Draculas bissige Verwandtschaft

Traue nie einem Vegetarier

Eines Tages fragte mich ein Freund, ob ich seinem Pauli ein neues zu Hause geben könne. Der brauche auch nicht viel Platz. Er sei nur etwas speziell und manche Leute gruselten sich vor ihm.

„Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, kümmere ich mich um ihn. Aber wer ist Pauli?“, fragte ich neugierig, weil ich mich nicht erinnern konnte, den Namen jemals von ihm gehört zu haben.

Statt auf meine Frage einzugehen, schnappte er erfreut: „Das würdest du tun? Ich wusste, du bist verrückt genug. Er braucht ja auch nicht viel Platz …“

Das hatte er ja schon gesagt, ich wusste aber immer noch nicht, womit ich es zu tun bekommen werde. Manche Menschen geben ja auch Pflanzen einen Namen. Ich zum Beispiel. Ich habe eine Venusfliegenfalle namens Herby. Aber vor der gruselt sich bestimmt niemand. Es sei denn, er hätte zu viele Horrorschocker gesehen.

Er drückte mir also einen Schaukasten in die Hand, mit einer großen präparierten Fledermaus darin, die das Maul mit den riesigen Vampir-Zähnen im Oberkiefer weit aufgerissen hatte.

Ah ja, das war also Pauli.

„Und du willst ihn wirklich haben?“, fragte mein Freund gespannt.

„Ja klar, warum nicht. Ich werde schon ein hübsches Plätzchen für ihn finden.“

„Ich wusste, du bist verrückt genug.“

Also nahm ich Pauli mit nach Hause und hängte ihn über meinen Schreibtisch. Die Lücke war so perfekt, dass man meinen konnte, sie habe nur auf diesen Moment gewartet. Und das, wo ich nicht an Zufälle glaube ... Und warum betonte mein Freund immer wieder, ich sei verrückt genug? Forschend betrachtete ich den ausgestopften Flattermann, ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken.

Nach ein paar Stunden hatte ich mich an Pauli gewöhnt, wünschte ihm eine gute Nacht und ging zu Bett. Am Morgen rief ich ihm im Vorbeigehen „Hallo Pauli!“, zu, bereitete mir einen Cappuccino und wollte ein paar kleingeschnittene Orangenstückchen in mein Müsli mixen. Die Orangen waren zwar im Obstfach, sahen aber allesamt merkwürdig aus, ganz so als habe einer mit dünnen Holzstäbchen versucht, aus ihnen einen Schneemann zu bauen, und sei dabei mehrmals abgerutscht. Nur, wer sollte in meinem Kühlschrank derartigen Schabernack treiben?

Notgedrungen presste ich die Früchte aus, damit sie nicht verdarben, und ich drehte die nächsten Orangen, die mir kaufte, mehrmals herum, ehe ich sie zu Hause deponierte. Am Morgen hatten wieder zwei Früchte die merkwürdigen Einstiche. Die anderen beiden waren unbehelligt geblieben. Beim nächsten Einkauf wechselte ich komplett die Sorte, nahm auch nur ein Exemplar, um nicht wieder so viel Saft auspressen zu müssen. Dafür hatte ich es dann aber auch gleich mitten auf dem Küchentisch liegenlassen.

Die Türklinke noch in der Hand, bekam ich morgens große Augen. Die Orange lag noch am selben Fleck, war aber völlig vertrocknet und hatte gerade noch die Größe eines Tischtennisballs. Ich riss die Kühlschranktür auf. Das übrige Obst, wie Äpfel, Birnen und Weintrauben, war unberührt.

So ging das nun Tag für Tag. Ich stellte sogar eine Webcam auf, um den Verursacher der Schäden auf frischer Tat zu erwischen. Auf den Videos war nie etwas Außergewöhnliches zu sehen, selbst dann nicht, wenn ich sie großformatig auf kleinste Spuren absuchte. Die Orangen verschrumpelten scheinbar ohne Grund innerhalb weniger Minuten.

Am Wochenende rief mich mein Freund an und fragte, wie es Pauli gehe.

„Blendend. Wie sonst? Der hängt in seinem Kästchen am schönsten Platz in meinem Büro.“ Ich schaltete auf Kamera und übertrug ihm das Bild live.

„Gut sieht er aus“, hörte ich meinen Freund mit tiefer Zufriedenheit sagen. Und gleich darauf fragte er: „Und wie geht es dir?“ Er hatte wohl beim Kameraschwenk meine tiefen Augenringe gesehen, weil ich die halbe Nacht in der Küche auf der Lauer gelegen hatte.

„Im Großen und Ganzen nicht übel“, erklärte ich. „Es gibt nur seit Tagen ein paar Dinge, die ich mir nicht erklären kann.“ Ich erzählte detailliert über die Merkwürdigkeiten mit den Orangen.

„Waren die geschrumpften Früchte Blutorangen?“, fragte mein Freund wie nebenbei.

„Ähhh, ja. Aber wie kommst du darauf?“

„Die mag er am liebsten“, schmunzelte er.

„Wer?!“, rief ich verunsichert, völlig vergessend, dass ich die Kamera noch nicht wieder abgeschaltet hatte und mein entgeistertes Konterfei für Lachsalven sorgte.

„Na, Pauli! Hatte ich dir nicht gesagt, dass er eine Fruchtfledermaus ist?“

Ich muss so dumm aus der Wäsche geschaut haben, dass ihm vor Lachen glatt das Smartphone aus der Hand fiel. Als er es umständlich wieder aufgeklaubt hatte, fügte er hinzu: „Er ist einer von Draculas Nachfahren. Er wirft weder ein Spiegelbild, noch kannst du ihn mit der Kamera einfangen.“

„Unsinn, ich habe dir doch gerade das Bild vom Schaukasten mitsamt Fledermaus ge-schickt!“

Das Lachen ebbte langsam ab und mein Freund bequemte sich, zu sagen: „Solange er brav in seinem Kästchen hockt, kannst du ihn ja auch sehen.“

„Oooooops!“

„Noch ein guter Rat unter Freunden: Behalte niemals blutiges Fleisch über Nacht in der Wohnung. Sonst könnte auch der zweite Teil der Prophezeiung in Erfüllung gehen.“

„Welcher zweite Teil?“, fragte ich mit tonloser Stimme.

„Dass das Blut seines Ahnherrn zum Vorschein kommt.“

„Fantastisch! Bist ein wirklich guter Freund“, brummte ich.

„Und du erwiesenermaßen verrückt genug. Sonst hätte dich Pauli schon in die Klapse gebracht. Ich denke, ihr werdet auch weiterhin gut miteinander klarkommen.“

Seitdem esse ich zu Hause vegetarisch und nehme von meinem Freund nicht mal mehr die Urlaubskarten mit in die Wohnung.

Und Pauli?

Der hängt auch weiterhin in seinem Schaukasten über meinem Schreibtisch.

Tagsüber.

Was er nachts treibt, außer Blutorangen aussaugen, will ich lieber gar nicht wissen.