Der Rübezahl vom Schüchthof 2

Es ist zwei Jahre her, seit die Landwirte Urs und Mina auf dem Schüchthof die Sagenfeuer ins Leben gerufen haben. Durch den ständigen Publikumsverkehr an den Sonnabenden kommen sie kaum noch zum Verschnaufen und so bleibt es nicht aus, dass sie über weitreichende Veränderungen nachdenken müssen.

„Wir brauchen Saisonhelfer während der Heuernte und jemanden, der im Stall mit anfasst“, sagte Urs, als wieder mal Trubel wie in einem Tollhaus herrschte.

„Zu dieser Erkenntnis bin ich heute auch endgültig gekommen“, seufzte Mina. „Und wir brauchen noch was – einen festen Zaun oder eine Mauer am unteren Ende des Hangs. So viel Unvernunft, wie wir heute wieder von zwei Personen erlebt haben, geht auf keine Kuhhaut!“

„Ich habe ja eine Idee. Ich weiß nur nicht, wie wir die umsetzen könnten. Mir schwebt vor, große Steinblöcke von der Mure als Mauer zu legen, die sagt: bis hierher und nicht weiter. Nur, wie kriegen wir die Felsbrocken nach oben? Es sind ja einige Meter zu überwinden.“

„Einige Meter ist gut“, lachte Mina. „Aber das erscheint mir auch sinnvoller, als Pfähle zu setzen. Und ganz nebenbei würde ich mich ebenfalls sicherer fühlen, wenn ich mit dem Traktor zugange bin.“

„Ich habe schon hin und her gerechnet, ob man eine Seilwinde nehmen könnte“, verriet Urs. „Das Ansinnen ist utopisch.“

„Was, wenn wir die Murenreste abhaken, und nehmen, was noch auf dem Hang liegt? Da können wir uns in Ruhe heraussuchen, was von der Größe passt, um mit Max gezogen zu werden“, warf Mina ein. „Notfalls muss eben noch ein Klecks Mörtel dran, damit es eine Mauer wird. Bei den Sockeln der Häuser hat es doch auch funktioniert. Kniehoch würde durchaus reichen. Oder hast du wirklich vor, megalithisch zu bauen?“

„Äh ... nein“, schmunzelte Urs. „Also ist es beschlossen, wir holen, was wir vor der Nase liegen haben.“

„Nächster Punkt: Die Schneefräse“, sagte Mina. „Die sollten wir schleunigst bestellen, denn dass es mit der Schiebemulde von Max nichts Halbes und nichts Ganzes wird, haben wir jetzt zwei Jahre durch.“

„Aber wenn, dann eine zum Draufsetzen, damit wir vielleicht auch die Straße ganzjährig befahrbar halten können“, schlug Urs vor.

„Angenommen!“ Mina hakte den nächsten Punkt ab. „Kommen wir zur Personalfrage. Wen kann man heute noch begeistern, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und bis in die Abendstunden zu arbeiten?“

„Keinen, vermute ich“, murmelte Urs. „Wie wäre es mit Praktikanten im Zweischichtbetrieb? Kost und Logis gratis.“

„Das ist eine Option. Ich werde für beide Varianten Anzeigen an die Tafel im Landhandel pinnen“, erklärte Mina, mit den Händen ihr Gesicht reibend.

Urs nahm sie in den Arm. „Ich mache mir Sorgen um dich. Seit fast zwei Wochen bist du auffallend blass. Vielleicht solltest du ein paar Tage Auszeit nehmen, zu Andreas und Brenda fahren, und dich erholen.“

„Und dich mit der ganzen Arbeit allein lassen. Na klar!“ Mina schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich war der Meinung, wir hätten soeben darüber gesprochen, dass es zu zweit schon nicht mehr zu schaffen ist.“

„Struppi scheint sich auch Sorgen zu machen, so, wie er dir auf Schritt und Tritt folgt“, merkte Urs an.

Mina zog Urs an der Hand auf die Eckbank neben sich. „Ist besser, wenn du dich hinsetzt.“ Und ehe er erschrecken konnte: „Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit.“

Eine Sekunde nichts, außer tellergroße Augen, dann ein Freudenheuler, der Struppi veranlasste, den Weltrekord im hundert Meter Lauf zu brechen. „Oh, mein Gott! Und das sagst du so ganz nebenbei? Seit wann weißt du es?“, rief Urs.

„Seit heute Morgen“, blinzelte Mina.

„Ich muss eine Wiege bauen und ein Kinderbett!“, rief Urs hektisch.

Mina schüttelte lachend den Kopf. „Ich brühe dir erst mal einen Kaffee auf. Du beruhigst dich ein bisschen und dann reden wir weiter.“

„Wir brauchen auf jeden Fall eine sichere Mauer am unteren Ende der Wiese“, murmelte Urs besorgt. „Nicht, dass das Krümelchen in den Abgrund stürzt.“

„Was gab es in deiner Kindheit für Absperrungen?“, fragte Mina.

„Keine“, erwiderte Urs kleinlaut.

„Na also! Dann wird auch die kleine Mauer reichen, gepaart mit Aufsicht und Struppis Bewacherinstinkt. Wir sollten nur langsam einen zweiten Hund ins Auge fassen, weil Struppis Alterswehwehchen immer deutlicher zutage treten. Es weiß ja keiner wirklich, wie alt er schon war, als wir ihn aufgenommen haben. Du wirst also am besten mit ihm zusammen zum Tierheim fahren und nach Zuwachs Ausschau halten, mit dem er sich gut verträgt.“

„T ... Tierheim“, stotterte Urs. „Hm. Eigentlich gar nicht so übel, die Idee. Ich will morgen sowieso Späne für die Hühner aus dem Sägewerk holen, da komme ich ja fast dran vorbei“, erklärte er mit fragendem Unterton.

„Von mir aus auch gleich morgen“, schmunzelte Mina, weil Urs immer noch völlig konfus zu sein schien.

In den abendlichen Nachrichten für Minas Bruder und seine Frau verrieten sie, dass Nachwuchs unterwegs war. Andreas rief im Bruchteil eines Wimpernschlags mit Videotelefonat bei ihnen an. „Juhuuuu, ich werde Onkel!“

„Oder Tante, falls es ein Mädchen wird“, witzelte Urs, worauf Andreas in schallendes Lachen ausbrach.

„Der war gut“, kicherte er vergnügt. „Nun werdet ihr aber ernsthaft über Hilfe nachdenken müssen.“

„Das haben wir heute Nachmittag getan“, verriet Mina und zählte die wichtigsten Punkte auf.

Andreas hörte sich die Sache mit der Mauer aufmerksam an, besonders was Urs‘ erster Gedanke gewesen war.

„Da die Bergflanke mit zu seinem Besitz gehört, wie wir nun ganz sicher wissen, schlage ich eine Hubschrauberaktion vor“, sagte Andreas. „Ausbildung für Industrieflieger oder so. Sie können unten lernen, die Blöcke anzuschlagen und aufzunehmen und oben, sie mit Präzision an der Hangkante abzusetzen. Ich werde Bruno umgehend beauftragen, sich mit entsprechenden Ausbildern zu beschäftigen.“

„Wer soll denn das bezahlen?“, entsetzte sich Urs.

„Keiner von uns. Die können froh sein, wenn sie einen Übungsplatz für schwierige Einsätze kostenlos kriegen“, grinste Andreas. „Das Beste wird sein, wir kommen am Wochenende zu euch.“

„Prima Idee!“, freute sich Mina. „Da ist kein Sagenfeuertermin und uns tut es gut, mit euch Zeit verbringen zu können.“

Als das Gespräch beendet war, begab sie sich in die Käserei, um die fertigen Laibe mit Salzlake abzubürsten und zu wenden. Sie schmunzelte, als von nebenan das Kreischen der Kreissäge erklang. Urs war garantiert dabei, Bretter für eine Wiege zuzuschneiden. Sie ließ ihn gewähren, denn das war wohl das Einzige, womit er sich jetzt ein wenig herunterfahren konnte. Sie sollte sich auch nicht geirrt haben.

„Eine Wiege war damals mein Gesellenstück“, verriet er freudestrahlend, als Mina in seiner Minischreinerei auftauchte. „Wenn du sie am Ende noch verzierst, wird sie bestimmt die Schönste auf der ganzen Welt sein.“

„Gute Idee!“ Mina hatte schon lange ein elektrisches Gerät bekommen, um nicht mehr mühsam mit Propangasflamme und Nägeln die kleinen Dosen, Etuis und Tabletts in Brenntechnik verzieren zu müssen, die sie in den Wintermonaten fertigten. Besonders die mit ihren eigenen Teemischungen gefüllten Kästchen waren der Renner, seit Mina auch fertige Teebeutel zum Aufbrühen abpackte.

Für jene, die keine Verzierungen mochten, hatte Urs mit Walter vom Sägewerk einen Handel abgeschlossen. Der legte ihm alles an Brettern beiseite, was eine besonders auffällige Maserung hatte. Urs nahm sogar Holz mit Astlöchern, das sonst keiner haben wollte.

„Mir ist gerade noch etwas eingefallen“, sagte Mina. „Wir sollten zukünftig nur aller zwei Monate ein Sagenfeuer veranstalten. Die Leute werden immer unvernünftiger, richten immer öfter Schäden an und bei Schuldgefühlen herrscht komplette Fehlanzeige.“

„Ja, da gebe ich dir recht“, seufzte Urs. „Ich werde unsere Homepage entsprechend ändern. Die bereits gebuchten Veranstaltungen führen wir noch durch, aber alles andere wird stark herunter gefahren. Unter 15 Personen wird es nicht mehr stattfinden, 20 Personen sollen das Maximum sein. Alles wird verhandelbar, aber nicht mehr selbstverständlich, sein. Ich rufe unsere beiden Reiseveranstalter heute noch an, damit sie sich darauf einrichten können. Wenn unser Kleines da ist, werden wir ein ganzes Jahr pausieren.“

„Einverstanden.“ Mina strich mit den Fingerspitzen über die zugeschnittenen Bretter. „Ich bewundere deine Kunstfertigkeit.“

„Schatz, ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit“, sagte Urs lächelnd.

„Noch was: Die windgeschützte Stelle, die wir als Parkplätze vorgesehen hatten, bepflanze ich mit robusten Obstbäumen“, offerierte Mina.

„Da haben vor dem Lawinenabgang auch welche gestanden“, erklärte Urs, „Und auf dem Stück, wo jetzt das Geröll liegt.“

„Ein Grund mehr, den Hang zu beräumen“, blinzelte Mina. „Aber so, dass es am Rand des flachen Teils einen Steinwall ergibt. Damit wir keine Angst um unser Krümelchen haben müssen, wenn es naschen geht.“

Sie liefen gemeinsam zum Wohnhaus. Urs blieb vor der Tür stehen und taxierte Struppis Fressnapf. „Ist genug Platz, damit sie sich beim Fressen nicht ins Gehege kommen.“

„Oha! Wenn du so reagierst, spinnen die Parzen doch schon die Fäden!“, rief Mina. „Ich werde also morgen nicht in Ohnmacht fallen, wenn du tatsächlich einen neuen Hund mitbringst.“

„Sachte, sachte“, dämpfte Urs die Euphorie. „Du weißt doch, dass man mehrmals vorstellig werden muss, um einen mitnehmen zu dürfen. Mit gleich mitbringen, dürfte es also kaum etwas werden.“

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