Leidenschaft in Sirmione

...

Am Wochenende vor ihrer Abreise kam Vincenzo, um die beiden noch einmal zu sehen. Lynn schaute ihn mehrmals prüfen an. Für ihre Begriffe war er auffallend schweigsam. Besorgt sprach sie ihn an: „Etwas bedrückt dich doch. Willst du nicht lieber darüber reden?“

„Weiß nicht“, murmelte Nicks Vater. „Eigentlich nicht. Aber vielleicht ginge es mir dann besser ... aber ich will euch nicht gerade jetzt mit meinen Sorgen beladen.“

„Unfug! Raus mit der Sprache!“ Lynn setzte sich ihm gegenüber. „Wo drückt der Schuh?“

Vincenzo nickte, holte mehrmals Luft, zog die Augenbrauen zusammen und sagte endlich: „Ich habe jemanden kennengelernt.“

„Eine Frau, nehme ich an“, warf Lynn ein, weil er stockte. „Wo ist das Problem?“

„Ja, das weiß ich halt nicht.“ Er wirkte überaus ratlos. „Irgendetwas ist nicht so, wie ich es mir vielleicht erhofft hatte. Sie ist fast in meinem Alter, charmant, stilsicher, gebildet und sieht auch gut aus. Aber ...“

„Was aber?“

„Ich weiß es nicht“, wiederholte Vincenzo leise.

„Du hast doch Zeit“, tröstete Lynn.

„Ich schon. Sie scheint es eilig zu haben, was mich wohl abschreckt.“ Er schaute Lynn hilflos an. Weil sie nichts sagte, versuchte er, zu erklären, was ihn störte. „Sie drängt ständig darauf, mein Domizil sehen zu wollen, obwohl sie beim Tanzen eher auf Distanz geht. Ganz sicher auch nicht wegen der Zuschauer. Da ist irgendetwas anderes, das mich komplett davon abhält, auf diesen Wunsch in irgendeiner Weise einzugehen.“

„Wie hast du sie kennengelernt?“, wollte Nick wissen.

„Auf einer Weinverkostung während der letzten Verkaufsmesse. Sie war ganz plötzlich da. Einfach so. Sie wollte ständig mit mir anstoßen, worauf ich erklärte, im Dienst zu sein und nicht zu trinken, sie aber am Abend einladen zu wollen. Sie nahm das Angebot ohne Zögern an.“

„Merkwürdig“, überlegte Lynn laut. „Das erinnert mich ein bisschen an Nicks Amerika-Erlebnis. Ich kann aber nicht sagen, warum.“

„Mich wohl auch“, gab Vincenzo zu.

Lynn schüttelte kaum merklich den Kopf, während Nick tausend Gedanken wälzte. „Wie heißt sie?“, fragte Lynn aus einer Eingebung heraus.

„Emilia Galotti.“

Lynn zog die Augenbrauen nach oben, spitzte die Lippen. „Merkwürdige Zufälle gibt es. So heißt ein Trauerspiel von Lessing.“

Vincenzo zuckte zusammen. „Was???“

„Kein Witz.“ Lynn rief die Bibliografie des deutschen Dichters auf. „Er hat bevorzugt Dramen geschrieben und eines heißt Emilia Galotti. Siehst du? Hier.“

„Na, hoffentlich wird es keins“, murmelte Nick.

„Hast du ein Bild von ihr?“, bohrte Lynn weiter, was Vincenzo fast flüsternd verneinte.

„Statt mich wohler zu fühlen, stehe ich nun endgültig im Wald“, stöhnte er. „Wenn Lynn merkwürdige Parallelen zieht, gehen bei mir doch sofort die Alarmglocken an!“

„Dann gehe Emilia ein bisschen aus dem Weg, bis wir wieder da sind und sie bei irgendeiner Gala unverfänglich und persönlich unter die Lupe nehmen können“, schlug Nick vor.

"Das wird leicht sein“, schmunzelte Vincenzo, „sie will ein paar Tage mit einer Freundin nach Costa Rica fliegen.“

Lynn hob wie in Zeitlupe den Kopf. „Doch nicht etwa am Dienstag und mit der gleichen Maschine wie wir?!“

Vincenzo riss sein Handy aus der Tasche, checkte die Mails und entfärbte sich jäh. „Es ist die gleiche Maschine an Dienstag.“ Nick warf ihm einen unbeschreiblichen Blick zu, den sein Vater, wild mit beiden Händen fuchtelnd, abwehrte: „Nein. Nein, nein, nein. Ich habe ihr gegenüber mit keiner Silbe eure Reise erwähnt!“

„Noch eine Merkwürdigkeit“, flüsterte Lynn. „Gut, dass wir darüber gesprochen haben. Schlecht, dass wir nicht wissen, wie sie aussieht.“

Nick wählte Marco Falconettis Nummer und gab mit wenigen Worten bekannt, was soeben das Familienthema gewesen war.

„Danke für den Hinweis“, erwiderte Marco. „Ich werde meine Beziehungen spielen lassen, damit wir in Ruhe den Urwald erkunden können. Bis dahin!“

„Und ich verwette meinen Hintern, dass er Emilia, falls sie wirklich so heißt, durchleuchten wird, bis man das Mark in ihren Knochen sieht“, schmunzelte Lynn. „Wir halten dich auf dem Laufenden.“

Vincenzo streichelte dankbar ihre Hand. „Nun ist mir doch um vieles wohler.“

Weniger wohl fühlten sich Lynn und Nick, als sie am Flughafen eincheckten. Jede mitreisende Frau mittleren Alters wurde mit den Augen buchstäblich seziert. „Wer sagt denn eigentlich, dass sie als Frau unterwegs ist?“, stellte Lynn am Ende fest. „Heutzutage, wo man weder Männlein noch Weiblein sein muss, kann sie doch auch jede Maske angenommen haben. Dieser Bianchi hat das doch auch in jeder Weise ausgenutzt.“

„Mach mir keine Angst!“, stöhnte Nick. „Bitte nicht das gleiche Drama um meinen Vater, wie damals um mich!“

„Womit wir wieder bei Emilia Galotti wären“, sagte Lynn trocken. „Es dreht sich alles im Kreis und dann auch noch konzentrisch.“

„Scheiße.“

„Sagt man das, als Gentleman?“, rümpfte Lynn grinsend die Nase.

„Püh! Ich bin keine Gentleman, ich bin ein besorgter Sohn. Ich darf das. Ich habe aber auch keine Lust, das in den nächsten 15 Stunden auszudiskutieren“, grinste Nick.

„Ich werde erst mal eine Runde schlafen“, gähnte Lynn. „Bis San José haben wir ja auch noch einen Zwischenstopp, auf dem wieder alles Mögliche passieren kann.“

„Solange es nicht auf dem Weg bis dahin ist, werde ich schon zufrieden sein“, erwiderte Nick, sich dem Filmprogramm der Airline widmend.

Nach zwei Stunden schaute Lynn einen Film und Nick schlief. Im Allgemeinen verlief der Flug ruhig. Nur eine betagte Dame wanderte beinahe stündlich zur Toilette, wobei sie jedes Mal einen anderen Weg zu ihrem Platz einschlug.

„Auch eine Methode, sich die Beine zu vertreten!“, gähnte Nick und schlief sofort wieder ein, als sie ihn versehentlich angerempelt hatte.

Bei Lynn richteten sich inzwischen die Nackenhaare auf und sie begann, die Seniorin unbemerkt zu beobachten. Verblüfft stellte sie fest, dass die Frau nach jedem Toilettengang auf einem anderen Platz saß und sich dabei kontinuierlich näher an sie und Nick heranschob. „Das bilde ich mit bestimmt nur ein“, flüsterte sie schließlich.

Nick war gerade am Erwachen. „Was bildest du dir ein?“

„Wo saß die alte Frau, die dich touchiert hat, als das Flugzeug startete?“, fragte Lynn und bekam, wie aus der Pistole geschossen, zur Antwort: „Ganz hinten rechts am Fenster, aus der jetzigen Perspektive.“

„Dann ist es keine Täuschung. Jetzt hockt sie, mit bestem Blick hierher, zwei Reihen hinter uns in der Mittelreihe links.“ Lynn hob das Handy, um ein Foto zu machen. Dabei stellte sie fest, dass sie schon mehrere Bilder von den unterschiedlichen Zwischenstationen aufgenommen hatte, weil sie zufällig, statt Spiegelfunktion, Selfiefunktion eingeschaltet hatte.

Bevor sie dazu kamen, sich weiter auszutauschen, gab die Cockpitcrew die Landeanweisungen durch und alle waren damit beschäftigt, die Lehnen senkrecht zu stellen und sich anzuschnallen. Nach der Landung war die alte Dame eine der Ersten, die die Maschine verließ. Nick und Lynn wechselten einen langen Blick. Sie tauchte auch beim Weiterflug, wie einige andere Passagiere, deren Endziel hier lag, nicht wieder auf. Im Warteraum taxierte Lynn fast jede Person, die durchschnittlich groß und von durchschnittlicher Statur war. Eine der neuen Mitreisenden passte in das Schema, war wasserstoffblondiert und so grell geschmickt, dass es schon fast in den Augen wehtat. Sie sprach perfekt Spanisch, sodass Lynn sie recht schnell aus dem Raster warf. Dafür fesselte einer der Männer ihre Aufmerksamkeit. Nick fragte sogar nach, warum sie ihn so belauere.

„Wenn der mich anschaut, stellen sich meine Nackenhaare auf“, wisperte Lynn. „Auf seltsame Weise kommt er mir auch noch bekannt vor.“ Nick brauchte nicht lange, um dasselbe aus seiner Warte zu behaupten. So nutzte Lynn die erste Gelegenheit, im Flugzeug in den Spiegelungen des geschlossenen Fensters ein Bild zu machen. „Das muss wohl der jüngere Bruder der alten Frau sein“, sagte Nick sofort und Lynn fiel ein, wo sie die gleiche Augenpartie schon einmal gesehen hatte: „Bianchi.“

„Scheiße!“, raunte Nick erneut.

Lynn nickte sehr ernst. „Älterer Bruder, ältere Schwester oder sogar die Mutter? Die war ja nie im Gerichtssaal erschienen.“

„Prost Mahlzeit!“, zischte Nick. „Wenn die restliche Familie wie Mario geartet ist, hat mein Vater verdammtes Glück gehabt, dass es ihm noch gut geht. Es wird wohl auch kein Zufall sein, dass Emilia Galotti erklärt hat, nach Costa Rica zu fliegen. Sie hat wohl gehofft, dass er den Braten viel zu spät riecht, um ihm tausend Ängste einpflanzen zu können.“

„Die wird er jetzt trotzdem ausstehen“, wisperte Lynn. „Aus dem Dschungel können wir uns schließlich nicht melden. Wie will er nachprüfen, ob die Meldungen echt sind, falls er in dieser Zeit welche von irgendwem erhält?“ Sie versuchten, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie unter Beobachtung standen und so gingen die nächsten Stunden quälend langsam vorbei. Wenigstens gab es keine Probleme mit dem Gepäck, beide Koffer waren unversehrt und sie strebten dem Ausgang zu, vor dem sie Falconetti erwartete.

„Schön, Sie zu sehen! Ich bringe Sie gleich zum Hotel.“ Er legte das Gepäck ins Auto und fragte im selben Moment. „Sie sehen ein bisschen mental angegriffen aus. Was ist passiert?“

„Außer, dass wir mit irgendjemandem aus der Bianchi-Sippschaft im Flugzeug saßen, noch nichts“, ächzte Lynn, ihre dick gewordenen Knöchel massierend.

„Och, das ist jetzt aber unfair!“, rief der Reporter. „Das wäre heute im Hotel meine Topp-Information an Sie gewesen! Woher wissen Sie es?“

...


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