Straßenkampf im Blätterwald

Abenteuer in St. Petersburg 1977

St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, in den Weißen Nächten zu besuchen, war ein besonders Erlebnis. Das bezog sich allerdings nicht nur auf die wundervolle Stadt, sondern auf alles, was am Rande passierte.

Und das begann schon auf dem Hinflug. Ich saß ganz vorn in der Il-62 und freute mich, dass sich dort der Lärmpegel in Grenzen hielt. Dass ich die Wandtäfelung zum Cockpit genau vor der Nase hatte, störte mich wenig.

Im Gegenteil, ich begann, als draußen Wolken die Sicht versperrten, zu überlegen, was sich wohl alles in so einer Flugzeugwand befinden möge. Die Antwort auf meine Frage bekam ich eine Stunde später ziemlich brutal präsentiert. Die Maschine sackte in ein Luftloch, es knirschte vor mir, eine der Wandplatten löste sich und fiel mir genau vor die Füße.

Schreckensbleich saß ich da und starrte auf die Kabel, die ich da zwar vermutet hatte, die ich aber ganz gewiss nicht so hatte sehen wollen. Sofort erschien eine Flugbegleiterin.

Ich atmete auf. Allerdings nicht für lange – sie befestigte das Stück nämlich nicht wieder, sondern trug es freundlich lächelnd davon.

Dass es demzufolge harmlose Kabel waren, die das Flugzeug nicht wirklich in seiner Funktion beeinträchtigt hätten, kam mir gleich gar nicht in den Sinn. Ich saß da und wagte kaum noch, die Füße zu bewegen, um bloß nicht versehentlich ein zweites Segment zu berühren. Wie weit der Erdboden unter uns war, wollte ich lieber auch nicht wissen. Stattdessen zählte ich ungeduldig die Viertelstunden bis zur glücklichen Landung.

Die Ankunftsabfertigung ging recht schnell und ich strebte mit meinen rot-schwarz karierten Luftkoffer, wie die Stoffkoffer damals hießen, dem Reisebus entgegen, der uns zum Hotel direkt am Moskauer Bahnhof, einem der fünf großen Bahnhöfe von St. Petersburg bringen sollte.

Bei der Zimmerverteilung gab es das nächste Problem. Man hatte sich schlicht in der Anzahl vertan und versuchte nun, zwei gleichgeschlechtliche Alleinreisende in einem gemeinsamen Zimmer unterzubringen. Natürlich ging das gründlich schief, denn, wie in über 90 Prozent aller Fälle, hatte man meinen bürgerlichen Vornamen Reni als italienischen Männernamen interpretiert und mir einen jungen Mann als Bettnachbarn zugeteilt.

Nach einigem hin und her gab ein Mädchen sein Einzelzimmer ab, um mit mir gemeinsam das Doppelzimmer zu beziehen. Das Ende vom Lied war aber, dass wir alle drei die Freizeit nach den Tagesausflügen gemeinsam verbrachten und gewaltigen Spaß dabei hatten.

Zumal wir uns ja mit unserem Schulrussisch ausreichend verständlich machen und Hinweisschilder lesen und was wir nicht verstanden, zumindest deuten konnten.

Eine andere Hürde lauerte uns aber schon beim Kofferauspacken auf. Unser Schrank hatte nur vorn zwei Beine und lehnte an der Wand, sodass wir die Tür gar nicht wirklich öffnen konnten. Wir beschlossen also, buchstäblich aus dem Koffer zu leben.

Natürlich wollten wir auch einen Blick aus den wahnsinnig hohen Fenstern auf den Bahnhofsvorplatz werfen. Dabei stellten wir fest, dass die Fenster gar nicht zu öffnen gingen. Kopfschüttelnd gaben wir auf und testeten die Betten, die tatsächlich so solide waren, wie sie aussahen.

Die dick verglasten Doppelfenster hielten wenigstens den Verkehrslärm der vielbefahrenen Straße ab, als wir am ersten Abend restlos geschafft in die Betten fielen. Trotzdem hörten wir von irgendwoher permanentes Gemurmel und Musik. Es war nervend. Also huschten wir auf den Gang, um zu lauschen.

Draußen war es still. Schnell zurück ins Zimmer und schon flüsterte es wieder. Es dauerte ziemlich lange, bis wir die Ursache der Ruhestörung gefunden hatten. Über der Zimmertür hing ein kleiner Lautsprecher, der uns beschallte, der aber keinen Schalter oder Regler hatte, um ihn abstellen zu können.

Ein beherzter Schnitt mit einer Nagelschere und schon zog Ruhe ein.

Die Tagesprogramme ab dem nächsten Morgen führten uns quer durch die Stadt, zur Peter-und-Paul-Festung auf der Haseninsel und zur Wassiljewski-Insel mit den beiden Rostra-Säulen, deren vier kolossale Steinfiguren die russischen Flüsse Wolga, Dnjepr, Newa und Wolchow darstellen.

Ein anderer Ausflug, mit einem Tragflächenboot, hatte Peterhof am Finnischen Meerbusen zum Ziel. Mir gefielen natürlich die Wasserspiele im Park am besten. Ich habe mich köstlich amüsiert, wenn plötzlich kleine Fontainen aus dem Boden oder künstlichen Blättern hervorbrachen und Spaziergängern unerwartet einen feuchten Gruß sandten.

Natürlich besuchten wir auch die Ermitage, aus der mir besonders die riesige Landkarte aus Edel- und Halbedelsteinen im Gedächtnis geblieben ist.

Diese vielen wundervollen Eindrücke trösteten uns darüber hinweg, dass es am zweiten und dritten Tag kein Wasser im Hotel gab. Es blieb uns nichts weiter übrig, als uns mittels Mineralwasser einer Katzenwäsche zu unterziehen.

Aber, wie in jedem Urlaub, kam der Abschied viel zu zeitig. Die letzten Stunden verbrachten wir im großen Saal, wo die runde Tanzfläche etwa 20 Zentimeter in den Boden eingesenkt war.

Auf dem Tisch standen Flaschen mit Wodka, aber keine Schnapsgläser. Dafür aber Wassergläser und kein Wasser. Als uns das Warten auf Bedienung zu lang wurde, tranken wir kurzerhand den Wodka aus den Wassergläsern. Mit verheerender Wirkung, denn das waren meist mehr als Sto Gramm gewesen, und es gab wohl kaum einen, der anschließend keine Schlagseite hatte. Meine Mutter übersah demzufolge auch die eingesenkte Tanzfläche, konnte sich aber noch an einem der Tische abfangen. Entsprechend lustig wurde auch die Fahrt zum Flughafen.

Als ich allerdings zum dritten Mal durch den Metalldetektor der Abfertigung musste, weil er ständig piepte, verging mir langsam die gute Laune. Beim vierten Versuch gab es schon fast nichts mehr, was ich noch hätte ablegen oder ausziehen können.

Bis irgendwann jemandem auffiel, dass ich hinten an der Gürtelschlaufe einen großen Karabinerhaken trug, wie es Ende der 70er Jahre nun mal modern war. Die gigantische Sicherheitsnadel am Oberschenkel, die auch noch dazu gehörte, hatte ich ja gleich zu Anfang der Kontrolle abgezogen.

Für lang anhaltendes Gelächter war jedenfalls gesorgt, zumal der Wodka immer noch wirkte.