Die Magier von Tarronn

Band 3

Band 3

...Am Morgen des Tribunals machten sich die Drakon unsichtbar auf den Weg nach Alba. Die ausgewählten Atlan und Tarronn bestiegen den Gleiter, unter ihnen Maris und Darina, die sich wirklich freute, Tamu vertreten zu dürfen. Die Technik bereitete ihr keinerlei Schwierigkeiten und der Start klappte reibungslos. Ron, Tim und Jako warfen sich anerkennende Blicke zu. Darina fügte sich nahtlos in ihr Team ein. Drei Stunden später landete der Gleiter in der Hauptstadt, wo sich die kleine Gruppe sofort auf den Weg in den Heiligen Hain machte. Unterwegs stieß Anubis zu ihnen. Mit großen Augen betrachteten die Atlan und Sobek die schneeweißen Marmortempel und –säulen im heiligen Bezirk der Tarronn. Dann öffnete sich der Blick auf den großen Haupttempel. „Das ist ein wundervoller Anblick“, flüsterte Neri überwältigt. Auf einem anderen Weg näherte sich eine große Gruppe von Personen, die die Atlan neugierig musterten. Schweigend nickten sich Anwesenden zu und ebenso schweigend schritten sie gemeinsam auf den Platz vor dem Eingang des Haupttempels zu, wo sie sich im Halbrund nach Volksgruppen ordneten. Horus begann mit der Vorstellung der Versammelten. „Um ein Urteil zu erbitten, sind erschienen: Neri, die Seherin vom Volk der Atlan, auch Hathor genannt; Anubis, der Herr der Unterwelt, vom Volk der Tarronn; ich – Horus – Oberbefehlshaber dieser Galaxie, vom Volk der Tarronn.

Um ein Urteil zu fällen, sind erschienen: vom Planeten Helion: Zeus, König von Helion, vom Volk der Olympier; Athene, Herrin des Wissens und der Weisheit, vom Volk der Olympier; der weise Cheiron vom Volke der Zentauren.“

Er wandte sich der nächsten Gruppe zu.

„Vom Planeten Asgard die Asen Odin, Frigg und Forseti. In ihrer Begleitung als Berater, der Ase Thor.

Zu meiner Rechten: Solon, der Magier, vom Volk der Atlan; Maris der Heiler der Atlan; Imset und Sobek, die Drakonat, vom Volk der Atlan.“

Augenblicklich verwandelten sich die beiden Angesprochenen. Ungläubiges Staunen und Gemurmel gingen durch die Menge.

Horus, unbeeindruckt davon, sprach weiter: „Weiterhin sind erschienen“, worauf sich alle kopfschüttelnd umdrehten, weil niemand zu sehen war, „Siri und Drakos vom Volk der Drakon.“

Die beiden magischen Wächter materialisierten sich. Mit vor Staunen offenem Mund betrachteten die Versammelten die ausgestorben geglaubten Wesen. Horus nickte ihnen dankend zu.

„Den Vorsitz werden führen: Maat, die Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit vom Volk der Tarronn; Chnum, der Schöpfergott, vom Volk der Tarronn und Isis, die Herrin des Lebens, stellvertretend für Osiris, vom Volk der Tarronn; sowie Uräus, die Verkünderin, vom Volk der Tarronn.“

Mit gemischten Gefühlen musterte Isis Horus, Imset und Sobek. Ein Gefühl zwischen Sehnsucht und Angst machte sich in ihr breit.

Maat bat um die Anklagen. Horus übergab sie jedem der Richter und Richterinnen. Alle vertieften sich in die Unterlagen.

Maat hob schließlich den Kopf. „Das sind schwerwiegende Anschuldigungen.“ Sie schaute Neri, Horus und Anubis an. „Ich bin sicher, dass ihr die Beweise habt, aber ich muss euch trotzdem fragen, weil es Riten so verlangen: Könnt ihr es beweisen?“

„Ja.“ Horus legte ihr eine Hologrammpyramide in die Hand. „Das können wir beweisen.“

„Dann werden wir uns nun zurückziehen und die Hologramme auswerten“, sprach Maat. „Gibt es noch zu klärende Punkte für das Protokoll?“

Horus trat vor. Er legte den Kopf in den Nacken und nahm die Gestalt an, die seinem Rang entsprach. Er legte seinen Umgang ab und stand vor ihnen mit schneeweißen Schwingen, die auf seinem Rücken zusammengefaltet waren.

Neri und die ihren zuckten erstaunt zusammen. Einzig Imset nickte wissend.

„Ich habe eine Bitte“, sprach Horus dann. „Erspart es Neri die schlimmen Dinge noch einmal zu durchleben. Sie trägt ein Kind unter dem Herzen.“

Isis nickte. „Ich bin dafür den Antrag anzunehmen. Nur weshalb spricht der Vater nicht für seine Gefährtin und sein Kind?“ Sie schaute Imset an.

Horus hob den Kopf. „Er hat es getan. Ich bin der Vater ihres Kindes.“

Sobek, Solon und sogar Anubis zuckten zusammen. Einzig Maris rührte keinen Muskel.

Isis wurde blass. „Dann möchte ich auch einen Antrag stellen. Ich ziehe mich von meinem Amt zurück. Unter diesen Umständen kann ich nicht objektiv urteilen.“ Sie legte ebenfalls ihren Umhang ab und gab den Blick auf genau so strahlend weiße Flügel frei.

„Ich spreche dich von deinem Amt frei“, sagte Maat. „Folgt mir nun in die große Halle.

Zurück blieben Maris, Neri, Siri, Isis und Thor.

Siri bot Neri ihre Schwinge an. Die Seherin war ungewöhnlich bleich und ließ sich mit einem unterdrückten Stöhnen in die Schwinge sinken. Thor stand auf seinen Schild gestützt und schaute unverwandt die Drakon an, die sich so liebevoll um die Atlan kümmerte.

Was er in den letzten Minuten erfahren hatte, war so beinahe das Grandioseste, was es in der Caiphas-Galaxie geben konnte.

„Genau genommen hat euch die liebe Verwandtschaft ordentlich in die Pfanne gehauen“, sagte er schließlich leise zu Neri.

„Wie meinst du das?“, fragte sie und richtete sich auf. Sie deutete auf Siris Schwinge. „Willst du nicht Platz nehmen und es mir erklären?“

Thor näherte sich langsam, erstaunt darüber, wie riesig die Drakon aus der Nähe betrachtet war.

„Welche Verwandtschaft meinst du?“, fragte Neri noch einmal, als Thor neben ihr und Maris saß.

Er deutete hinter ihre Schultern. Neri schüttelte fragend den Kopf. Isis, die mit dem Rücken an einer der schneeweißen Marmorsäulen gelehnt hatte und dabei die Augen geschlossen hielt, wandte sich langsam um.

„Thor, bitte, sie kann es nicht sehen und sie kann es auch nicht wissen. Sie hat auf der Erde gelebt.“

Siri und Neri warfen sich einen schnellen Blick zu.

„Sie weiß nicht, dass sie Flügel hat?“, rutschte es Thor heraus.

Isis warf ihm mörderische Blicke zu. „Du bist ein Seelentrampel“, schimpfte sie.

Neri lächelte. „Ich weiß sehr wohl, dass ich Flügel habe. Horus hat sie mir gezeigt.“

Der Ase und die Tarronn schauten sie ungläubig an, genau wie Siri und Maris.

„Ja, es ist wahr. Horus hat meine Flügel für einen kurzen Moment sichtbar gemacht. Aber er hat mich auch gefragt, von welchem Elternteil sie wohl stammen“, erklärte Neri und streichelte Siris Nase.

„Und er hat es dir nicht gesagt?“, fragte Isis und näherte sich ebenfalls langsam.

Neri schüttelte den Kopf. „Vielleicht war die Zeit noch nicht reif?“ Sie musterte die einflussreiche Göttin der Tarronn, die sowohl Horus’ Mutter, als auch seine Gefährtin gewesen war.

Neri dachte daran, was sie in Bezug auf Imset über sie gehört hatte. Erstaunlichweise blieb ihr Gefühl der Göttin gegenüber völlig neutral.

Isis hingegen musterte Neri, die vorhin als Gefährtin von Imset vorgestellt worden war, mit eindeutigem Interesse. Das war also die Frau, die das Unmögliche möglich gemacht hatte. Dabei war der Blick der Göttin fast liebevoll zu nennen.

Maris beobachtete beide Frauen neugierig. Erstaunt stellte er eine gewisse Ähnlichkeit der Gesichtszüge fest. Auch Thor schien das Gleiche bemerkt zu haben. Er richtete sich sogar auf, um besser sehen zu können.

Isis war inzwischen herangekommen, sie beugte sich zu Neri hinunter, als ob sie so besser in Neris Gesicht sehen könne.

Plötzlich nahm sie die Atlan in die Arme. Maris sah deutlich die Tränen, die in Isis’ Augen standen. Die Tarronn ließ die verblüffte Neri los und hockte sich vor ihr auf die Fersen, dabei ruhten ihre Hände auf Neris Händen.

„Meine kleine Schwester“, flüsterte sie. „Ich soll dich von Vater grüßen.“

Neri schüttelte verständnislos den Kopf. „Warum sollst du mich von deinem Vater grüßen? Er kennt mich doch gar nicht.“

Isis lächelte und streichelte Neris Hände. „Re ist auch dein Vater.“ Sie deutete, wie Thor kurz vorher, auf Neris Rücken.

Neri sprang mit einem Satz aus Siris Schwinge. Sie fasste nach Isis’ Schulter. „Was???“

„Ob du es glaubst oder nicht, Re ist auch dein Vater“, sagte Isis leise.

Thor und Maris wechselten einen langen Blick mit Siri, die wie eine Statue wirkte.

„Dann wiegt das, was geschehen ist, doppelt schwer“, murmelte Maris. „Nur warum hat ihr niemand geholfen? Re hätte sicher die Macht gehabt.“

Thor nickte zustimmend. Dabei wusste er nur um die Entführung, nicht um den Grund der Freilassung.

Neri war nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich von diesem Schock erholte. „Warum hat mich Mi-Kel verraten?“, fragte sie Isis übergangslos.

Aber auch darauf wusste die Tarronn sofort die Antwort. „Er hat dich nicht verraten. Er hat sich nur zurückgezogen, als ein Stärkerer als er, deinen Schutz übernehmen konnte.“

„Imset als Drakonat?“, hauchte Neri.

Isis nickte. „So ist es. Als sicher war, dass Atlan und Tarronn genetisch kombiniert werden können, zog er sich von dir zurück.“

„Aber Imset wusste nicht, dass er der Stärkere war“, sagte Neri bitter.

„Das wiederum konnten Mi-Kel und seine Brüder nicht ahnen“, entgegnete Isis. „Es ist so vieles anders gekommen, als es die Schicksalsgötter geplant hatten. Aber du siehst an dir selbst“, sie deutete auf Neris Babybauch, „dass man niemals ganz dem Schicksal entfliehen kann.

Du trägst das Kind in dir, welches dir und Horus als Gefährten zugedacht gewesen war. Vergiss nicht, dass du Hathor bist, die Tochter des Re.“

„Neri! Schau!“, Maris fasste hinter ihren Rücken und zog vorsichtig eine weiße Schwinge hervor.

„Nun ist sie wirklich Hathor. Jetzt akzeptiert sie diese Tatsache endlich“, erklärte Siri leise. „Imset wird sich freuen.“

Isis wandte sich zum Gehen.

„Willst du nicht bleiben, bis die Männer wiederkommen?“, fragte Neri.

Isis schüttelte traurig den Kopf. „Glaub mir, im tiefsten Inneren werden sie mir niemals verzeihen.“

Neri begann zu lachen. „Jetzt weiß ich genau, dass auch du nicht unfehlbar bist. Bleib schon hier. Was hast du zu verlieren?“

„Ja, was habe ich zu verlieren“, murmelte Isis. Dabei dachte sie an Osiris, dessen Zustand seit Jahrtausenden unverändert dramatisch geblieben war. Er konnte weder leben noch sterben.

Das Portal des Tempels öffnete sich. Allen voran kamen Imset, Horus, Sobek, Anubis und Solon heraus. Die beiden Ersteren wirkten erleichtert und zufrieden, die drei anderen zutiefst erschüttert.

Isis blieb mit klopfendem Herzen bei Neri und schaute den Männern mit flehendem Blick entgegen. Noch bevor sie Siri erreichten, breitete Neri ihre Flügel aus. Imset blieb stehen und fasste überrascht nach Horus und Sobek.

„Ihr habt euch etwas näher bekannt gemacht, wie ich sehe“, sagte Horus leichthin und nickte Isis freundlich zu, ehe er Neri fragte, wie es ihr gehe. Dabei streichelte er mit den Fingerspitzen über das glatte Gefieder ihrer wundervollen Flügel.

Wehmütig schaute Isis zu. Ihr wurde bewusst, was sie alles verloren hatte.

Imset tippte ihr leicht auf die Schulter. „Du siehst traurig aus – alles in Ordnung?“

Erstaunt schaute sie auf. Diese Zuwendung von Imset hätte sie niemals erwartet. „Es geht schon“, murmelte sie.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Sobek.

Isis nahm seine Hand und presste sie an ihre Wange. „Es ist schön, dass ich dich sehen darf“, flüsterte sie. „Imset und Neri können stolz auf dich sein.“

„Wie geht es Osiris?“, wollte Horus wissen.

„Schlecht.“ Isis schluckte und wieder glitzerte eine Träne in ihrem Auge.

„Vielleicht sollte Maris schauen, was er für ihn tun kann“, schlug Imset der überraschten Isis vor. „Sobald wir wieder etwas zur Ruhe gekommen sind, werde ich Horus bitten, uns zu euch zu bringen. Es muss doch irgendeine befriedigende Lösung für euch geben.“

„Das würdest du machen, nach allem, was ich dir angetan habe?“, fragte sie zweifelnd.

„Ich bin ein Atlan, auch wenn ich als Tarronn geboren wurde“, gab Imset zur Antwort und diese Worte sagten Isis wirklich alles, was sie wissen musste. „Außerdem habe ich aus deinen Fehlern gelernt.“ Liebevoll streichelte er Neris Bauch.

Isis nickte stumm.

Inzwischen hatten auch die Vertreter aller anderen Völker die Gruppe aus Atlan und Tarronn umringt. Drakos und Siri genossen es sichtlich, ungläubig angefasst und betrachtet zu werden.

Solon stand mit Cheiron und Maris etwas abseits. Die drei Heiler fachsimpelten offensichtlich.

„Was haltet ihr davon, ein paar Tage bei uns auf Dafa zu verbringen?“, fragte Solon schließlich Zeus, um noch etwas von Cheirons Wissen profitieren zu können.

Der nickte freudig. „Na gut, drei Tage können wir schon dranhängen, schließlich sind die Asen ja auch bei euch. Das könnte richtig lustig werden. Außerdem bin ich neugierig auf euer Volk geworden.“

Auf dem Heimflug informierte Horus Neri und Maris über den Ausgang der Verhandlungen.

Das hohe Gericht hatte Seth und Apophis für vogelfrei erklärt und sogar offiziell die Jagd auf die beiden eröffnet. Natürlich hofften die Drakonat inständig, der beiden zuerst habhaft zu werden.

Neri und Maris berichteten ihrerseits, was sie von Isis erfahren hatten.

Die Drakon, die es nun nicht mehr nötig hatten, sich zu verstecken, zogen im Tiefflug über Kantar hinweg, wo ihnen unzählige Tarronn zuwinkten.

„Man hat uns nicht vergessen“, sagte Drakos glücklich. „Vielleicht wird Tarronn wieder das Paradies, das es einmal war.“ Dann erklärte er Siri in Ruhe das Land, das sich unter ihnen erstreckte.

Auf Dafa warteten schon alle auf die Rückkehr ihrer Freunde. Alle Magier hatten sich versammelt und starrten in die Richtung, aus der der Gleiter kommen musste. Sie wurden nicht enttäuscht. Nach einer halben Stunde landete die Maschine sicher auf Dafa.

Auch Neri war froh, endlich das Versteckspiel endgültig aufgeben zu können. So verließ sie den Gleiter an Imsets Seite ohne den Umhang, den sie letzter Zeit immer getragen hatte, dafür mit unübersehbarem Babybauch und schneeweißen Flügeln.

Darina und Horus folgten ihnen. Der Tarronn ebenfalls im vollen Staate seiner wundervollen Schwingen.

Solon, Maris und Sobek kamen zuletzt, dafür aber mit einem strahlenden Siegerlächeln. Fast ehrfürchtig begrüßten die Magier ihre Rückkehrer.

„Dann habe ich mich also doch nicht getäuscht“, stellte Safi zufrieden fest. „Ich weiß doch, was ich sehe. Aber warum diese Heimlichkeiten?“ Damit schaute er Imset fragend an.

„Vielleicht, weil ich nicht der Vater bin?“, entgegnete Imset lächelnd und deutete in Horus’ Richtung.

Safi verstummte und zeigte von Horus auf Neri und zurück, ungläubig mit dem Kopf schüttelnd.

Solon klopfte ihm auf die Schulter. „Die aufgezwungene Wahl war nur zwischen Horus und Apophis möglich. Wie hättest du dich entschieden?“

Imset ergriff das Wort. „Ehe wir jetzt lange herumdiskutieren, die wichtigsten Neuigkeiten im Überblick:

Erstens – die Jagd auf Seth und Apophis ist eröffnet. Das heißt: Findet und bringt sie tot oder lebendig. Mir persönlich und Sobek wäre das Letztere lieber.

Zweitens – morgen früh kommen die Asen und die Helion zu uns zu Besuch. Es wird also wieder ein Feiermarathon der besonderen Art.

Drittens – für alle, die es jetzt nicht mitbekommen haben – Neri erwartet Nachwuchs von Horus und wir zwei Pärchen freuen uns, das Kleine gemeinsam aufzuziehen. Das wieso und warum erzählen wir euch heute Abend in gemütlicher Runde.“

Merit-Amun hatte sich endlich zu Neri durchgedrängt. Mit großen Augen betrachtete sie die stolzen Schwingen, deren Spitzen in gefaltetem Zustand fast bis auf den Boden reichten.

„Bleiben die jetzt für immer?“, fragte sie.

„Sie waren schon immer da, man konnte sie nur nicht sehen“, antwortete Neri. „Ich habe heute von Isis erfahren, dass Re mein Vater ist und nun weiß ich auch, dass ich wirklich Hathor bin.“

Sie schaute Merit in die Augen. „Es ist wie bei Horus, die Flügel werde ich nur bei besonderen Anlässen sichtbar tragen.“ Mit diesen Worten wurden die Schwingen durchsichtig und schließlich verschwanden sie ganz. Auch Horus hatte inzwischen die seinen wieder verschwinden lassen.

Merit nahm Neri in die Arme. „Dieses Kind wird anders sein, als alle deine Kinder.“

Erstaunt hob Neri den Kopf. „Woher weißt du das?“

„Ich fühle es. Es wird ein fröhliches Kind werden, das dir genau so sehr verbunden ist, wie ich. Vielleicht sogar noch mehr.“

Merit-Amun lächelte glücklich. „Du weißt doch, manchmal lässt mich Uräus Dinge sehen, die in der Zukunft liegen.“

„Na, wenn das keine gute Nachricht ist“, sagten Horus und Imset gleichzeitig und mussten lachen.

Sara zeigte in den Himmel. „Die Drakon sind zurück!“

Die beiden Riesen zogen eine weite Schleife, um am Rande der Gruppe zu landen.

„Wie war der Rundflug?“, fragte Imset.

„Einfach wunderschön“, schwärmte Siri.

Drakos fügte hinzu: „Für mich sind so viele alte Erinnerungen wach geworden. Im Grunde genommen hat sich auch Kantar optisch seit Zehntausenden von Jahren kaum verändert. Es war, wie nach Hause kommen.“

Solon informierte im Kurzdurchlauf den Senat über die bevorstehenden Ereignisse. Minuten später strömten Atlan herbei, die die Wiese vor dem Landeplatz für die Gäste vorbereiteten.

Arko war in den letzten Wochen und Monaten nicht untätig geblieben. Kaum hatte er die Arbeiten am Drachenaltar abgeschlossen, begann er rustikale Tische und Bänke aus Holz zu fertigen.

Offensichtlich wurden große Volksfeste wieder zur Gewohnheit. Die Atlan knüpfte neue Kontakte untereinander und der Zusammenhalt der Gemeinschaft festigte sich immer mehr. Und jeder Gast, der Atla einmal besucht hatte, versprach wiederzukommen.

„Was machen wir mit Cheiron?“, fragte Horus, als der Magische Club am Abend zusammensaß.

„Das könnte in der Tat ein Problem werden“, murmelte Imset.

„Bitte mal Klartext für alle“, rief Safi. „Was könnte ein Problem mit Cheiron werden? Dass er wie ein halbes Pferd aussieht?“

Imset lachte. „Ach Unsinn! Die Zentauren haben nur ein ernsthaftes Problem mit dem Alkohol. Sie brauchen ihn nur riechen, schon drehen sie komplett durch. Meist vergreifen sie zuerst an den Frauen, bevor sie alles kurz und klein schlagen.

Dabei sind sie sonst die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Es täte mir wirklich leid, wenn der weise Cheiron wegen uns ein Problem mit Zeus bekäme.“

Maris überlegte laut: „Es gibt da ein paar Pflanzen, die die Geruchssinne für ein paar Stunden komplett ausschalten. Ich müsste mit ihm sprechen, ob er sich dieser Prozedur wirklich unterziehen will.

Sonst sitzt der Arme ja dauerhaft im Raumschiff und schaut zu, wie alle anderen feiern. Früh ist er dann wieder ganz Nase und kann mit uns auf Kräutertour gehen. Er müsste nur die Tinktur bei sich tragen, falls doch ein Ase heimlich am Honigwein nascht.“

„Gute Idee. Die Entscheidung muss er selber treffen“, lobte Horus.

„Wolltet ihr nicht über das Tribunal berichten?“, fragte Aron zu vorgerückter Stunde.

Sobek warf einen Blick auf die Kinder, die in den Schwingen der Drakon schliefen. Die magischen Wächter nickten kurz und trugen die Kleinen außerhalb der Hörweite.

Sara wollte ebenfalls den Garten verlassen, als Solon sie zurückhielt. „Bleib. Du bist zwar noch keine Frau, aber auch schon lange kein Kind mehr. Du hast das Recht an dieser Versammlung teilzunehmen.“

Dann erzählte Horus alles, was sich seit dem Beginn der Entführung im Verlies zugetragen hatte und worauf die Richter des Tribunals ihr Urteil stützten.

Sobek, Imset und Solon nickten ab und zu, wenn die Zuhörer die Fassung verloren.

„Wir haben Horus’ Hologramm gesehen, und auch das, was Seth Imset zukommen ließ“, sprach Solon leise. „Der Urteilsspruch ist der Schwere der vielen Vergehen gegen das interstellare Recht angemessen.“

„Das erinnert mich an mein Versprechen.“ Imset zog den bewussten Hologrammbehälter aus den Falten seines Gewandes hervor.

Er zerquetschte ihn mit bloßen Händen zu einem unförmigen Klumpen Metall. Horus atmete auf, während Neri die Augen schloss und sich an Imset schmiegte.

Solon wandte sich Neri zu. „Isis hat dir also gesagt, wer du wirklich bist?“

Neri nickte. „Jetzt weiß ich endlich auch, woher ich die Gabe habe, körperlich in die Zukunft zu gehen.“

„Jedenfalls wundere ich mich nun auch nicht mehr, weshalb du die Seherin bist – als eines der Augen des Re, eine deiner leichtesten Übungen“, schmunzelte Solon.

„Und du“, sprach Kebechsenef zu Imset, „hast also heute zum ersten Mal unsere Mutter gesehen.“

„Das ist wohl war. Nur wird sie für mich eine Fremde bleiben. Selbst dann, wenn wir alles daran setzen werden, Hilfe für Osiris zu finden“, entgegnete Imset.

Die Magier horchten auf.

„Ist das dein Ernst mit Osiris?“, fragte Safi.

„Sicher. Und es wäre mir lieb, wenn wir Seth vorher in der Gewalt hätten, sodass er dabei zusehen muss.“ Imsets bernsteingelbe Augen funkelten gefährlich.

„Irgendwann kriegen wir ihn“, versprach Sobek. „Anubis ist bereits auf der Suche nach der Falle. Die kann in den nächsten Monaten erst mal nicht neu aktiviert werden. Soviel haben wir von Chnum erfahren.“

Zaid saß neben Darina und streichelte ihre Hand. „Dann wirst du also wieder einmal ein Kind aufziehen, das nicht das deine ist.“

Darina lächelte. „Du weißt doch am besten, dass ich es deswegen nicht weniger lieben werde. Ich halte es in dieser Beziehung wie Imset: Lieber ein geschenktes Kinderlachen, als gar keins.“

„Das ist es also das Geheimnis, das euch so stark macht!“, rief Kebechsenef. „Damit hätte schon keiner von uns gerechnet, geschweige denn Seth.“

„Genau so ist es“, antwortete Imset. „Statt, dass wir uns gegenseitig umbringen, wie Seth es geplant hatte, freuen wir uns ehrlichen Herzens auf das Kleine.“

„Einen Wermutstropfen gibt es trotzdem“, sagte Horus. „Solange wir die beiden Verbrecher nicht dingfest haben, ist das Kleine nur auf Dafa sicher. Wer weiß, was diesen kranken Hirnen noch alles einfällt.“

Auf Kantar betrat Isis die Gemächer, in denen Osiris sein Dasein fristete. Ein wacher Geist, seit Jahrtausenden in einem verstümmelten Körper gefangen.

Sie setzte sich neben das Lager, das eher einer Totenbahre glich und schwieg.

„Du bist zurückgekehrt“, sagte Osiris’ Stimme emotionslos in ihren Gedanken.

„Ja“, entgegnete sie telepathisch, obwohl es auch akustisch möglich gewesen wäre.

„Du hast Horus wiedergesehen“, sagte Osiris und Isis war sich nicht sicher, ob es eine Feststellung oder eine Frage sein sollte.

„Ihn und Imset und Sobek habe ich gesehen“, antwortete sie diesmal laut. „Ich habe die Drakonat gesehen, die Drakon und Vertreter eines Volkes, das zusammenhält, was immer auch geschieht. Auch Hathor habe ich kennengelernt.“

Isis seufzte. „Sie ist die Gefährtin des einen und die Mutter des anderen Drakonat. In wenigen Wochen wird ihr Sohn geboren werden, den sie von Horus empfangen hat.“

„Ich weiß“, sagte Osiris kurz.

Isis hob den Kopf und schaute ihm erstaunt in die Augen.

„Maat hat mir alle Daten übermittelt.“ Osiris versuchte seinerseits, in Isis’ Augen zu lesen.

„Ich glaube, einen Funken Hoffnung zu sehen. Willst du es mir nicht sagen? Wirst du mich wieder einmal verlassen, um dich anderweitig zu trösten? Ich könnte es dir nicht einmal übel nehmen“, sprach Osiris. Dabei verdrehte er mühsam die Augen, um seinen bandagierten Körper zu betrachten.

„Ich hoffe, dass dieser Spuk bald ein Ende hat“, murmelte Isis.

Osiris versuchte zu lachen. „Dann willst du mich wohl nun doch für immer vernichten?“

„Dummer Kerl“, sagte Isis. Allerdings mit so viel Liebe in der Stimme, dass Osiris verstummte. Sie streichelte sein Gesicht.

„Imset wird mit Maris, dem Heiler, zu uns kommen und sehen, was sich machen lässt. Vergiss nicht, Maris ist ein Materiewandler.“

„Verzeih, dass ich Böses dachte“, entschuldigte sich Osiris. „Dann hat dir Imset vergeben?“

Isis zuckte mit den Schultern. „Er ist ein Atlan und ich bin für ihn eine Fremde, die Hilfe braucht.“

„Interessante Konstellation“, murmelte Osiris.

Isis schwieg eine Weile. Dann hob sie plötzlich den Kopf. „Kann man Horus und die seinen denn nicht einfach in Ruhe lassen? Er wird mit einem Hass verfolgt, der schon seinesgleichen sucht“, sagte sie in einer heftigen Gemütsaufwallung. „Was hat er denn Schlimmes getan? Seine kleine Freundin auf die Erde gebracht? Lachhaft! Andere haben bei so etwas Schaden angerichtet, er nicht!

Sich deinetwegen an Seth vergriffen? Besser wäre es gewesen, er hätte dieses Monster gleich zur Strecke gebracht! Am Ende ist man auch noch beleidigt, wenn er alle Widrigkeiten meistert!“ Isis hatte sich so in Zorn geredet, dass selbst Osiris nicht zu widersprechen wagte. Im Grunde genommen hatte sie in allen Punkten recht.

„Isis?“

„Was??!!!“ Mit vor Zorn funkelnden Augen fuhr sie herum.

Osiris’ halb belustigter Blick ließ sie zögern. „Ich wollte dir ein Angebot machen.“

„So?!“ Sie setzte sich zu ihm auf das Lager.

„Die Atlan suchen doch noch immer diese kleine Hüterin, Kira ist wohl ihr Name. Was hältst du davon, wenn ich mich an der Suche beteilige. Ich bin schließlich in beiden Welten zu Hause“, erklärte Osiris.

„Das tätest du? Der große Osiris sucht eine unbedeutende Seele.“ Isis glaubte sich verhört zu haben.

„Das ist mir deine Liebe wert“, flüsterte er. „Und die Hoffnung auf ein normales Leben an deiner Seite.“

Über Isis’ verbittertes Gesicht huschte ein Lächeln, dann beugte sie sich über den Liegenden und küsste ihn so zärtlich, wie schon seit vielen Jahrhunderten nicht mehr.

Als sie seine Gemächer verließ, schaute Osiris lange hinterher. „Na, dann wollen wir mal.“ Er schloss die Augen, mit dem Willen in tiefe Trance zu sinken.

...

...

Arko saß im Strom der Quelle. Er berichtete Kira über das Tribunal und den bevorstehenden Besuch der anderen Völker. Er sprach von dem Kind, das Neri von Horus erwartete, und von tausend kleinen Dingen. Irgendwie fühlte er sich heute unwohl.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, beschlich ihn. Vorsichtig schaute er sich um. Im pulsierenden Licht glaubte er, einen Schatten zu sehen. Er schaute genauer hin. Verwundert rieb er sich die Augen.

Deutlich sah er einen Mann stehen, der auf dem Kopf eine Art hoher Krone trug. Ehe er eine Frage stellen konnte, verschwand der Fremde. Arko nahm vorsichtig Kiras Hand und legte sie an seine Brust.

„Wenn doch nur bald dein Herz wieder schlagen könnte“, seufzte er. „Ich sehne mich nach dir. Jeder Abschied fällt mir schwerer.“ Traurig wandte er sich zum Gehen.

Atla glich einem Ameisenhaufen. Alles, was Beine hatte, wuselte durcheinander. Der Versammlungsplatz war festlich geschmückt und immer wieder huschten die Blicke zum Himmel. Dann tauchte endlich ein dunkler Punkt am Himmel auf.

Nein – vier dunkle Punkte. Die Drakon begleiteten gleich zwei Raumschiffe zum Landeplatz. Links und rechts vom Gleiter der Tarronn setzten sie lautlos auf. Gespannt warteten die Atlan darauf, dass sich die Einstiegsluken öffneten.

Die Helion ließen den Asen den Vortritt. Odin schritt an der Spitze seiner Leute auf die Atlan und Tarronn zu. Herzlich umarmte er Horus, Sobek und Maris, ehe er den anderen Magiern die Hände reichte.

„Dich hatte ich doch gerade“, sagte er, als er sich Imset näherte.

„Falsch.“ Kicherte es hinter ihm. „Mich hattest du gerade.“

Odin kreiselte herum. „Ach, ich konnte euch schon gestern nur an euren Gewändern auseinanderhalten.“ Er lachte. „Nichts für ungut, Imset. Trotzdem schön dich wiederzusehen, wenigstens heute unter fröhlicheren Umständen.“

Zeus und seine Mannschaft erregte durch Cheirons Anwesenheit Aufsehen. Die Atlan hatten niemals zuvor einen Zentauren gesehen.

Cheiron nahm es gelassen. „Das ist wie mit euren Drakon. Die habe ich gestern auch erst einmal anfassen müssen, ehe ich glauben konnte, was ich gesehen habe.“

Bevor die Begrüßungszeremonie abgeschlossen war, nahm Maris Cheiron zur Seite. Ein paar Mal schüttelte Cheiron den Kopf, um dann zu nicken.

Maris übergab ihm das Fläschchen mit der hilfreichen Mixtur, welches der Pferdemann dankend annahm. Im Schatten der Drakon träufelte er es sich sofort in die Nase. Maris nickte ihm aufmunternd zu.

Thor war nach wenigen Augenblicken Sara ins Auge gefallen. Er zog die Augenbrauen zusammen.

Telepathisch wandte er sich an seine Männer: „Von der süßen Blonden mit dem bunten Saum am Kleid lasst ihr die Finger. Nicht nur, weil sie bereits vergeben ist. Auch wenn sie auf den ersten Blick zum Anbeißen aussieht, sie ist noch keine Frau.“

„Danke für die Warnung“, kam es von mehreren Seiten telepathisch zurück.

„Achtet einfach auf die Gürtel“, riet er den Männern. „Knoten hinten heißt bei den Atlan: Finger weg.“

„Ich bin dir ebenfalls für die Warnung dankbar“, sagte eine Stimme neben Thor.

Erstaunt drehte sich der Ase um. „Du musst Talos sein. Dann ist sie wohl deine Tochter.“

Die beiden Männer reichten sich die Hände.

Odin hatte es sich inzwischen mit Sobek und Maris auf einer der Bänke bequem gemacht. Zaid und Jani kamen in sein Blickfeld. Erstaunt richtete er sich auf. Beide führten kleine Kinder an der Hand. Sobek war seiner Blickrichtung gefolgt und winkte die Frauen heran.

„Dürfen wir dir unsere Kinder vorstellen?“, schmunzelte er. „Der aufgeweckte Junge bei Jani ist Maris’ Sohn Ariel und die beiden Kinder bei Zaid sind mein Sohn Leon und meine Tochter Laura.“

„Zwillinge?“, fragte Odin ungläubig.

„Hm, hm“, machte Zaid. „Kleine Mitbringsel von der Reise nach Asgard.“ Mit vor Glück strahlenden Augen schaute sie Odin an.

Der begann zu lachen. „Jetzt verstehe ich! Idun hat sich angemessen bei euch bedankt. Aber Zwillinge sind einmalig.“

Sobek setzte eine Unschuldsmine auf. „Ich habe nur ihre Anweisung peinlich genau befolgt und den Kern, der übrig war, in der Mitte geteilt.“

„Der Apfel hatte wirklich eine ungerade Anzahl Kerne? Das ist doch fast unmöglich!“, rief der Ase erstaunt.

„So wahr die beiden meine Kinder sind“, nickte Sobek.

Odin winkte lachend ab. „Bei euch ist sowieso irgendwie alles anders. Hätte ich auf Asgard geahnt, dass du ein Drakonat bist, wäre ich nicht mal auf den Gedanken gekommen, Kräftemessen zu spielen. Du hast dich sicher mächtig amüsiert.“

„Das kannst du aber annehmen“, kicherte Sobek.

„Dann beherrscht ihr doch auch die Drachenflamme …“, sinnierte Odin laut.

„Ja, was sonst“, entgegnete Sobek. „Willst du sie sehen?“

Odin nickte.

„Moment.“ Sobek telepathierte mit Imset und den Drakon. „Na, dann bieten wir euch eben mal ein kleines Feuerspektakel. Unsere Atlan haben die Flamme schließlich auch noch nie gesehen.“

An den vier Ecken postierten sich über die Diagonalen des Festplatzes die beiden Drakon und die Drakonat. Auf ein Kommando von Imset hin, loderten die Drachenflammen mit voller Kraft, trafen sich genau über dem Zentrum der Wiese und stiegen zu einer wirbelnden Spirale auf.

Begeistert klatschten die Zuschauer Beifall. Dann spien die vier Akteure die Flammen abwechselnd in kurzen Intervallen, sodass sich die wirbelnde Spirale in einen großen Trichter verwandelte, der von Weiß bis Dunkelrot ständig seine Farbe wechselte. Dann beendeten die Vier die kleine Vorführung unter dem Jubel ihrer Atlan.

„Zufrieden?“, fragte Sobek lachend, als er sich wieder neben Odin und Thor niederließ.

„Beeindruckend. Wirklich beeindruckend.“ Den Asen fehlten fast die Worte.

Nicht anders sah es in Zeus’ Helion aus.

„Dagegen sind meine Blitze ein lauer Furz“, stellte Zeus erschrocken fest. „Ich bin dankbar, dass ihr das Tribunal angerufen und nicht zur Selbstjustiz gegriffen habt.“

„Hast du überhaupt eine Ahnung, was geschähe, wenn die beiden Männer Gesetzlose wären?“, schmunzelte Athene.

„Ich will es lieber gar nicht wissen“, murmelte Zeus. „Die stecken doch eine ganze Galaxie in den Sack.“

Darina hatte an Horus’ Schulter gelehnt die Vorführung genossen. „Es war wundervoll“, seufzte sie. „Die alten Legenden sind nicht annähernd so schön, wie die Gegenwart, die ich mit dir erleben darf.“

Horus nahm sie in die Arme. Dann küsste er sie überaus zärtlich. Athene stieß Zeus an, der die beiden Turteltauben ungeniert und mit Interesse beobachtete.

„Sie scheinen ganz frisch verliebt zu sein. So habe ich Horus noch nie erlebt“, flüsterte die Göttin.

„Ich muss trotzdem mit ihm über Seschat reden. Es ist besser, wenn er es weiß“, entgegnete Zeus.

„Das ist deine Entscheidung“, sagte Athene.

Horus kam soeben mit Darina zurück an den Tisch. Der Olympier räusperte sich, was den Tarronn aufmerksam werden ließ.

„Ich müsste ein paar private Worte mit dir wechseln“, sagte Zeus mit Seitenblick auf Darina.

„Du kannst in ihrem Beisein sprechen“, erklärte Horus mit fester Stimme. „Sie ist die Frau, die für mich da war, als es mir wirklich schlecht ging. Ich habe keine Geheimnisse vor ihr.“

„Na gut, auf eure Verantwortung.“ Zeus atmete tief durch. „Es geht um Seschat.“

„Das habe ich schon vermutet“, murmelte Horus. Darina nahm seine Hand und drückte sie ganz fest.

„Inzwischen bin ich der Ansicht, dass dich meine Worte kaum noch aus der Ruhe bringen werden“, fuhr Zeus fort. „Sie hat in den ganzen Monaten bei uns nicht ein Wort über dich verloren und ihre Nächte stets mit anderen Männern verbracht.“

Horus zog Darina an seine Brust. „Ich habe mit dem Thema Seschat seit meiner Rückkehr nach Taris abgeschlossen. Sie hat ganze zwei Mal nach mir gefragt.

Während diese Frau, hier an meiner Seite, die mich erst kurz vor der Entführung das erste Mal auf Dafa gesehen hatte, ständig nach mir fragte. Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich die erste Gelegenheit genutzt habe, sie zu besuchen und dass ich überglücklich bin, dass sie meine Gefährtin geworden ist.“

Zeus nickte. „Sie scheint wirklich eine bewundernswert starke Frau zu sein, nachdem was wir heute vor Gericht erfahren haben.“

„Das ist sie“, sagte Horus dankbar. „Übrigens ist sie auch die Groß- und gleichzeitig Ziehmutter von Sobeks Gefährtin Zaid.“

Zeus beugte sich zu Darina hinüber, um ihr beide Hände zu reichen. „Dann wünsche ich dir alles Glück dieser Welt. Du hast es dir verdient. Und pass gut auf ihn auf.“ Der Olympier deutete zwinkernd in Horus’ Richtung.

„Danke.“ Darina lächelte. „Was immer in meiner Macht steht, werde ich für ihn tun.“

Merit-Amun war mit Cheiron und Maris unterwegs. Sie erwischte sich immer wieder dabei, Cheirons glänzendes rotbraunes Fell streicheln zu wollen.

Der Zentaur erinnerte sie an Imsets Rappen Binti, den sie über alles geliebt hatte. Nach einer Weile wurde sogar Safi aufmerksam. Er ahnte, was in Merit-Amun vorging.

Genau in diesem Augenblick sagte Cheiron: „Dann tu es doch einfach. Ich kann es nicht ertragen, wenn eine Frau so leidet.“

Safi nickte Merit zu, die sofort ihre Hand über den Pferderücken gleiten ließ. „Alles, was mir von Binti geblieben ist, ist ein Armband aus den Haaren seines Schweifes und die vielen wundervollen Erinnerungen“, sagte sie traurig.

Dann erzählte sie Cheiron alles über Imsets treues Streitross – wie sie es aus der Zukunft von Ägypten nach Atla auf der Erde geholt hatten und wie sie endlich Freunde geworden waren.

Der Zentaur sah Merit überrascht an. „Dann bist du Prinzessin Merit-Amun, die Tochter von Königin Nefertari?“

„Ja. Die bin ich.“ Merit nickte.

Cheiron war stehen geblieben. Er musterte die Frau neben sich neugierig. „Man sagt, du seiest die Tochter von Neri.“

Merit lachte glockenhell. „Das ist doch genau dasselbe. Neri ist sowohl Hathor als auch Nefertari in einer Person.“

„Oh, das wusste ich nicht“, sagte Cheiron erstaunt. Er warf einen scheuen Blick hinüber zu Imsets starker Gefährtin, über die er vor Gericht so viel erfahren hatte.

Neri hatte Merits herzliches Lachen gehört und kam zu ihnen herüber. Sie reichte Cheiron beide Hände.

„Schön, dich kennenzulernen.“ Mit strahlenden Augen sah sie ihn an. „Ich habe in Ägypten so viel über dein Volk gehört, dass es mir eine wirkliche Freude ist, dich auf Dafa begrüßen zu dürfen.“

Cheiron erwiderte ihren Händedruck. „Die Freude ist ganz meinerseits, habe ich doch gestern erst erfahren, dass es sowohl noch Atlan, als auch Drakonat und sogar Drakon gibt.

Und nun mit all jenen hier feiern zu dürfen, ist wohl der schönste Abschluss einer Reise, die aus einem unschönen Grund erfolgt ist. Außerdem habe ich festgestellt, dass euer Heiler ein wirklicher Könner ist.“ Der Zentaur deutete auf seine Nase.

Tanit kam mit ihrem hölzernen Chepri auf die kleine Gruppe zu. Sie drückte ihrer Mama den Käfer in die Hand und betrachtete mit großen Augen von allen Seiten den Bärtigen, der halb Mann und halb Pferd war. Neugierig warteten alle auf einen Kommentar der Kleinen.

„Du siehst aus wie ein Schaf, nur ganz anders“, sprudelte sie plötzlich heraus.

„Wie ein Schaf?“, fragte Cheiron lachend.

„Sie hat keinen anderen Vergleich“, erklärte Merit. „Von vierbeinigen Tieren gibt es bei uns nur Hunde und Schafe.“

„Dann tauscht doch einfach zwei Schafe gegen ein Pferd ein“, schlug Cheiron vor. „Die Asen leben nicht so weit weg. Vielleicht haben sie ja sogar echtes Interesse an so einem Handel? Dann bekommst du endlich wieder ein Pferd.“

Maris nickte. „Die Idee ist gut. Die Pferde der Asen sind kräftig und ausdauernd, dabei aber genügsam. Du solltest mit Imset darüber reden.“

„Wird mein Typ verlangt?“, fragte jemand hinter Maris.

„Imset! Du kommst wie gerufen. Merit möchte gern zwei Schafe gegen ein Pferd eintauschen“, erklärte Maris ohne Umschweife.

Imset schmunzelte und blinzelte Cheiron zu. „Ich habe geahnt, dass sie bei deinem Anblick an alte Zeiten erinnert wird. Sie und mein altes Streitross waren ja auch fast unzertrennlich.“

„Sprichst du mit Odin?“, fragte Merit zaghaft. „Bitte!“

Imset lachte. „Warum machst du das nicht einfach selber? Diesem Augenaufschlag wird er kaum widerstehen können.“

„Recht hat er“, kicherte Cheiron. „Ich begleite dich auch zu ihm, wenn du möchtest.“

Merit nickte und machte sich mit dem Zentauren auf den Weg. Odin saß noch immer mit Sobek und Solon beisammen. Die drei Männer hatten wohl ein Thema gefunden, das ihnen sehr am Herzen lag.

Merit verlangsamte ihren Schritt. Kurz vor dem Ziel, schien sie ihr Mut zu verlassen. Odin wurde trotzdem aufmerksam. Er hatte den leisen Hufschlag Cheirons gehört.

„Na frag schon“, sagte der Zentaur. „Odin beißt nicht.“

Die beiden Atlan amüsierten sich, wie sie Sobek Hilfe suchend anschaute. Odin stand auf, um die schwarzhaarige Schönheit erst einmal zu begrüßen. Als sie ihren Namen nannte, stutzte er kurz.

„Dann bist du also Sobeks Schwester, wenn ich mich nicht irre und du bist genau so hübsch, wie die Mama.“ Odin schmunzelte, als er sagte: „Cheiron hat recht, ich beiße wirklich nicht. Wie lautet denn nun die Frage?“

Merit atmete tief ein. „Ich wollte dich bitten, mir eines eurer Pferde gegen zwei Schafe einzutauschen. Wenn ihr das nächste Mal nach Tarronn kommt“, setzte sie schnell hinzu.

Odin schaute die verschüchterte Frau erstaunt an. „Eine ungewöhnliche Bitte für eine Atlan. Aber ein durchaus überlegenswerter Handel. Was sind es denn für Schafe?“

„Ägyptische Wüstenschafe mit langer, kräftiger Wolle. Die sind nicht wählerisch, was das Futter angeht“, erklärte Sobek. „Wir haben sie vor einiger Zeit direkt von der Erde geholt und sie haben sich prächtig vermehrt. Ein paar überzählige Böcke sind auch dabei, die wir gern an andere Interessenten abgeben möchten.“

„Dann sollten wir uns wohl gleich einmal die Tiere ansehen?“, fragte Odin Merit, in deren Augen ein Funke Hoffnung glomm.

Alle Fünf schlenderten langsam durch die Siedlung. Die Gäste schauten sich verwundert um.

„Mit den alten Atlan habt ihr wohl nur die Magie gemein“, stellte Odin schließlich fest.

„Stimmt“, antwortete Solon lächelnd. „Wir leben von und mit der Natur. Anders hätten wir auf der Erde nicht existieren können. Not macht schließlich erfinderisch. Brauchen wir jetzt einen interstellaren Transfer, dann bitten wir die Tarronn um Hilfe.“

„Aber wie es aussieht, habt ihr hier gute Chancen als Volk zu überleben.“ Cheiron deutete mit der Hand die Größe eines Kindes an.

„Wir geben uns Mühe“, erwiderte Sobek zweideutig.

„Das ist auch nicht zu übersehen“, antwortete Cheiron ebenso, während sich Odin köstlich amüsierte, dass Merit wieder einen leichten Anflug von Röte bekam.

Endlich tauchte die Schafkoppel in der Ferne auf. Mit lautem Gebell stürzten die Hunde auf die kleine Gruppe zu.

„Hütehunde?“, fragte Cheiron erstaunt.

„Ach was! Kuscheltiere, die sich nur gern bei den Schafen herumdrücken“, entgegnete Merit und nahm ihre Hündin Tina auf den Arm, während die drei anderen Hunde aufgeregt Cheirons Beine beschnüffelten.

„Weg!“, befahl Sobek und die Rasselbande verschwand wieder zwischen den Schafen auf der Koppel.

Merit und Cheiron blieben am Zaun stehen, während Odin, Solon und Sobek zu den Schafen hineingingen. Der Ase teilte mit den Händen das Fell des erstbesten Tieres und staunte über die Dichte und Länge.

„Gute Wolle“, murmelte er zufrieden. „Über den Geschmack des Fleisches brauch ich euch ja nicht befragen.“

„Daran hat sich nichts geändert. Säugetiere kommen bei uns nach wie vor nicht auf den Tisch“, bestätigte Solon Odins Vermutung.

„Wie stehen die Chancen?“, fragte Merit zaghaft, als die Männer nach ein paar Minuten zurückkamen.

„Einen Bock und drei weibliche Tiere gegen zwei Fohlen? Oder hättest du lieber ausgewachsene Pferde?“, fragte Odin.

„Fohlen“, antwortete Merit, ohne zu zögern.

„Und du kennst dich mit Pferden aus?“, bohrte Odin weiter.

„Aber sicher“, lachte die Atlan. „Was ich nicht weiß, das wissen Imset und Safi allemal. Schließlich sind die beiden unter dem Befehl meines Vaters, Ramses II., mit ihren Streitrössern ein halbes Menschenleben lang in die Schlacht gezogen. Oder sie werden es tun, wenn du es ganz korrekt nehmen willst.“

„Ich habe davon gehört, dass du die Frau aus der Zukunft bist“, sagte Odin. „Euer Volk ist wohl das Erstaunlichste, was mir bis jetzt begegnet ist und ich bin bestimmt kein heuriger Hase.

So wie es aussieht, habt ihr die Haustierhaltung auch aus der Zukunft mitgebracht. Ich könnte mich nicht erinnern, jemals Tiere bei den alten Atlan gesehen zu haben.“

„Ich bin mit Tieren aufgewachsen“, erzählte Merit-Amun. „Da ist es doch sicher nicht verwunderlich, dass ich lieb gewonnene Dinge auch hier, in meinem neuen Leben um mich haben möchte.“

„Solange alle anderen Atlan problemlos damit leben können und, wie bei den Schafen, sogar einen eindeutigen Vorteil davon haben, wird das auch niemand verbieten“, fügte Solon hinzu.

„Sogar mit dem Dreck der Hühner haben wir uns arrangiert, weil wir so gern Eier essen. Ohne Imset, Safi und Merit bettelten wir wohl ständig die Drakon an, uns ein paar Eier aus dem Urwald zu holen.“

Odin und Cheiron sahen Solon verständnislos an. Es dauerte eine Weile, ehe er ihre Blicke deuten konnten.

„Völlig falscher Gedankengang!“, kicherte er. „Die Drakon dienen uns nicht, sie sind gleichberechtigte Partner. „Sie sind unserem Volk sogar durch das Blut verbunden. Alle hier auf Dafa haben die gleichen Rechte und Pflichten.“

„Ich glaube, Odin, wir müssen uns völlig neu orientieren, was die Atlan betrifft“, stellte Cheiron fest.

„Wir sollten uns wohl auch lieber Atlaronn nennen“, schmunzelte Solon. „Er ist der erste Atlaronn“, sagte er, auf Sobek deutend. „Seine, Kebechsenefs und Maris’ Kinder ebenfalls.

Das Kleine, das Horus und Neri erwarten, wird auch ein Atlaronn sein. Tamu, der Tarronn, hat Sara, die Atlan, als zukünftige Gefährtin ausersehen und so wird es wohl weitergehen.

Es ist doch auch so völlig egal, welchem der beiden Völker man angehört, Hauptsache, man versteht sich und ist füreinander da. Merit glaubte zum Beispiel immer, ein Mensch zu sein. Selbst das wäre für uns nie ein Problem gewesen.“

Sobek wandte sich an Cheiron. „Ihr seid aber auch nicht gerade viele von eurem Volk, habe ich mir von Neri sagen lassen.“

Der weise Zentaur nickte bekümmert. „Zwei Hände voll auf Helion, um es einfach auszudrücken. Das liegt wohl am Fluch unserer Vermehrung.“ Er warf einen scheuen Blick auf Merit. „Darüber möchte ich wirklich nicht in ihrem Beisein sprechen.“

„Willst du mit Maris darüber reden?“, fragte Sobek telepathisch mit unbewegter Miene.

„Ich weiß nicht“, gab Cheiron unsicher zurück.

Am Abend entschloss er sich dann doch noch, Maris um Rat zu fragen. Die beiden ungleichen Männer standen am Rande der Klippen, um ungestört zu sein. Trotz der einsetzenden Dunkelheit bemerkte Sobek von Weitem, wie sein Freund sichtlich blass wurde.

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