fest, als sie zahlte.

Erstaunt musterte sie der Ober. „Ja, das ist richtig. Sie waren schon dort?“

„Ja, an genau der gleichen Stelle, und habe genau das gleiche Motiv aufgenommen. Nur bei mir war das Wasser glatt wie ein Spiegel und die Kakteen hatten mehr Blüten.“

Der gute Mann verstand zwar nicht alles, was sie sagte, aber dass sie die Stelle kannte, beeindruckte ihn offensichtlich. Er fragte sogar beim Abschied nach, ob sie wiederkommen werde und er den Tisch reservieren solle. „Morgen um die gleiche Zeit“, blinzelte Lynn.

„Auch am Nachmittag auf einen Cappuccino?“

Sie schmunzelte. „Das weiß ich noch nicht.“

Dabei plante ihr Unterbewusstsein schon so, dass der „Cappu“, wie sie das Getränk kurz nannte, durchaus drin war.

...



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