Titus Nervianus - Band 1

In Seenot

Vor genau sechs Jahren hatte Freya das verwilderte Grundstück mit dem baufälligen Häuschen direkt am Meer übernommen, und Stück für Stück zu einem behaglichen Schmuckstück werden lassen. Hier fand sie Inspirationen für ihre kunsthandwerklichen Arbeiten, die sie in der direkt angeschlossenen kleinen Werkstatt in wundervolle Kleinode umsetzte. Für die Nachbarn war sie bis heute eine Außenseiterin geblieben, weil sie lieber allein und und sehr zurückgezogen lebte. Allerdings war ihr Atelier auch überall bekannt, denn ihre Unikate hatten Seele.

Man wusste nicht viel über die deutschstämmige Künstlerin. Aus Presse und Fernsehen hatte man erfahren, dass sie mit einem Banker in Monaco verheiratet gewesen war, der sich nach einigen Jahren wegen Kinderlosigkeit von ihr hatte scheiden lassen. Für die meisten kein wirklicher Grund, denn Freya war hübsch, intelligent und eine angenehme Gesprächspartnerin. Das wiederum machte sie zum begehrten Jagdobjekt jener besser betuchten, vorwiegend älteren, Junggesellen, denen die Adoption eines Kindes kein Dorn im Auge gewesen wäre.

Freya hasste es, auf Partys gute Miene zum offensichtlichen Spiel zu machen. Und sie würde ganz sicher nicht zwei Mal dasselbe tun, obwohl es für sie zum absoluten Vorteil gewesen war. Man kannte international ihren Namen und schwor auf die Produkte ihrer Kreativität.

Für heute hatte sie sich vorgenommen, mit dem Boot in den nächsten Ort zu fahren, um diverses Material und dringend benötigte Werkzeuge einzukaufen. Sie füllte den Tank des Außenbordmotors noch randvoll auf, ehe sie ihre Tasche und einen kleinen Reservekanister ins Boot stellte, die Leinen löste, um bei azurblauem Himmel, den keine Wolke trübte, davon zu tuckern. 

Schon nach wenigen Minuten zierte ein Dauerlächeln ihr Gesicht, denn die costa azurra, machte ihrem Namen alle Ehre. An den Uferhängen blühten zwei große Agaven, deren fast elf Meter hohe Blütenstände wie kleine Leuchttürme wirkten. Es war unbestritten schön hier und sie hatte nie bereut, das Häuschen für sich auszubauen, statt es an Feriengäste zu vermieten. 

Die Einkaufstage mit dem Boot betrachtete sie fast als freie Tage, und sie fuhr weite Touren, um sich einfach nur an der Küstenlandschaft zu erfreuen.

Sie malte sich gerade aus, wie sie am Abend mit einem Glas Wein und ein paar Snacks gemütlich am Steg sitzen werde, um den Sonnenuntergang zu beobachten, als der Bootsmotor zu stottern begann. Freya hob die Augenbrauen. 

„Was wird das?“, murmelte sie halblaut und ziemlich überrascht, denn sie hatte das ehemalige Fischerboot erst ein paar Tage zuvor komplett warten lassen. Sie brauchte es für all jene Dinge, die nicht ins Auto passten, und da musste es topp in Schuss sein. Da lief der Motor auch schon wieder rund. Freya atmete auf. 

Eine halbe Stunde später legte sie im etwa neun Kilometer entfernten San Lorenzo al Mare an, vertäute das Boot und arbeitete akribisch ihren Einkaufszettel ab.

Im Werkzeuggeschäft gab es, wie immer, wenn sie herkam, einen kräftigen Espresso, ein nettes Schwätzchen mit dem Inhaber und sie erfuhr den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Handwerkerbranche. Oder sie bekam einen Tipp, wenn sich steuerlich irgendetwas veränderte, das sie wissen musste.

„Ich brauche eine kleine Bandschleifmaschine“, fiel es ihr heute blitzartig ein.

Der Inhaber blätterte im Katalog. „Kleiner, als die hier, aber nicht“, schmunzelte er, auf ein handliches Gerät in Größe einer mittleren Mikrowelle deutend. „Alles andere ist Spielzeug.“

„Hast du sie am Lager?“

„Nein. Aber ich kann sie dir für nächsten Mittwoch bestellen.“

„Mach das!“, bat Freya. „Mitsamt drei Ersatzbändern in unterschiedlicher Körnung.“

Er blinzelte ihr lachend zu. „Immer diese Sonderwünsche! Und das, wo ich so schlecht ‚nein‘ sagen kann.“

Freya zahlte die Maschine an und verabschiedete sich.

Er wünschte: „Bis nächste Woche und komm gut nach Hause!“ 

Wie immer hatte er ihre Einkäufe wasserfest verpackt, und Freya deponierte die Kiste im Heckteil des Bootes. Die anderen Dinge waren weniger gut geschützt und sollten am Bug Platz finden.

Auf dem Heimweg verdrehte Freya ein paar Mal die Augen. Die direkte Uferzone erinnerte heute fast an eine vollgestopfte Autobahn. So zog sie etwas weiter hinaus, um entspannter fahren zu können. Im nächsten Augenblick stotterte der Motor erneut, ging aus und ließ sich auch, trotz aller Bemühungen, nicht mehr starten.

„Aus dem Weg!“

Freya zuckte erschreckt zusammen. Es reichte schon, dass ihr Außenbordmotor streikte, da musste man sie nicht auch noch dumm anmachen. „Wenn ich es nicht bald in den Griff bekomme, sollte ich die Küstenwache anrufen“, überlegte sie angesäuert, denn das Boot wurde immer weiter aufs Mittelmeer hinaus getragen und die Sonne ging langsam unter. „Ach verdammt, ich rufe sofort an!“ 

Sie zog das Smartphone aus der Tasche, um im Internet die Nummer zu suchen. Der Akku war zwar voll, aber sie bekam kein Netz. Beim zehnten erfolglosen Versuch hockte Freya in ihrem Fischerkahn und zog die Nase hoch. „Fehlt nur noch, dass ich losheule.“ 

Sie fasste nach den Paddeln, die sie für den Notfall immer dabei hatte, und begann zu rudern. Die Küste war in der Ferne zu erkennen, irgendwann würden zudem in den Häusern die Lichter angehen und sie in der Dunkelheit leiten.

Eine halbe Stunde später begriff sie, dass sie dem Strand kein bisschen näher kam und sie der auffrischende Wind weiter abdrängte. Sie zog völlig geschockt die Ruder ein, um den Tränen nun doch freien Lauf zu lassen. 

Das Handy stellte sich noch immer tot, der Magen begann zu knurren und die nächtliche Kühle kroch in die dünne Kleidung. 

Schließlich gab sie alle Bemühungen auf, kauerte sich zusammen, um möglichst wenig Wärme abzugeben, und hoffte darauf, von einem Schiff gefunden zu werden. Erschöpft schlief sie ein.

Vom überlauten Schrei einer Möwe im ersten Licht des Tages geweckt, kam die Erinnerung wieder. Das Tier saß auf der Bordwand über ihr und schien zu überlegen, wie man am besten ein Stück Fleisch aus der vermeintlichen Leiche hacken könne. Als Freya vorsichtig die Augen öffnete, stob der Vogel mit einem entsetzten Kreischen davon. Freya musste grinsen. Das fügte sich wieder mal komplett zu all dem Verrückten, das ihr ständig passierte. 

„Na schauen wir mal, wo wir sind“, murmelte sie, sich aufrappelnd.

„Einen Steinwurf vom Strand entfernt“, ertönte es hinter ihrem Rücken mit ungewöhnlichem Akzent.

„Huch!“ Freya fuhr herum und lugte ins Wasser, wo ein gut aussehender, äußerst muskulöser Schwimmer ihr Boot vorwärts schob. 

„Alles in Ordnung?“, fragte er, auf ihren völlig irritierten Blick.

Freya nickte, ihn und die Umgebung mit großen Augen betrachtend. „Haben Sie mein Boot etwa mit purer Muskelkraft bis hierher gebracht?“

„Ja. Mir stand nichts anderes zu Verfügung“, erklärte er leichthin.

Freya bedachte ihn mit einem Blick, der ihn hellauf lachen ließ.

„Teuerste, ich bin weder verrückt noch will ich Sie veralbern.“

Freya erschrak. „Verzeihen Sie bitte“, stammelte sie. „Ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt. Ich kann es nicht wirklich fassen, dass ich in Sicherheit bin. Seien Sie mir bitte, bitte nicht böse ...“ Statt den Satz zu beenden, riss sie die Augen auf, schlug die Hände vor das Gesicht und hauchte: „Sie haben auf meine Gedanken geantwortet!“

„Das ist exakt“, erwiderte der Fremde, den Kahn emsig weiterschiebend. „Ich bringe Sie da an den Strand, wo der kleine Überhang die Sicht von oben verbirgt. Es wäre nicht in meinem Interesse, entdeckt zu werden.“

„Wer sind Sie?“, staunte Freya.

„Mein Name ist Titus Nervianus.“

„Angenehm, Freya Monti. Leben Sie hier, in Imperia?“

„Nicht in. Vor“, schmunzelte Titus, ahnend, dass sie dies auf die Besiedlung auf dem Ufer beziehen werde. Da begann sie auch schon, die vielen kleinen Orte aufzuzählen, und Titus machte sich den Spaß, jedes Mal: „Nein. Nein. Nein“, zu sagen. Er stoppte das Boot 50 Meter vor dem Strand. „Das letzte Stück müssen Sie allein zurücklegen.“

„Ist, nicht entdeckt zu werden, der Grund, warum Sie das Boot geschoben haben, statt herein zu kommen und zu rudern?“

Titus grinste vergnügt. „Das könnte man als einen ernsthaften Grund anführen.“

„Ich möchte Sie gern wiedersehen“, sagten beide gleichzeitig und begannen, wegen dieser Tatsache, herzlich zu lachen. 

„Morgen bei Sonnenaufgang gleiche Stelle?“, fragte Titus. „Also genau hier, nicht da draußen und auch nicht am Strand“, fügte er rasch hinzu.

Freya spitzte die Lippen. „Sie meinen es offenbar ernst, im Wasser bleiben zu wollen.“

Titus nickte. „Es geht nicht anders.“

„Ich habe im Künstlerbezirk ein Häuschen direkt am Ufer. Wenn Sie dort aus dem Meer steigen, wird Sie keiner sehen“, schlug Freya als geeigneteren Treffpunkt vor. „Sie können sogar Ihr Boot am Steg vertäuen, ohne dass es andere merken werden.“

Nach kurzem Überlegen sagte Titus: „Abgemacht. Ich werde pünktlich da sein. Ich freue mich auf Sie. Kommen Sie gut nach Hause. Bis morgen!“

Freya war mit einem Satz am Heck, denn Titus hatte sich einfach absinken lassen und tauchte auch nicht wieder auf. Sie begann sogar zu überlegen, ob sich alles nur in ihrer Fantasie zugetragen habe. Kopfschüttelnd nahm sie das Smartphone aus der Tasche, das volles Netz zeigte. Ehe sie allerdings eine Nummer wählte, versuchte sie noch einmal, den Motor anzulassen. Ohne Erfolg.

„Ach, was soll es“, murmelte sie, sich in die Riemen legend, um den letzten Katzensprung zum Strand zu überwinden. Sie schlang das Bootstau um einem Felsbrocken und rief den Servicepunkt des nahen Yachthafens an. Wenige Minuten später nahte schon der Techniker mit dem passenden Ersatzteil. 

Freya tuckerte nach Hause. „Titus Nervianus“, rekapitulierte sie den Namen ihres Retters, falls sich alles tatsächlich zugetragen hatte. „Hm, ist wahrscheinlich ein Künstlername, wenn auch ein besonders klangvoller, für einen wirklich gutaussehenden Mann. Den Muskeln nach, sicher ein Akrobat.“ Sie zog das alte Boot geschickt an den Liegeplatz, vertäute es, hievte ihre Besorgungen auf den Steg und kletterte über die kleine Leiter hinterher. Dann stand sie eine Weile, das herrlich azurblaue Meer betrachtend, das heute glatt wie ein frisch polierter Spiegel aussah. Am Horizont verschmolz es mit dem wolkenlosen Himmel, der makellos fast seidig wirkte und sich in völlig identischem Farbton präsentierte. „Phänomenal“, flüsterte Freya, sich mühsam von diesem Anblick losreißend und alles zum Haus tragend.

Dort suchte sie schnurstracks die Speisekammer auf. Sie hoffte inständig, ihren ungewöhnlichen Gast zu mehr, als Frühstück mit Espresso, bewegen zu können. „Hoffentlich hat er nicht den Gemüsewahn, um kein Gramm Fett zu viel anzusetzen“, huschte es durch ihre Gedanken. „Ach was! Ich werde deutsches Essen kochen. Ein bisschen gehaltvoller, als man es hier gewohnt ist, aber vielleicht punkte ich damit am besten. Italienische Küche kann er schließlich jeden Tag haben. Es gibt panierte Schweineschnitzel mit Salzkartoffeln und in Butter geschwenktem Mischgemüse. Basta! Zum Nachtisch Pistazienpudding – nicht deutsch, aber lecker. Einen duftenden Kuchen werde ich auch noch backen ...“

Freya begann zu lachen. „Oh Mann! Ich plane hier ein halbes Hochzeitsbankett, dabei will er vielleicht nur einen kleinen Schwatz halten!“

Dass ausgerechnet solch ein Prachtexemplar sagte, es wolle sie wiedersehen! Gleich darauf seufzte sie. „Na hoffentlich ist er nicht so drauf wie Gaspare.“ Mit jeder Stunde wuchs die Vorfreude, ihren geheimnisvollen Retter wiederzutreffen, was sich als deutliches Kribbeln im Bauch manifestierte. Selbsterklärend, dass sie nachts nicht einmal schlafen konnte, und schon auf dem Steg stand, noch bevor die Sonne aufging, um Titus nicht eine einzige Sekunde warten zu lassen. Sie spähte aufmerksam umher und lauschte. Aus welcher Richtung mochte er wohl kommen? 

Als der erste Lichtschimmer am Horizont zu erahnen war, plätscherte es direkt neben der Leiter. Freya drehte sich wie in Zeitlupe um.

„Guten Morgen!“, wünschte Titus aus dem Wasser, wobei seine ungewöhnlich großen Augen wie Sterne funkelten.

„Guten Morgen! Sie sind doch nicht etwa bis hierher geschwommen?“, staunte Freya.

Titus lächelte verschmitzt. „Aber natürlich.“

„Gesundheitsfanatiker?“, schmunzelte Freya. „Kommen Sie, ich habe uns Frühstück gemacht. Sie haben doch hoffentlich ein halbes Stündchen Zeit für mich?“

Diesmal seufzte Titus. „Zeit für Sie habe ich unendlich, wenn es rein danach geht.“

„Aber?“

„Ich bin nicht der oder das, für den oder was Sie mich halten“, erwiderte er leise, ohne Anstalten zu machen, aus dem Wasser zu steigen. „Wenn es Ihnen nicht zu viel Aufwand ist, das Frühstück hierher zu bringen, nehme ich gern Ihr Angebot an.“

Freya musterte ihn verblüfft. „Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, sollte es sich um einen körperlichen Makel handeln. Na, kommen Sie schon raus!“

„Körperlicher Makel“, paraphrasierte Titus amüsiert. „Okay, ich komme raus. Auf Ihre Verantwortung. Dann werden Sie sogar ganz freiwillig das Frühstück hierher bringen. Oder aber schreiend davon rennen und sich im Haus verbarrikadieren.“

...