Geheimakte Rumpelstilzchen

Reni Dammrich

Das Stadtparkphantom

Wir schreiben das Jahr 2015 und wie immer überschlagen sich die Zeitungen mit grotesken Schlagzeilen. So auch mit dieser vom 3. Juli: „Rhododendron-Zwerg springt Rentnerin an.“ Die kurze Meldung dazu lautete: „In den frühen Morgenstunden sprang eine zwergenhafte Gestalt aus einem Rhododendrongebüsch im Chemnitzer Stadtpark und erschreckte eine Rentnerin fast zu Tode. Die alte Dame erlitt einen schweren Schock und musste notärztlich behandelt werden. Die genaueren Umstände der Tat sind noch unklar.“ Zwei Tage später traf es genau am selben Busch einen Jogger, welcher zu Fall kam und mit Prellungen und bösen Abschürfungen in der Notaufnahme landete. Die Polizei nahm Ermittlungen auf und befragte die Opfer zum Tathergang. Übereinstimmend erklärten beide, es habe sich um einen männlichen Täter gehandelt, welcher auffällig dürr gewesen sei. Zudem sei das halbe Gesicht von einem struppigen, schmutzig grauen Vollbart zugewuchert gewesen, so dass man nur habe die blutroten Augen sehen können. Ah ja. Blutrote Augen.

Bevor jemand auf die Idee kam, am geistigen Zustand der Angefallenen zu zweifeln, erstatten zwei neue Geschädigte Anzeige. Einer von ihnen rief noch vor Ort nach den Beamten und berichtete, der Fremde habe ihn nicht nur mit extrem langen Fingernägeln attackiert, sondern auch noch ins Genick gebissen.

Und tatsächlich, auf seiner Haut zeichneten sich blutunterlaufen die Abdrücke menschlich aussehender Zahnreihen ab.

Man richtete ein Sondereinsatzkommando ein, legte sich vor Ort auf die Lauer, installierte Infrarotkameras und staunte nicht schlecht, als immer mehr Bürger behaupteten, sie seien auch an anderen Stellen im Park von einem Zwerg angesprungen worden. Aber weder die Beamten noch die Aufzeichnungen der Kameras konnten Licht ins Dunkel bringen. Die weithin gellenden Angst- und Schmerzensschreie der Betroffenen zeigten den Häschern bestenfalls, dass sie wieder genau am falschen Platz gelauert hatten.

Profiler begannen aufwendige Analysen und kamen zu dem Ergebnis, der, offensichtlich psychisch gestörte Fremde, ging ausschließlich auf Personen los, die größer als er selber waren. Dabei machte er keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen.

Er sprach bei den Überfällen kein Wort. So blitzschnell, wie er ihnen, bevorzugt, ins Genick sprang, tauchte er auch wieder im jeweiligen Gebüsch unter.

Die unmittelbare Nähe des Wassers schien er zu meiden. Jedenfalls wurde er weder an Teichen noch am Chemnitz-Fluss und genau so wenig bei Regen gesichtet. Von Raubüberfällen konnte man nur bedingt sprechen. Wenn, dann klaute er seinen geschockten Opfern das Essen aus der Hand. Sämtliches anderes Eigentum ließ er völlig unangetastet.

Als man des Delinquenten auch nach vier Monaten noch nicht habhaft war, zog man die Polizisten ab und warnte ganz einfach mit Schildern davor, mit Einbruch der Dunkelheit den Park zu betreten. Die Presseleute blieben noch, verschwanden aber, als es immer kälter wurde ebenfalls, um sich lohnenderen Storys zu widmen.

Schließlich überzog der erste Schnee die kahlen Sträucher mit einem weißen Tuch und langsamem Vergessen.

Nun ja, nicht ganz – Hundebesitzer fanden morgens immer wieder die Stapfen kleiner nackter Füße. Ihre Tiere machten um einen bestimmten Busch einen großen Bogen und ein paar ganz Neugierige stocherten mit ihrem Spazierstock im kahlen Geäst herum, weil sie hofften, das Geheimnis zu ergründen.

Das Phantom schien zwar noch da, aber in einer Art Winterstarre zu sein, denn es ließ die eiligen Passanten allesamt unbehelligt vorbeiziehen.

Eine mitleidige Frau hatte neben einer Bank Sonnenblumenkerne für die hungernden Vögel gestreut und die halb volle Tüte dort vergessen. Als sie wenige Augenblicke später zurück kam, um sie zu holen, fehlte vom Futter jede Spur. Dafür war rund um die Stelle alles mit den Tapsen nackter Füßchen bedeckt.

Kaum zu Hause angekommen, schickte sie mir eine Mail, weil sie wusste, dass ich immer Stoff für neue Geschichten brauchte.

So beschloss ich, trotz des dichten Schneetreibens, sofort den Ort des Geschehens aufzusuchen. Meine innere Stimme drängte mich geradezu, dies zu tun. Eingemummt, als bräche ich zu einer Nordpolexpedition auf, stapfte ich durch die Winterlandschaft.

Sie hatte mir die Stelle recht gut beschrieben und ich fand sogar ein paar Schalenreste der Kerne. Zudem bemächtigte sich mir das Gefühl, intensiv beobachtet zu werden.

Ich hockte mich, so dass ich den Busch noch in den Augenwinkeln sehen konnte, seitlich auf die äußerste Kante der Bank.

Du musste keine Angst haben, dachte ich intensiv, in der Hoffnung, der Fremde könne meine Botschaft empfangen. Wenn du hungrig bist, komm her! Ich habe dir Schinkenbrote und ein paar Kekse mitgebracht.

„Zeigt sie mir!“, hörte ich es deutlich im Geäst wispern und erschrak nun doch etwas.

Ich zog das Päckchen aus meiner Manteltasche, öffnete es und bemerkte eine huschende Bewegung zwischen den kahlen Zweigen.

Mit den Worten: „Na komm schon her. Ich bin unbewaffnet“, hielt ich es dem Fremdling gut sichtbar hin.

Zögernd schlich er näher, versuchte in meinen Augen zu lesen und griff blitzschnell eines der belegten Brote.

„Das ist alles für dich“, erklärte ich. „Setz dich zu mir. Erzähle, wer du bist, wo du her kommst und was du hier treibst.“

„Ich werde euch Menschen niemals verraten, wie mein Name lautet!“, grollte er. „Das letzte Mal, als ihn jemand aussprach, landete ich an diesem Ort. Ich weiß nicht einmal, wo dieses Hier ist. Ich weiß nur, dass ich nach Hause zurück will!“

„Heh, bleib friedlich“, rief ich. „So von Zwerg zu Zwerg verstehen wir uns sicher. Ich will dir helfen. Zudem ahne ich bereits, wer du bist.“

Mit weit offenen Augen, die in der Tat fast blutrot leuchteten, taxierte er mich. „Wirklich?“

„Wäre ich sonst bei diesem Mistwetter gekommen, um nach dir zu suchen? Heute verirrt sich bestimmt keiner mehr so schnell hierher. Die werden brav zu Hause in ihren warmen Stuben hocken.

Sag mal, kannst du wirklich nicht aus eigener Kraft in deine Welt zurück? Du bist doch ein Zauberer, wenn ich mich nicht irre.“

Aufspringen und mich völlig verdattert anstarren, geschahen gleichzeitig. Er hätte vor Schreck fast noch das angebissene Stück Brot fallen lassen.

Sie weiß Bescheid, weiß alles über mich … oh weh, hörte ich deutlich seine Gedanken in meinem Kopf.

„Jemand hat vor langer Zeit deine Geschichte mit der Königstochter und dem Gold aus Stroh aufgeschrieben. Hier hält man die Sache allerdings für reine Erfindung“, versuchte ich ihn zu trösten.“

Der kleine Mann zog die Augenbrauen zusammen. „Diese gemeine Person hat mir mein jetziges Dilemma eingebrockt.“

„Derjenige, der das aufgeschrieben hat?“, fragte ich erstaunt.

„Nein, die dämliche Pute, die der König geheiratet hat!“, klärte er mich auf. „Sie hat mich bitter dafür büßen lassen, ihr die höchsten Ehren verschafft zu haben. In dem Augenblick, wo mein Name fiel, knallte es mörderisch und ich wachte unter diesem Strauch da auf.“ Er deutete mit dem Daumen hinter sich. „Ich hasse Menschen! Besonders die Großen!“

„Ach, du Ärmster! Es hat dich nicht nur in eine andere Welt, sondern auch noch in eine völlig andere Zeit verschlagen.“

„Hmm, das habe ich sofort gemerkt“, brummelte er. „Ihr seid alle komisch gekleidet, tragt seltsame Sachen bei Euch und sprecht einen furchtbaren Dialekt.“

„Ach, was! Deiner klingt auch nicht besser. Meiner ist Sächsisch und ich bin stolz darauf, der Sächsische Literaturkampfzwerg zu sein“, schmunzelte ich.

Er betrachtete mich erneut von Kopf bis Fuß. „Ach, deshalb kennt Ihr Euch mit Büchern aus!“

„Genau. Übrigens habe ich dir in unserer Welt ein paar Abenteuer angedichtet“, fügte ich noch hinzu.

Seine Augen begannen zu leuchten, er rückte etwas näher. „Erzählt!“

So zog ich mein Tablet hervor und las ihm die beiden Kurzgeschichten vor.

Schaute er bei der ersten ziemlich angesäuert, so brach er bei der zweiten in schallendes Lachen aus. Er ließ sich sogar einige Passagen wiederholen. „Das gefällt mir!“, kicherte er vergnügt. „Ich glaube, ich mag Euch!“

Ich blinzelte ihm verschwörerisch lächelnd zu.

„Schreibt Ihr das, was jetzt gerade passiert, auch wieder auf?“, fragte er sofort.

Ich nickte. „Ganz sicher. Du wirst also nicht in Vergessenheit geraten. Unsere Erinnerungen sind es doch, die deine Welt am Leben halten.

Aber du solltest rasch dahin zurückkehren, sonst machen sie dir hier wirklich noch den Garaus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich erwischen.“

„Weiß ich doch. Aber ich kann nicht. Hab schon alles versucht“, murmelte er kleinlaut. „Hier bin ich nur ein hilfloser Zwerg, bar jeglicher Zauberkraft. Deshalb wusste ich mir auch keinen anderen Rat, als mich meiner Haut mit Kratzen und Beißen zu wehren.“

Es war ihm deutlich anzusehen, welche Überwindung es ihn gekostet hatte, mir die Wahrheit zu sagen. Ich staunte, dass es mir gelungen war, überhaupt sein Vertrauen zu gewinnen.

„Aber es hat dir doch keiner wirklich was getan …“

„Hab wohl aus purer Angst überreagiert“, erwiderte er hilflos und sehr traurig. „Dann bekam ich Panik, weil sie Jagd auf mich machten und ich an diesen Ort gebannt zu sein scheine. Ich kann dieses Areal nicht verlassen, so sehr ich mich auch mühe. Dabei hätte ich mir gern die großen bunten, lauten Kisten mit den schwarzen Rädern einmal aus der Näher angeschaut.“

Er meinte die Autos.

Ich holte noch einmal mein Tablet aus der Tasche, damit er wenigstens auf dem kleinen Display ein Auge auf die Objekte seiner Wissbegier werfen konnte.

Wie lange wir schon auf der Bank saßen und über das 21. Jahrhundert sprachen, hätte ich nicht einmal sagen können. Nur wurde der Schneefall immer dichter und mich kroch langsam die Kälte an.

„Sag mal, frierst du gar nicht?“, fragte ich ihn.

„Nein, kein bisschen. Schnee und Kälte machen mir nichts aus. Nur Regen und anderes flüssiges Wasser kann ich nicht leiden“, gab er unumwunden zu, seine nackten Füße in die Luft streckend. „Trotzdem sehne ich mich nach meiner Höhle im Wald und meinem Feuerchen.“

Ich konnte ihn wirklich gut verstehen. Allein und verlassen in einer fremden Welt, die er nicht begreifen konnte und die ihm nur Ärger bereiten würde, bliebe er hier.

„Vielleicht sollte ich deinen Namen aussprechen, damit die Wirkung des vorhergegangenen Nennens aufgehoben wird?“, überlegte ich laut.

„Aber erst, wenn Ihr mir einen neuen Refrain für mein Lied vorgesungen habt!“, rief er sofort und schaute treuherzig bettelnd, wie ein Hund, der ein Leckerli haben möchte.

„Daran soll es nicht scheitern“, lachte ich. „Du hast dir ja auf besondere Art, die Menschen vom Hals gehalten, was man hier auch nicht so schnell vergessen wird. Was sagst du zu: Ach wie gut, dass niemand weiß, wann ich ins Genick euch beiß´“?

Er schlug sich amüsiert auf die dürren Schenkel. „Ja, das ist es! Und nun rufe meinen Namen!“

„Moment! Eines musst du mir noch verraten: Was wolltest du mit dem Kind der Königin machen?“

„Es in meinem Wald zu einem Wesen erziehen, das die Natur und jegliche Kreatur achtet. Zu einem Mann, der einmal ein weiser und gütiger König werden könnte. Unser jetziger Herrscher ist so gold- und machtgierig, dass es kaum auszuhalten ist.“ Er winkte seufzend ab. „Na ja, hier wie da hab ich wohl alles irgendwie falsch angepackt. Aber es war schön, Euch kennen gelernt zu haben.“

„Ganz meinerseits!“ Ihm die Rolle Kekse zusteckend, wünschte ich: „Komm gut nach Hause Rumpelstilzchen!“

Ein Knall, Schnee stiebte hoch und er verschwand in einem violetten Lichtblitz.

Ob er wirklich in seine Welt zurückfand, wollt ihr wissen? Aber ja! Er meldet sich sogar manchmal nachts in meinen Träumen und erzählt mir seine neuesten Abenteuer.