Der Kellerkobold vom Sonnenberg

Könnt ihr euch an den Winter 2015 erinnern, als Rumpelstilzchen für Wochen im Stadtpark gefangen war, und welche Mühe ich hatte, ihn in seine eigene Welt zurückzubringen? Dann gehört ihr auch zu denen, die wissen, dass ich seitdem mit ihm in Verbindung stehe und es mir von seinen Abenteuern berichtet.

Vor ein paar Wochen, und diesmal mitten in der Nacht, meldete es sich wieder einmal. Mit einem Hilferuf, der mich elektrisierte. Doch wartet, ich muss euch erzählen, wie es begann:

Es war ebenfalls im Winter und gerade null Uhr, als mich ein Geräusch aus dem Schlaf riss, welches es in unserer Wohnung noch nie gegeben hatte – knackende Heizkörper.

„Auch das noch!“, grummelte ich, mich im Bett auf die andere Seite drehend, um es nicht in voller Lautstärke hören zu müssen. Meist ebbt dieses Klopfen in den Rohren wieder ab, wenn alle Teile warm geworden sind und sich die Spannungen zwischen kalten und heißen Teilen ausgeglichen haben.

Unsere Heizung schien das nicht zu wissen. Es rumorte und pochte und ich wanderte von einem Zimmer zum anderen, um festzustellen, dass das Geräusch von viel weiter unten, nämlich aus dem Keller kommen musste. Entnervt zog ich meinen Jogginganzug über das Nachthemd, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Da schlug es ein Uhr und Totenstille kehrte ein.

Ich lauschte noch ein paar Sekunden in die Dunkelheit und kroch wieder unter meine Decke.

In der nächsten Nacht wiederholte sich das Ganze und auch in den Tagen danach. Ich suchte vorsichtshalber die Telefonnummer der Hausverwaltung heraus, um irgendwann wieder in Ruhe schlafen zu können, sollte der merkwürdige Zustand noch erheblich länger anhalten. Aber andere schien das Klopfen in den Rohren auch gestört zu haben, denn als es erneut mitten in der Nacht begann, ertönte plötzlich auch Gemurmel. Offenbar war ein Techniker gerufen worden, der an der Heizanlage herumwerkelte und dabei vor sich hin fluchte. Ich musste grinsen. Punkt eins herrschte schlagartig wieder Ruhe.

Bis 24 Uhr. Da schlug etwas ziemlich heftig gegen die Rohre im Keller. Mir platzte der Kragen. Mit einem Satz war ich aus dem Bett, im Jogginganzug und auf der Kellertreppe. Ich schlich hinunter, riss wutentbrannt die Tür zum Heizraum auf, drückte auf den Lichtschalter … und sah außer der Heizanlage und kahlen Wänden nichts und niemanden. Zumindest auf den ersten Blick. Der zweite Blick ließ meine Augen groß und größer werden. Am Türblatt klebte Marmelade. Es schien, als habe ein fünfjähriges Kind mit völlig beschmierten Händen an der Tür hantiert. Und die Spuren waren frisch! Nur wohnen bei uns keine Kinder dieser Altersgruppe. Was sollten die auch um Mitternacht in Keller suchen? Kopfschüttelnd trottete ich in die Wohnung zurück. Weil es in den nächsten Tagen still blieb, verdrängte ich das Ganze. Bis mir zwei Wochen später ein Zeitungsartikel ins Auge sprang. „Das Marmeladenphantom hat wieder zugeschlagen“, lautete die Überschrift und es ging um Kellerdiebstähle bei uns auf dem Sonnenberg. Es gab nirgends Einbruchspuren, keine Fußspuren und niemand hatte etwas gesehen. Aber es waren dutzende Anzeigen eingegangen, weil in großen Mengen selbstgekochte Marmelade jeglicher Sorten aus den Regalen verschwunden waren.

Die ersten Geschädigten wurden noch milde belächelt, oder gar als psychopathische Spinner abgetan. Sie mussten sich ganz einfach geirrt haben. Wahrscheinlich hatte nie Marmelade in den Regalen gestanden. Etwas später schoben die Behörden alles auf eine Massenpsychose, weil immer mehr Anzeigen gegen unbekannt eingingen und das einzig Fehlende Marmeladengläser waren – keine Einbruchspuren, keine Fußspuren.

Ich ließ die Zeitung sinken. Marmelade? Merkwürdig. Mysteriös. Keinerlei Spuren? Märchenhaft! Rumpi, wie ich ihn scherzhaft nannte, konnte nicht dahinterstecken. Der hätte sich direkt bei mir gemeldet. Einmal Ärger in unserer Zeit reichte ihm für die nächsten 100 Jahre, betonte er immer wieder. Aber wer war es dann? Ich begann, auf einem Stadtplan Stecknadeln anzubringen, wo das neuerliche Phantom bereits zugeschlagen hatte. Verblüfft stellte ich fest, dass unser Haus auf dem Sonnenberg fast genau im Zentrum eines Kreises mit etwa 200 Metern Durchmesser lag. Zudem schien der Unbekannte ein Faible für uralte Gemäuer zu haben, er hatte nicht ein einziges Mal Neubaublocks oder entkernt rekonstruierte Häuser geplündert.

Wenn ich mich in etwas verbeiße, bin ich wie ein Terrier – ich lasse nicht gleich wieder los. Zumal es bei uns ja Marmelade als Spur an der Tür gegeben hatte ...

Ich legte die Zeitung beiseite und stieg noch einmal in den Keller. Diesmal mit Smartphone und Kamera bewaffnet, um Ungewöhnlichkeiten sofort dokumentieren zu können. Ich wunderte mich kein bisschen, dass die klebrigen Fingerspuren verschwunden waren. Seit meinem ersten Besuch hier unten hatten ja auch die Heizungen nicht mehr geknackt. Vielleicht hatte ich den Störenfried sogar für immer vertrieben? Ich fotografierte trotzdem jeden Winkel, bevor ich in die Wohnung zurückkehrte. Dann hockte ich vorm Laptop und schaute mir die Bilder in Großaufnahme an. Die Tür war sauber, wie geleckt. Und das meine ich wörtlich! Die ehemals klebenden Areale zeigten deutlich Spuren eines kleinen, schmalen, feuchten Werkzeugs, mit dem sie akribisch gesäubert worden waren.

...


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