Prinzenraub

...

Sir Marc sicherte derweil das wenige Eigentum seiner Familie. Aber die Menschen hätten es auch ohne seine Anwesenheit nicht gewagt, hier etwas zu stehlen. Drachen blieb nie eine Untat verborgen. Das war inzwischen im ganzen Land bekannt und gefürchtet. Jene, die über die verarmte Familie die Nase gerümpft hatten, zitterten nun, dass es ihnen der Sohn, Ritter Marc, der Vertraute des weißen Drachen, vergelten könne. Doch der hatte wahrlich Wichtigeres zu tun, als sich mit Dummköpfen zu schlagen.

Vor dem letzten Abflug begaben sich Marc und Bill noch einmal in das windschiefe Gemäuer, schauten, ob nichts vergessen worden war. Beim Blick von oben erspähte Drache Bill auf der Rückseite ein Rankgitter mit einer Kletterrose. Er landete, schmolz mit seinem Drachenatem den Schnee weg und grub das Gewächs mit seinen scharfen Krallen tiefgründig mitsamt riesigem Erdballen aus. Dann riss er das Gitter aus der Wand, klemmte es sich zwischen die Zähne und trug es zu seiner Burg, wo er die Rose so, wie er sie am alten Platz entfernt hatte, neben dem Fenster des neuen Hauses eingrub. Er lehnte das Gitter an die Wand, ließ Marc absitzen, verwandelte sich und befahl Alf, Vater Hartmut beim Anbringen der Halterungen zu helfen. Er musste die überglückliche Mutter Jenna fast mit Gewalt davon abhalten, im aus Dank die Stiefel zu küssen.

Die Prinzessinnen hielten sich zur gleichen Zeit in den Stallungen der Thunderstorm-Pferde auf. Als sie herauskamen, fegte Ariane den Schnee von den Wegen im Hof. Lady Ashley lächelte verschmitzt und sagte im Vorbeigehen: „Sir Ben erkennst du an seiner großen Ähnlichkeit mit seinem Bruder, Sir Bill.“

Lady Amara fügte blinzelnd hinzu: „Wir können die Gedanken der Menschen lesen.“

Beide brachen in herzliches Lachen aus, weil Ariane zutiefst erschrocken: „Ach herrje!“, hauchte.

„Bis demnächst beim Fest!“, riefen die jungen Damen und huschten als tiefschwarze Drachen mit andersfarbigen Hörnern und Zacken davon.

„Das war eine Einladung zu den Feierlichkeiten“, hörte Ariane eine fremde Stimme hinter sich und wandte sich neugierig um. Fast wäre sie ohnmächtig zu Boden gegangen, denn das konnte nur Sir Ben sein.

„Erstaunlich, wie die Mädchen heute auf Euch fliegen“, witzelte Sir Bill, der hinter seinem Bruder aus dem Haupthaus getreten war und gesehen hatte, wie dieser die zusammensinkende Ariane auffing.

„Tut mir furchtbar leid, Euch in solch eine Situation gebracht zu haben“, stammelte Marcs Schwester, als sie merkte, in den Armen des Ritters zu liegen.

„Mir nicht“, erwiderte Ben, das hübsche Gesicht betrachtend. „Als Wiedergutmachung musst du der Einladung der Prinzessinnen folgen und mich auf den Festen der nächsten Tage begleiten.“

Bill kratze sich erstaunt am Kinn. Ben musste auf der Stelle Feuer gefangen haben und ließ nichts anbrennen.

Ariane nickte heftig, wand sich aus Ritter Bens Armen und eilte ins Haus, wo sie ihre, sich völlig überschlagenden, Gedanken ordnen wollte.

„Ich glaube, den Bären habt Ihr mitten ins Herz getroffen, mein Lieber!“ Bill grinste seinen Bruder breit an.

„Reine Notwehr“, erklärte Ben. „Ihr Pfeil sitzt tief. Genau wie Ihr vorhergesagt habt.“

Jeder setzte seinen Weg fort, wobei der von Ritter Bill zu den neuen Mitbewohnern führte. Er klopfte, trat ein und wurde mit so viel Dankbarkeit begrüßt, dass ihm ganz warm um das Herz wurde. „Im Gesindehaus gibt es drei Mal am Tag freies Essen. Es steht jedem Bewohner der Burg zu. Also keine falsche Scheu. Der Küchenjunge schlägt den Gong, damit keiner die Zeit verpasst. Wenn ihr sonst bei irgendetwas Hilfe braucht, wendet euch an Alf.“

Alf begann am nächsten Tag, für die bevorstehende Hochzeit Wimpelketten über den Hof zu spannen, und freute sich sehr, dass ihm Hartmut zur Hand ging, ohne viel darüber zu reden. Jenna machte sich in der Küche nützlich und Ariane half der Geflügelmagd.

„Alles zur vollsten Zufriedenheit. Weil sie überall mit anpacken, haben sie sich das Bleiberecht sofort verdient“, lobte Sir Bill die angenehmen Neuankömmlinge beim Rittertreffen auf der Königsburg. „Sir Ben hat ein Auge auf Sir Marcs Schwester geworfen und würde wohl jedem den Harnisch verbeulen, der ihm dabei in die Quere kommt.“

Die Ritter Ben und Marc schmunzelten über die wirklich gelungene Beschreibung des aktuellen Zustands.

In der Damenrunde der Königin war Marcs Familie natürlich auch Thema und Lady Tara gab zu, froh zu sein, eine gleichaltrige Gesellschafterin zu bekommen.

„Ihr werdet Ariane mögen“, prophezeite Lady Ashley. „Sie freut sich sehr darauf, Euch kennenzulernen.“

Spät am Abend verabschiedeten sich die Ritter, um auf ihre Burgen zurückzukehren. Lady Tara reichte Sir Marc einen kleinen Samtbeutel. „Für Eure Schwester, mit Grüßen von ganzem Herzen.“

Hocherfreut nahm der junge Ritter die Gabe entgegen.

„Nicht uninteressant, dass Lady Tara schon jetzt auf Ariane zugeht“, merkte Sir Bill an, als sie bereits auf dem Hof der Königsburg standen und ehe er sich verwandelte. Die anderen, das Königspaar inbegriffen, waren nicht weniger überrascht gewesen.

In den Fenstern seiner Eltern flackerte noch das Licht der Öllämpchen und Marc beschloss, das Geschenk sofort zu überbringen.

„Für mich?!“ Ariane nahm mit zitternden Händen die unverhoffte Gabe entgegen, nestelte das Band auf und ließ den Inhalt des samtenen Beutels auf ihre Handfläche gleiten. „Oh, mein Gott! Das ist so wundervoll!“ Sie hielt die Hand ins Licht der Flämmchen, damit alle den Schatz sehen konnten, den ihr Sir Bills zukünftige Frau gesandt hatte: Eine goldene Anstecknadel mit einer perlenbesetzten Blüte.

„Sie freut sich auf deine Gesellschaft“, verriet Marc, bevor er sich in seine Gemächer zurückzog.

„Du wirst also die Vertraute einer Prinzessin werden“, brachte es Mutter Jenna auf den Punkt. „Wer hätte das jemals gedacht!“

„Oh je, ich bin ja so aufgeregt! Hoffentlich mache ich nichts falsch!“ Ariane drückte die herrliche Brosche vorsichtig an sich.

„In drei Tagen kommen die Gäste aus dem alten Drachenland, erzählt man sich“, berichtete Vater Hartmut. „Am vierten Tag wird Sir Bill Lady Tara heiraten, und zur gleichen Zeit die Mutter von Lady Tara, also unsere ehemalige Königin, einen hochedlen Drachen. Es wird mehrere Tage lang gefeiert werden und alle dürfen teilnehmen, so wie es bei den Drachen Sitte ist.“

Kleinlaut verriet Ariane, was gleich am ersten Tag im Hof geschehen war, wie die Prinzessinnen sie eingeladen hatten, sie Sir Ben vor lauter Aufregung, ihm plötzlich begegnet zu sein, buchstäblich in die Arme gekippt war und dessen Reaktion darauf. Hartmut und Jenna begannen zu kichern. Sie teilten ihr mit, dass er auf diese Weise allen anderen seine ernsthaften Absichten mitteilen wolle. Wobei potenzielle Konkurrenten nun damit rechnen mussten, mit seinem Schwert Bekanntschaft zu machen, so Ariane nicht ausdrücklich erkläre, einen anderen vorzuziehen.

„Wie ... einen anderen vorziehen?“, stammelte sie mit großen Augen.

„Nun ja, beim Adel gibt es einige junge Damen, die regelrecht umschwärmt werden, selbst wenn es nur aus politischen Gründen ist“, erklärte Vater Hartmut deshalb. „Eheschließungen aus reiner Liebe scheint es nur bei den Drachen zu geben. Die fragen wirklich nicht vorrangig, was einer besitzt und welche gesellschaftliche Stellung er innehat.“

„Oder bei denen, die deren verschworene Gefolgsleute sind“, fügte Mutter Jenna hinzu. „Hast du denn gar nicht gemerkt, wie er dich stets anschaut. Statt zu fragen, ob du vielleicht anderweitig versprochen bist, will er es dir lieber am Gesicht ablesen, um sicher zu sein, dass du ihn auch magst.“

„Doch, aber ich habe gedacht, das bilde ich mir nur ein“, gab Ariane zu bedenken. Das Leuchten ihrer Augen verriet, dass sie diese Blicke ab sofort erwidern werde. Dann drückte sie beide Eltern. „Danke!“

„Wofür?“

„Dafür, dass ihr mich nicht verkauft habt, um der Armut zu entkommen.“ Sie huschte aus dem Zimmer, um ihr Geschenk sicher zu verwahren.

Jenna streichelte stumm Hartmuts Hand. Er hatte in jeder Situation das Richtige getan. Auch, als er Marc bei einem viertklassigen Ritter in die Lehre gab, weil er zwei Kinder nicht mehr ernähren konnte und es aussichtslos war, einen besseren Herrn zu finden. Ein guter Ritter hatte unter dem alten König nur seinesgleichen zum Knappen angenommen. „Was mag er nur alles ausgestanden haben?“, seufzte sie scheinbar zusammenhangslos.

„Frag ihn!“, lächelte Hartmut. „Es war sicher schlimm, hat ihn aber nicht gegen uns gewendet, weil es die einzige Möglichkeit war, ein geachtetet Mann zu werden. Und die hat er genutzt.“

„Ich denke, wenn Lady Tara hier einzieht, werden wir alles erfahren, was uns stets verborgen geblieben ist. Wenn sie Ariane Geschenke schickt, ist sie wirklich daran interessiert, mit ihr Zeit zu verbringen.“

Hartmut schlug sich mit beiden Händen an den Kopf. „Ich bin vom König persönlich hierher getragen worden ... das ist so unglaublich, dass ich es noch immer nicht wirklich fassen kann. Wenn das Königspaar ruft, dann komme ich, selbst wenn es auf allen vieren ist!“

Noch vor dem Sonnenaufgang inspizierte Ariane ihre Kleidertruhe. Das Festkleid war tadellos in Ordnung. Nur werde man das unter dem dicken Winterumhang nicht sehen. Und dem schenkte sie im Licht des Öllämpchens sehr skeptische Blick. Abgetragen, fadenscheinig, verschossen. Gerade noch tauglich, die Arbeiten im Burghof zu verrichten. Würde sich Sir Ben wirklich so mit ihr zeigen wollen? Sie fasste einen schweren Entschluss ...

Beim Frühstück wirkte sie abwesend, sodass Jenna besorgt fragte, ob es ihr gut gehe. Beim Schneefegen überlegte sie immer wieder, welche Worte sie wählen sollte, um Sir Ben nicht zu verletzen. Sir Bill bemerkte schon beim Gutenmorgengruß, dass etwas nicht stimmte, obwohl Ariane strahlend lächelte. „Ob es mit dem Geschenk zusammenhängt?“, überlegte er laut.

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Sir Marc sofort.

Sir Ben stand auf. „Ehe wir lange rätseln, werde ich fragen, was geschehen ist.“ Er begab sich geradenwegs auf den Hof.

Ariane erbleichte. Da blieb Ben auch schon direkt vor ihr stehen. „Du siehst unendlich traurig aus. Was macht dir Sorgen?“

„Dass ich nicht mit Euch zum Fest gehen kann, mein Herr“, presste sie mit erstickter Stimme hervor.

„Verbietet es dein Vater?“

„Nein. Nein, mein Herr, er kann nichts dafür. Ich ... ich ... es geht einfach nicht.“

Ben zog die Augenbrauen zusammen. „Du bist einem anderen versprochen?“

Ariane schüttelte heftig den Kopf, ihre Augen füllten sich ungewollt mit Tränen. Sie versuchte unbewusst, eine mehrfach geflickte Stelle ihres Capes mit der Hand zu verbergen.

Sir Ben hatte es trotzdem, oder gerade deswegen, bemerkt. „Der Umhang ist schuld, vermute ich“, stellte er fest, worauf Ariane unendlich traurig nickte. „Ich habe nur den einen.“

Ben atmete auf. „Das ist kein Grund, mir einen Korb zu geben. Solange kein anderer Mann dahinter steckt, kann ich Abhilfe schaffen. Du wirst einen warmen Umhang bekommen, mit dem du dich nicht verbergen musst. Und nun möchte ich dich wieder lächeln sehen!“

Ariane küsste dankbar seine Hände. Ben zog sie an seine Brust, um sie tröstend im Arm zu halten. Mochte es ruhig jeder sehen. „Alles wird gut“, versprach er.

„Wenn das nicht romantisch ist, dann weiß ich auch nicht“, murmelte Bill und Marc gab ihm recht.

„Alles wieder gut?“, fragte Marc, als Ben in den Palas zurückkam.

„Fast. Ich muss schleunigst meine Kleidertruhen sichten. Ich brauche einen warmen Umhang in Arianes Größe. Eigentlich hätte ich mich mit ihrem alten Cape duellieren müssen, weil sie mir seinetwegen einen Korb geben wollte, aber aus der Nähe betrachtet ist es schon tot. Wenn mich einer sucht, ich stecke kopfüber in meinen Truhen!“ Ben eilte in seine Gemächer.

Die beiden anderen wechselten einen verblüfften Blick, dann brachen sie in schallendes Lachen aus. Eine witzige Beschreibung für einen durchaus ernsten Zustand.

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