Von mir an Dich ... Stadtgeschich-ten

Busbekanntschaft

Es ist vermutlich leichter eine Nadel im Heuhaufen zu finden, als in einer Großstadt eine bestimmte Person, die du zwar kennst, aber gleichzeitig nur den Familiennamen „Müller“ weißt. Das Telefonbuch hilft dir auch nicht weiter. Verzweifelt scrollst du im Internet die Suchliste ab und stellst fest, dass es mehrere Dutzend „Müller“ an einem Ort gibt. Zudem kann man ja auch gar nicht sicher sein, dass der gesuchte „Müller“ tatsächlich in den Listen eingetragen ist. Was tust du? Du gibst auf. Blöderweise hast du genau seit dem Tag, an dem du deinen „Müller“ dringend sprechen wolltest, selbigen nicht mehr auf der Straße getroffen. Du weißt den Vornamen nicht, hast keine Ahnung in welchem Viertel Herr Müller zuhause ist und auch nicht den blassesten Schimmer, wo er arbeitet. Du weißt nur, er fährt Morgen für Morgen, Jahr für Jahr, mit dir im selben Bus, so dass es schon auffällt, wenn er mal Urlaub hat. Danach erfährst du immer sofort wo er mit Frau, Kind und Hund war und was die Familie dort gemacht hat. Irgendwann steigst du an der gleichen Haltestelle aus, ihr wünscht euch gegenseitig viel Spaß bei der Arbeit und geht in verschiedene Richtungen davon. Busbekanntschaft eben. Man sieht sich. Oder auch nicht, wie du seit ein paar Wochen feststellen musst. Müller ist und bleibt verschwunden. Inzwischen hast du ganz vergessen, was du ihn eigentlich fragen wolltest. Du machst dir schlicht und ergreifend Sorgen. Ihm wird doch wohl nichts zugestoßen sein? Deine Gehirnhälften fangen an sich miteinander über Müller zu unterhalten: „Ob ihm was passiert ist? „Was geht dich das eigentlich an?“

„Eigentlich nichts – aber…“

„Na siehst du.“

„Man macht sich halt Sorgen.“

„Warum? Der Knabe hat Familie, die wird sich schon kümmern.“

„Stimmt. Ich meine ja nur…“

„Vergiss es!“

„Okay.“

Ein halbes Jahr später, du hast dich inzwischen daran gewöhnt, stumm zwischen anderen im Bus zu hocken, sagt eine Stimme neben dir: „Na, Sie gucken aber traurig. Ihnen hat es wohl die Erdbeeren verhagelt?“

Ungläubig schaust du auf. Vor dir steht Müller, gut gelaunt, grinsend und braun gebrannt. Dabei bedenkt er dich mit einem Blick, wie ein Hund seinen Lieblingsknochen. Dir wird unbehaglich. In den nächsten Minuten weißt du, dass er im Lotto gewonnen, deshalb seine Familie für immer verlassen und eine Weltreise gemacht hat. Du bist zutiefst schockiert über die Herzlosigkeit mit der er das alles so dahersagt und ganz plötzlich fragst du dich, wie du den Labersack überhaupt vermissen konntest, lächelst gequält und fährst ab sofort einen Bus eher.